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Auf einem stillen Leckt-mich-am-Arsch-Standpunkt hielt Jakob Formann Wache vor dem Stacheldrahtzaun neben der Einfahrt A des amerikanischen Fliegerhorsts Hörsching in der Nähe von Linz. Er lehnte da um 17 Uhr 30 am 3. November 1946 und hörte seit langem das Dröhnen der Motoren einer ›Flying Fortress‹, die beharrlich über dem Flughafen ihre Runden drehte.

Zuerst hatte Jakob noch den Kopf gehoben und die ›Flying Fortress‹ beobachtet, doch bald war ihm das zu strapaziös geworden. Mochten die Piloten der Maschine besoffen oder verrückt oder beides sein – ihn interessierte es nicht. Er hatte das Dritte Reich, den Krieg in Rußland und zahlreiche weitere lebensgefährliche Ereignisse überstanden und dabei herausbekommen, daß es nicht lohnt, in einer Welt wie dieser über irgend jemanden empört, begeistert, traurig, erfreut, erstaunt, verblüfft, will sagen: auch nur geringstens gefühlsmäßig engagiert zu sein. Es lohnt nicht, wegen irgend jemandem oder irgend etwas den Atem, geschweige denn den Kopf zu verlieren. Jakob Formann war seit Jahren – und, wie er sich ausgerechnet hatte, wohl noch auf Jahre hinaus – vollauf mit Überleben beschäftigt. Solcherlei Erkenntnis hatte ihm seinen stillen Leckt-mich-am-Arsch-Standpunkt beschert.

Die ›Flying Fortress‹ drehte nach wie vor ihre Runden. Sie donnerte über den entspannten ›Civilian Guard‹ Jakob Formann hinweg, der in die Lektüre des Annoncenteils des NEUEN ÖSTERREICH vom Vortag vertieft war.

Der Annoncenteil nahm den größten Raum der nur acht Seiten umfassenden Zeitung ein. Versunken las Jakob, was so gesucht und was geboten wurde …

Gesucht: politisch unbelasteter Mezzosopran; schwarze Breeches-Hosen und Schaftstiefel (ach ja, dachte Jakob) gg. Herrenfahrrad; linker Herrenhalbschuh (42) eines Oberschenkelamputierten gg. rechten; Filzhut gg. Bratpfanne; Kleinbildkamera gg. Kinderwagen; elektrischer Kocher gg. Dachziegel; Christus am Ölberg (Holzplastik) gg. Baumaterial; Kleiderschrank gg. 16 m Vorhangstoff; Rollschrank gg. Rasiermesser; 15 m Seil gg. Beil (nanu, dachte Jakob); gläubiger Landwirtssohn möchte auf diesem Wege prüfen, ob Gott der Herr einen mittleren landwirtschaftl. Betrieb in der US-Zone Österreichs, evtl. auf Rentenbasis, für ihn bereithält; 3500 Gasmasken gg ….

In dem Wachhäuschen beim Eingang A des US-Fliegerhorsts Hörsching begann das Telefon zu schrillen. Scheiße, dachte Jakob, wieder kein Mantel. Er ließ das Telefon einige Male schrillen in der innigen Hoffnung, es werde verstummen. Das weite Gelände des Airfield mit all den Baracken, dem Tower, den Maschinen und Hangars sowie dem oben elektrisch geladenen Stacheldrahtzaun wurde nachts von mächtigen Scheinwerfern angestrahlt. Noch war es nicht Nacht. Der Winter 1946/47 sollte viel ärger werden als der Katastrophenwinter 1945/46, aber er ließ sich mehr Zeit damit.

Die Stadt Linz befand sich in der amerikanischen Zone Österreichs, nahe der Demarkationslinie zur sowjetischen, und die Umgebung der Stadt Linz war damals ganz außerordentlich trostlos. Am absolut trostlosesten sah es rund um den Fliegerhorst Hörsching aus, was gar manchen Sieger der Neuen Welt ins Krankenhaus brachte. Nach einer vergilbten Statistik dieses Jahres waren es in Hörsching siebenundsechzig Sieger: dreiundsechzig wegen eines HWG-Trippers (depressive Stimmungslage, häufig wechselnder Geschlechtsverkehr) und vier wegen seelischer Defekte (depressive Neurosen). Die Stimmung unter den hier Diensttuenden und Kommandierenden war aggressiv-trostlos.

Das Telefon klingelte weiter.

Gemächlich schritt Jakob Formann nun die geteerte Straße entlang zu dem Wachhäuschen; sie wurde an beiden Seiten ebenfalls von oben elektrisch geladenem Stacheldrahtzaun gesäumt. Etwa zweihundert Meter entfernt stand ein wirtlicher aussehendes, größeres Häuschen. In ihm tat die Militärpolizei Dienst, und vor ihm befand sich ein Schlagbaum. Dahinter erst begann das eigentliche Gelände des Fliegerhorsts.

Jakob betrat den klosettgroßen Holzverschlag, der den österreichischen Bewachern des Airfield zugedacht war, nahm den Hörer des Feldtelefons ans Ohr und meldete sich in makellosem Englisch: »Entrance A, Civilian Guard Jakob Formann speaking!«

Alles Folgende wurde in englischer Sprache erledigt.

1945 – das Ende vom Ende

»Es geht alles vorüber./es geht alles vorbei,/im April geht der Führer/und im Mai die Partei!« Lied deutscher Landser seit 1944.

9. Mai 1945. 00.01 Uhr: Bedingungslose Kapitulation des »Großdeutschen Reiches«.

Bilanz des Zweiten Weltkrieges: 53.3 Millionen Tote in aller Welt, 20 Millionen Heimatlose, Vertriebene und Flüchtlinge in Europa.

Allein in Westdeutschland zerstört: 2.25 Millionen Wohnungen, 4752 Brücken, 4300 Kilometer Eisenbahnschienen.

Gesamtkosten: 3 000 000 000 000 Dollar.

Die Lebensmittelkarten der Stadtverwaltung von Berlin sahen für die Zeit vom 15. bis 31. Mai 1945 vor:

für Schwerarbeiter: Tagesration Brot 600 g, Fleisch 100 g, Fett 30 g, Kartoffeln 400 g, Nährmittel 80 g, Zucker 25 g; Monatsration Salz 400 g, Bohnenkaffee 100 g. Kaffee-Ersatz 100 g, echter Tee 20 g …

für die sonstige Bevölkerung: Tagesration Brot 300 g. Fleisch 20 g, Fett 7 g, Nährmittel 30 g, Kartoffeln 400 g. Zucker 15 g; Monatsration Salz 400 g. Bohnenkaffee 25 g, Kaffee-Ersatz 100 g. echter Tee 20 g.

»Verdiente Gelehrte. Ingenieure. Ärzte, Kultur- und Kunstschaffende sowie die leitenden Personen der Stadt- und Bezirksverwaltungen, großen Industrie- und Transportunternehmen erhalten … Lebensmittelrationen … für Schwerarbeiter.«

»Der Juli ist nun zu Ende, ohne daß wir« (in dem von den Sowjets besetzten Berlin) »ein Gramm Fett bekommen hätten, kein Fleisch, kein Gemüse, kein Obst, kein Salz, keinen Essig, keinen Ersatzkaffee, nur das Brot und einen Teil der Kartoffeln und 620 g Zucker, 600 g Mehl und 7 Suppenwürfel« (Margret Boveri in »Tage des Überlebens«).

»Therese Neumann« (47 Jahre alte, 55 kg wiegende Landwirtstochter im bayerisch-oberpfälzischen Konnersreuth, seit 1926 mit den Wundmalen Christi stigmatisiert und angeblich ohne jede Nahrungsaufnahme lebend) »ist zweifellos der einzige Mensch in Deutschland, der keine Lebensmittelkarte bezieht« (Pfarrer Josef Naber Konnersreuth).

26. Juni 1945: »Wir, die Völker der Vereinten Nationen, sind entschlossen, die kommende Generation vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zu unseren Lebzeiten zweimal unsagbares Elend über die Menschheit gebracht hat« (Charta der UN).

6. August 1945: Die erste amerikanische Atombombe vernichtet die japanische Hafenstadt Hiroshima.

Von dem Schweizer Arzt und Philosophen Max Picard erscheint das Buch »Hitler in uns selbst«.

Am 6. Oktober 1945 kommt in München die Nummer 1 der »Süddeutschen Zeitung« heraus. Die Druckplatten sind aus dem eingeschmolzenen Bleisatz für Adolf Hitlers »Mein Kampf« gegossen. Aus der Nr. 1 der »Neuen Zeitung« (18. Oktober 1945): Erich Engel hat soeben die Münchner Kammerspiele mit »Macbeth« eröffnet. – Dort spielt auch das Kabarett »Die Schaubude« (mit Texten von Erich Kästner). – Im Ballsaal der Münchner Residenz werden gezeigt: Goldonis »Kaffeehaus«. Lessings »Nathan« und Anouilhs »Antigone«.

20. November 1945 bis 1. Oktober 1946: Nürnberger Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher, 12 Todesurteile (vollstreckt am 16. Oktober 1946).

Eine bebende Männerstimme drang an Jakobs Ohr: »Hier ist Colonel Hobson!«

Auch noch dieser Kretin, dachte Jakob und erwiderte in lässigster Haltung, den militärischen Schneid lediglich in der Stimme: »Yessir?«

»Goddammit, endlich! Kommen Sie sofort zu mir in den Tower! Grauenhafte Sauerei hier! Brauche jemanden, der Deutsch und Englisch spricht!«

»Ich komme, Sir«, sagte Jakob, legte den Hörer behutsam nieder und machte sich ohne jede Hast auf den Weg. Seine hervorragenden Englischkenntnisse verdankte er dem Umstand, daß er viele Jahre in England zugebracht hatte; dort vertrat sein Vater eine Wiener Fabrik, die sich mit dem Bau von Holzverarbeitungsmaschinen beschäftigte.

Es dämmerte bereits ziemlich stark. Jakob trug eine blaugefärbte amerikanische Armeehose, ein ebenso behandeltes Armeehemd und ein Armeejackett. Dazu eine Armeekrawatte und einen grüngestrichenen Armeeplastikhelm mit den großen weißen Buchstaben C und G (für Civilian Guard, also Ziviler Wachdienst). Armeestiefel besaß er nicht. Die Fußbekleidung, die er trug, hatte er in einem winzigen tschechischen Ort, Mukulow, ganz nahe der österreichischen Grenze, gestohlen, und weil der Diebstahl schon längere Zeit zurücklag, befanden die Schuhe sich in einem erbärmlichen Zustand.

Die ›Flying Fortress‹ donnerte wieder über den Platz hinweg.

Jakob erreichte die komfortable MP-Baracke und öffnete die Eingangstür, um drei Herren zu sagen, daß etwas faul und er gerufen worden war. MPs und Civilian Guards arbeiteten hier rund um die Uhr, in einem Achtstundenturnus. Die gleichen MPs verlangten stets die gleichen Civilian Guards, und so hatte sich Jakob herzlich befreundet mit drei jungen Männern etwa seines Alters und exakt seines eingangs erwähnten Grundsatzstandpunktes. Es handelte sich um den Master-Sergeant George Misaras (Eltern aus Marghita, Rumänien, in die Vereinigten Staaten eingewandert), um den Gefreiten Mojshe Faynberg, einen bleichen, dicken Jungen mit rotem Haar, Sohn eines Flickschusters aus New Yorks Bronx, und um den Sergeanten Jesus Washington Meyer aus dem Staate Alabama und daselbst aus der Stadt Tuscaloosa. Diese drei jungen Männer hatten den D-Day, die Invasion am Abschnitt ›Omaha Beach‹ der Normandieküste, mitgemacht und sich durch halb Europa gekämpft – ebenso ungern, wie Jakob in den großen Hitlerkrieg gezogen war, um in Rußland zu überleben.

George Misaras saß hinter einem pompösen Schreibtisch (hinter dem vor zwei Jährchen noch ein Gauleiter gesessen hatte), die Schuhe auf der Tischplatte, als Jakob hereinkam. Er hatte sich durch Lektüre eines Comic-Strip-Heftchens fortgebildet. Jesus Washington Meyer und Mojshe Faynberg waren damit beschäftigt, ein neues Pin-up-Foto von Jane Russel an einer Wand zu befestigen, an der schon viele andere Pin-up-Fotos, etwa von Rita Hayworth, Lana Turner oder Betty Grable, prangten.

»Was is’ los, Jake?« fragte Misaras. »Kalt? Willst ’n Schluck heißen Kaffee?«

»Mann, hat die ein Paar Augen! Nein, danke, George«, sagte Jakob.

»Howard Hughes«, sagte Mojshe, Reißzwecken zwischen den Lippen.

»Howard wer?«

»Hughes! Aus rostfreiem Stahl! Komplizierte Konstruktion!«

»Was?«

»Der Beha von der Tante! Ins Kleid gearbeitet. Raffiniert, wie? Hat dieser Howard Hughes eigens für die Jane Russel erfunden. Der erfindet dauernd was. Is’ Multimillionär. Hätte es nicht nötig.«

»Der Colonel hat mich gerade angerufen. Ich soll rauf in den Tower kommen, übersetzen.«

»Was übersetzen?« fragte der riesenhafte Neger Jesus Washington Meyer.

»Keine Ahnung. Bloß: Es ist jetzt niemand beim Eingang.«

»Na und? Ist es dein Airfield?« Mojshe zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich hängt’s mit diesem Drecksbomber zusammen, der da über uns rumkurvt.«

»Kann schon sein. Nur: Warum kurvt er? Trouble, sage ich euch!«

»Diese Arschlöcher von Piloten machen mich noch wahnsinnig«, sagte Jesus. »Scheiß auf das ganze Air Corps!«

»Ja, das ist leicht gesagt«, murmelte Mojshe versonnen.

Hurra, wir leben noch
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