34

»Haut ab oder ich knall’ euch über’n Haufen, ihr dreckigen Krauts!« sprach der riesenlange MP beim Eingang zur McGraw-Hill-Kaserne an der Tegernseer Landstraße in München. Der Anblick war grotesk. Vor dem wohlgenährten, warmgekleideten, kaugummikauenden Helden der Neuen Welt standen frierend, rotgesichtig und blinzelnd zwei gar jämmerlich anzusehende Besiegte der Alten Welt im Schnee und hielten sich an Fahrrädern fest. Träumerisch griff der Ami nach seiner Pistole.

Schon wieder ein Texaner, dachte Jakob. Haben die ein Monopol für Schnauzerei? Na, wenn es denn gar nicht anders geht, und obwohl ich es hasse, da hilft nur eins: zurückschnauzen! Er tobte los in schönstem Amerikanisch: »Also bitte! Ich habe es mit Freundlichkeit versucht und Sie gebeten, uns bei Governor van Wagoner anzumelden, der unseren Besuch erwartet! Was haben Sie getan, Mann? Angebrüllt haben Sie uns, Mann! Schnauze, jetzt rede ich! Schon mal was von General Mark Clark in Vienna gehört? Und von General Clay in Berlin? Maul halten! Antwort!«

»Ye … ye … yes, Sir …«, stammelte der uniformierte Riese verblüfft. An allerhand war er gewöhnt. Daran, daß ihn ein deutscher Zivilist anbrüllte, noch nicht. Ein Verrückter, dachte er, ängstlich nach dem Knopf der Alarmsirene tastend, der sich hinter ihm an der Außenseite des Wachhäuschens neben einer weiß und rot gestreiften, geschlossenen Schranke befand.

»Versuchen Sie bloß nicht, Alarm auszulösen! Hände nach vorn! Na wird’s bald?« Der Texaner stand mit offenem Mund da und würgte nach Worten. Es kam nichts heraus. Jakob griff in die innere Jackentasche und förderte einen Haufen Papiere zutage. »Da! Und da! Und da! Vorwärts, Mann, lesen Sie! Oder lassen Sie es sich vorlesen!«

Die Papiere waren Empfehlungsschreiben der Herren Clay und Clark an den Militärgouverneur für Bayern, Murray D. van Wagoner. Der Texaner las sie mit bebenden Lippen.

»Bißchen schneller!« tobte Jakob. Das ist das Feine an meinem Krieg: Jetzt tobe ich mal mit den anderen, so wie die anderen sieben Jahre mit mir getobt haben. Jetzt sind sie alle für mich nur der letzte Dreck, so wie in den vergangenen sieben Jahren ich der letzte Dreck für sie gewesen bin. Das waren zwar andere, aber darauf kann ich keine Rücksicht nehmen. Jetzt habe ich endlich meine Freiheit! Freiheit – das ist der Zustand, wenn man nichts mehr zu verlieren hat! Jakob schrie: »Fertig?«

»Yes, Sir, Mister Formann …«

»Worauf warten Sie dann noch? Wollen Sie vielleicht gütigst ans Telefon treten und uns bei dem Herrn Gouverneur anmelden?«

»Certainly, Mister Formann … Aber der andere Gentleman … in den Papieren ist nur von Ihnen die Rede …«

»Das ist Mister Prill, mein Stellvertreter!« brüllte Jakob, daß seine Stimme kippte. Muß ich noch üben, die Brüllerei, dachte er.

»Entschuldigen Sie, Mister Formann … Konnte ich nicht wissen …«

»Make it snappy!« sagte der kleine Wenzel Prill, der in seinen Lumpen erbärmlich fror, scharf und schmallippig. Jakob sah ihn bewundernd an. Der hat den rechten Ton, dachte er ergriffen, als er sah, wie der Texaner sich einen Feldtelefonhörer aus dem Wachhäuschen angelte und nun seinerseits (wie so was ansteckt, dachte Jakob. Na ja, wir haben’s ja gerade mit einem ganzen Volk erlebt!) zu brüllen begann: »Mister Formann and Mister Prill asking to see Governor van Wagoner! … I don’t give a shit if he’s busy! These two gentlemen have papers from General Clark and General Clay, you fucked-up idiot!« Junge, Junge, das hat aber schnell gewirkt, dachte Jakob zufrieden, während er den Texaner weitertoben hörte. Zuletzt legte dieser den Hörer hin, brüllte nach einem zweiten MP, der erschrocken aus dem Wachhäuschen kam, und trug dem unschuldigen Wesen auf, die beiden Gentlemen zu Gouverneur van Wagoner zu geleiten. Die beiden Gentlemen schritten hoheitsvoll an dem Texaner vorbei. Der starrte sie an wie Fabelwesen. »Pardon me … Aber ich konnte wirklich nicht wissen … Es ist nur meine Pflicht …«

»Nur die Pflicht, natürlich, das haben wir auch immer gesagt, als wir Soldaten waren. Mach dir nichts draus, buddy, zum Glück bist du noch vernünftig geworden, und also werde ich davon absehen, beim Gouverneur Anzeige gegen dich zu erstatten«, sagte Jakob.

»Danke … danke, Sir …«

»Die Fahrräder können wir doch hier … oder wird bei euch geklaut?«

»Ich werde die Fahrräder persönlich bewachen, Mister Formann!« versprach der Texaner, der weiche Knie bekommen hatte. In diesen wirren Zeiten sollte man wissen, who is who in Germany. Da laufen ja die Ministerpräsidenten wie Müllkutscher herum!

Drei Minuten später saßen Jakob und Wenzel dann dem dicken und jovialen Gouverneur Murray D. van Wagoner in dessen Büro gegenüber. Von der Wand hinter dem Militärgouverneur lächelte General Dwight Eisenhower auf die beiden herab, als wolle er sie segnen. Van Wagoner war über Jakobs Person in der Tat bereits informiert. Es freute ihn, die Bekanntschaft eines so außergewöhnlichen Mannes zu machen, sagte er.

»Ganz meinerseits, Governor!«

»Womit kann ich Ihnen helfen, meine Herren? Ich habe den Auftrag, Ihnen zu helfen. Es wird mir ein Vergnügen sein.«

Jakob räusperte sich. »Wir sind unterwegs zum Himmler-Hof, Governor. Nach Waldtrudering.«

»Haben Sie einen Wagen?«

»Fahrräder.«

»Bei diesem Schnee? Ich gebe Ihnen einen Wagen mit Fahrer …«

»Das wäre zu umständlich, Governor. Herzlichen Dank. Wir haben nämlich sehr viel zu tun jetzt, Ihr Fahrer könnte ermüden«, sagte Jakob, während er dachte: Das letzte, was wir bei unseren Geschäften jetzt brauchen können, ist ein amerikanischer Aufpasser! »Der Himmler-Hof genügt natürlich nicht. Der reicht nur, soviel ich von Professor Donner weiß, vielleicht für zwanzigtausend Hühner …«

»Und Sie brauchen weitere Niederlassungen!«

»So ist es, Governor. Sicherlich hat Ihnen das Wien und Berlin auch schon mitgeteilt …«

»Hat es, Mister Formann. Wir haben hier eine ganze Reihe stillgelegter Betriebe, die als ehemaliges Nazieigentum von uns verwaltet werden. In der ganzen Bi-Zone. Wenn Sie sich die Liste ansehen wollen … bitte … Nach den modernen Methoden braucht man ja keine Höfe mehr für Hühnerzucht, es genügen Fabrikhallen, nicht wahr?«

»Exakt, Governor.« Jakob und Wenzel betrachteten die Liste. Es war eine lange Liste.

»Und entschuldigen Sie bitte den Zwischenfall mit dem Posten am Tor«, sagte van Wagoner.

»Schon vergessen, Governor«, sprach Wenzel, fast so fließend englisch wie Jakob. »Rein formaljuristisch gesehen war der Mann absolut im Recht!« Er starrte auf die vielen Namen der Liste. »Mensch, das ist ja die halbe deutsche Industrie!«

»Ich denke, wir wollen unser Unternehmen zunächst nicht breit streuen, sondern an zwei, drei Stellen ballen«, sagte Jakob. »Hier, dieses Panzerwerk bei Bayreuth und diese Flugzeughallen bei Frankfurt erscheinen mir ausreichend. Sie sind sehr groß. Ohne Zweifel wird noch ein Teil der ehemaligen Belegschaft aufzutreiben sein – und außerdem gibt’s ja jede Menge von Flüchtlingen. Für vermehrte Kalorienzuteilung arbeitet heute jedermann liebend gerne in Deutschland.«

»Sie sind ein kluger Kopf, Mister Formann. Vergrößern können Sie sich noch immer.«

»Eben, nicht wahr?« Jakob nickte. »Bayreuth ist vom Flughafen Nürnberg aus leicht mit angebrüteten Eiern und Brutmaschinen zu beliefern, und bei Frankfurt liegt Ihr Rhein-Main-Flughafen. Besser kann man’s nicht haben.«

»Okie-dokie, Mister Formann. Dann werden wir – dieser Papierkrieg! – jetzt gleich entsprechende Verträge zwischen der Army und Ihnen – verzeihen Sie: zwischen Ihnen und der Army …«

»Aber ich bitte Sie, Governor!«

»… aufsetzen. Sie inspizieren die Gelände und teilen mir mit, wann Sie so weit sind, daß die Eier kommen können. Zusätzliche Lebensmittelkarten werden meine Ortskommandanten Ihnen auf Schreiben von mir bei den deutschen Dienststellen in Waldtrudering, Bayreuth und Frankfurt anfordern. Wenn sich irgendwelche Schwierigkeiten einstellen sollten, lassen Sie es mich sofort wissen.«

»Mit Vergnügen, Sir. Zwei Bitten. Erstens: Ich möchte, daß Mister Prill als mein Vertreter mit den gleichen Vollmachten ausgestattet wird wie ich. Ich werde vielleicht nicht immer anwesend sein, ich habe mich jetzt um so vieles zu kümmern, Sie verstehen?«

»Ich verstehe.«

Gott sei Dank verstehst du nicht, dachte Jakob und fuhr fort: »Zweitens: Könnten wir wohl in Ihrem PX einen Wintermantel für Mister Prill und Winterschuhe, Schals und Handschuhe für uns beide bekommen?«

»Werde ich sofort veranlassen. Donnerwetter, Mister Formann, Sie gehen aber ran!«

»Ich habe keine Minute zu verlieren, Sir«, sagte Jakob.

Hurra, wir leben noch
cover.html
haupttitel.html
navigation.html
chapter1.html
chapter2.html
chapter3.html
chapter4.html
chapter5.html
chapter6.html
chapter7.html
chapter8.html
chapter9.html
chapter10.html
chapter11.html
chapter12.html
chapter13.html
chapter14.html
chapter15.html
chapter16.html
chapter17.html
chapter18.html
chapter19.html
chapter20.html
chapter21.html
chapter22.html
chapter23.html
chapter24.html
chapter25.html
chapter26.html
chapter27.html
chapter28.html
chapter29.html
chapter30.html
chapter31.html
chapter32.html
chapter33.html
chapter34.html
chapter35.html
chapter36.html
chapter37.html
chapter38.html
chapter39.html
chapter40.html
chapter41.html
chapter42.html
chapter43.html
chapter44.html
chapter45.html
chapter46.html
chapter47.html
chapter48.html
chapter49.html
chapter50.html
chapter51.html
chapter52.html
chapter53.html
chapter54.html
chapter55.html
chapter56.html
chapter57.html
chapter58.html
chapter59.html
chapter60.html
chapter61.html
chapter62.html
chapter63.html
chapter64.html
chapter65.html
chapter66.html
chapter67.html
chapter68.html
chapter69.html
chapter70.html
chapter71.html
chapter72.html
chapter73.html
chapter74.html
chapter75.html
chapter76.html
chapter77.html
chapter78.html
chapter79.html
chapter80.html
chapter81.html
chapter82.html
chapter83.html
chapter84.html
chapter85.html
chapter86.html
chapter87.html
chapter88.html
chapter89.html
chapter90.html
chapter91.html
chapter92.html
chapter93.html
chapter94.html
chapter95.html
chapter96.html
chapter97.html
chapter98.html
chapter99.html
chapter100.html
chapter101.html
chapter102.html
chapter103.html
chapter104.html
chapter105.html
chapter106.html
chapter107.html
chapter108.html
chapter109.html
chapter110.html
chapter111.html
chapter112.html
chapter113.html
chapter114.html
chapter115.html
chapter116.html
chapter117.html
chapter118.html
chapter119.html
chapter120.html
chapter121.html
chapter122.html
chapter123.html
chapter124.html
chapter125.html
chapter126.html
chapter127.html
chapter128.html
chapter129.html
chapter130.html
chapter131.html
chapter132.html
chapter133.html
chapter134.html
chapter135.html
chapter136.html
chapter137.html
chapter138.html
chapter139.html
chapter140.html
chapter141.html
chapter142.html
chapter143.html
chapter144.html
chapter145.html
chapter146.html
chapter147.html
chapter148.html
chapter149.html
chapter150.html
chapter151.html
chapter152.html
chapter153.html
chapter154.html
chapter155.html
chapter156.html
chapter157.html
chapter158.html
chapter159.html
chapter160.html
chapter161.html
chapter162.html
chapter163.html
chapter164.html
chapter165.html
chapter166.html
chapter167.html
chapter168.html
chapter169.html
chapter170.html
chapter171.html
chapter172.html
chapter173.html
chapter174.html
chapter175.html
chapter176.html
chapter177.html
chapter178.html
chapter179.html
chapter180.html
chapter181.html
chapter182.html
chapter183.html
chapter184.html
chapter185.html
chapter186.html
chapter187.html
chapter188.html
chapter189.html
chapter190.html
chapter191.html
chapter192.html
chapter193.html
chapter194.html
chapter195.html
chapter196.html
chapter197.html
chapter198.html
chapter199.html
chapter200.html
chapter201.html
chapter202.html
chapter203.html
chapter204.html
chapter205.html
chapter206.html
chapter207.html
chapter208.html
chapter209.html
chapter210.html
chapter211.html
chapter212.html
chapter213.html
chapter214.html
chapter215.html
chapter216.html
chapter217.html
chapter218.html
chapter219.html
chapter220.html
chapter221.html
chapter222.html
chapter223.html
chapter224.html
chapter225.html
chapter226.html
chapter227.html
chapter228.html
chapter229.html
chapter230.html
chapter231.html
chapter232.html
chapter233.html
chapter234.html
chapter235.html
info_autor.html
info_buch.html
impressum.html
hinweise.html