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»Haut ab oder ich knall’ euch über’n Haufen, ihr dreckigen Krauts!« sprach der riesenlange MP beim Eingang zur McGraw-Hill-Kaserne an der Tegernseer Landstraße in München. Der Anblick war grotesk. Vor dem wohlgenährten, warmgekleideten, kaugummikauenden Helden der Neuen Welt standen frierend, rotgesichtig und blinzelnd zwei gar jämmerlich anzusehende Besiegte der Alten Welt im Schnee und hielten sich an Fahrrädern fest. Träumerisch griff der Ami nach seiner Pistole.
Schon wieder ein Texaner, dachte Jakob. Haben die ein Monopol für Schnauzerei? Na, wenn es denn gar nicht anders geht, und obwohl ich es hasse, da hilft nur eins: zurückschnauzen! Er tobte los in schönstem Amerikanisch: »Also bitte! Ich habe es mit Freundlichkeit versucht und Sie gebeten, uns bei Governor van Wagoner anzumelden, der unseren Besuch erwartet! Was haben Sie getan, Mann? Angebrüllt haben Sie uns, Mann! Schnauze, jetzt rede ich! Schon mal was von General Mark Clark in Vienna gehört? Und von General Clay in Berlin? Maul halten! Antwort!«
»Ye … ye … yes, Sir …«, stammelte der uniformierte Riese verblüfft. An allerhand war er gewöhnt. Daran, daß ihn ein deutscher Zivilist anbrüllte, noch nicht. Ein Verrückter, dachte er, ängstlich nach dem Knopf der Alarmsirene tastend, der sich hinter ihm an der Außenseite des Wachhäuschens neben einer weiß und rot gestreiften, geschlossenen Schranke befand.
»Versuchen Sie bloß nicht, Alarm auszulösen! Hände nach vorn! Na wird’s bald?« Der Texaner stand mit offenem Mund da und würgte nach Worten. Es kam nichts heraus. Jakob griff in die innere Jackentasche und förderte einen Haufen Papiere zutage. »Da! Und da! Und da! Vorwärts, Mann, lesen Sie! Oder lassen Sie es sich vorlesen!«
Die Papiere waren Empfehlungsschreiben der Herren Clay und Clark an den Militärgouverneur für Bayern, Murray D. van Wagoner. Der Texaner las sie mit bebenden Lippen.
»Bißchen schneller!« tobte Jakob. Das ist das Feine an meinem Krieg: Jetzt tobe ich mal mit den anderen, so wie die anderen sieben Jahre mit mir getobt haben. Jetzt sind sie alle für mich nur der letzte Dreck, so wie in den vergangenen sieben Jahren ich der letzte Dreck für sie gewesen bin. Das waren zwar andere, aber darauf kann ich keine Rücksicht nehmen. Jetzt habe ich endlich meine Freiheit! Freiheit – das ist der Zustand, wenn man nichts mehr zu verlieren hat! Jakob schrie: »Fertig?«
»Yes, Sir, Mister Formann …«
»Worauf warten Sie dann noch? Wollen Sie vielleicht gütigst ans Telefon treten und uns bei dem Herrn Gouverneur anmelden?«
»Certainly, Mister Formann … Aber der andere Gentleman … in den Papieren ist nur von Ihnen die Rede …«
»Das ist Mister Prill, mein Stellvertreter!« brüllte Jakob, daß seine Stimme kippte. Muß ich noch üben, die Brüllerei, dachte er.
»Entschuldigen Sie, Mister Formann … Konnte ich nicht wissen …«
»Make it snappy!« sagte der kleine Wenzel Prill, der in seinen Lumpen erbärmlich fror, scharf und schmallippig. Jakob sah ihn bewundernd an. Der hat den rechten Ton, dachte er ergriffen, als er sah, wie der Texaner sich einen Feldtelefonhörer aus dem Wachhäuschen angelte und nun seinerseits (wie so was ansteckt, dachte Jakob. Na ja, wir haben’s ja gerade mit einem ganzen Volk erlebt!) zu brüllen begann: »Mister Formann and Mister Prill asking to see Governor van Wagoner! … I don’t give a shit if he’s busy! These two gentlemen have papers from General Clark and General Clay, you fucked-up idiot!« Junge, Junge, das hat aber schnell gewirkt, dachte Jakob zufrieden, während er den Texaner weitertoben hörte. Zuletzt legte dieser den Hörer hin, brüllte nach einem zweiten MP, der erschrocken aus dem Wachhäuschen kam, und trug dem unschuldigen Wesen auf, die beiden Gentlemen zu Gouverneur van Wagoner zu geleiten. Die beiden Gentlemen schritten hoheitsvoll an dem Texaner vorbei. Der starrte sie an wie Fabelwesen. »Pardon me … Aber ich konnte wirklich nicht wissen … Es ist nur meine Pflicht …«
»Nur die Pflicht, natürlich, das haben wir auch immer gesagt, als wir Soldaten waren. Mach dir nichts draus, buddy, zum Glück bist du noch vernünftig geworden, und also werde ich davon absehen, beim Gouverneur Anzeige gegen dich zu erstatten«, sagte Jakob.
»Danke … danke, Sir …«
»Die Fahrräder können wir doch hier … oder wird bei euch geklaut?«
»Ich werde die Fahrräder persönlich bewachen, Mister Formann!« versprach der Texaner, der weiche Knie bekommen hatte. In diesen wirren Zeiten sollte man wissen, who is who in Germany. Da laufen ja die Ministerpräsidenten wie Müllkutscher herum!
Drei Minuten später saßen Jakob und Wenzel dann dem dicken und jovialen Gouverneur Murray D. van Wagoner in dessen Büro gegenüber. Von der Wand hinter dem Militärgouverneur lächelte General Dwight Eisenhower auf die beiden herab, als wolle er sie segnen. Van Wagoner war über Jakobs Person in der Tat bereits informiert. Es freute ihn, die Bekanntschaft eines so außergewöhnlichen Mannes zu machen, sagte er.
»Ganz meinerseits, Governor!«
»Womit kann ich Ihnen helfen, meine Herren? Ich habe den Auftrag, Ihnen zu helfen. Es wird mir ein Vergnügen sein.«
Jakob räusperte sich. »Wir sind unterwegs zum Himmler-Hof, Governor. Nach Waldtrudering.«
»Haben Sie einen Wagen?«
»Fahrräder.«
»Bei diesem Schnee? Ich gebe Ihnen einen Wagen mit Fahrer …«
»Das wäre zu umständlich, Governor. Herzlichen Dank. Wir haben nämlich sehr viel zu tun jetzt, Ihr Fahrer könnte ermüden«, sagte Jakob, während er dachte: Das letzte, was wir bei unseren Geschäften jetzt brauchen können, ist ein amerikanischer Aufpasser! »Der Himmler-Hof genügt natürlich nicht. Der reicht nur, soviel ich von Professor Donner weiß, vielleicht für zwanzigtausend Hühner …«
»Und Sie brauchen weitere Niederlassungen!«
»So ist es, Governor. Sicherlich hat Ihnen das Wien und Berlin auch schon mitgeteilt …«
»Hat es, Mister Formann. Wir haben hier eine ganze Reihe stillgelegter Betriebe, die als ehemaliges Nazieigentum von uns verwaltet werden. In der ganzen Bi-Zone. Wenn Sie sich die Liste ansehen wollen … bitte … Nach den modernen Methoden braucht man ja keine Höfe mehr für Hühnerzucht, es genügen Fabrikhallen, nicht wahr?«
»Exakt, Governor.« Jakob und Wenzel betrachteten die Liste. Es war eine lange Liste.
»Und entschuldigen Sie bitte den Zwischenfall mit dem Posten am Tor«, sagte van Wagoner.
»Schon vergessen, Governor«, sprach Wenzel, fast so fließend englisch wie Jakob. »Rein formaljuristisch gesehen war der Mann absolut im Recht!« Er starrte auf die vielen Namen der Liste. »Mensch, das ist ja die halbe deutsche Industrie!«
»Ich denke, wir wollen unser Unternehmen zunächst nicht breit streuen, sondern an zwei, drei Stellen ballen«, sagte Jakob. »Hier, dieses Panzerwerk bei Bayreuth und diese Flugzeughallen bei Frankfurt erscheinen mir ausreichend. Sie sind sehr groß. Ohne Zweifel wird noch ein Teil der ehemaligen Belegschaft aufzutreiben sein – und außerdem gibt’s ja jede Menge von Flüchtlingen. Für vermehrte Kalorienzuteilung arbeitet heute jedermann liebend gerne in Deutschland.«
»Sie sind ein kluger Kopf, Mister Formann. Vergrößern können Sie sich noch immer.«
»Eben, nicht wahr?« Jakob nickte. »Bayreuth ist vom Flughafen Nürnberg aus leicht mit angebrüteten Eiern und Brutmaschinen zu beliefern, und bei Frankfurt liegt Ihr Rhein-Main-Flughafen. Besser kann man’s nicht haben.«
»Okie-dokie, Mister Formann. Dann werden wir – dieser Papierkrieg! – jetzt gleich entsprechende Verträge zwischen der Army und Ihnen – verzeihen Sie: zwischen Ihnen und der Army …«
»Aber ich bitte Sie, Governor!«
»… aufsetzen. Sie inspizieren die Gelände und teilen mir mit, wann Sie so weit sind, daß die Eier kommen können. Zusätzliche Lebensmittelkarten werden meine Ortskommandanten Ihnen auf Schreiben von mir bei den deutschen Dienststellen in Waldtrudering, Bayreuth und Frankfurt anfordern. Wenn sich irgendwelche Schwierigkeiten einstellen sollten, lassen Sie es mich sofort wissen.«
»Mit Vergnügen, Sir. Zwei Bitten. Erstens: Ich möchte, daß Mister Prill als mein Vertreter mit den gleichen Vollmachten ausgestattet wird wie ich. Ich werde vielleicht nicht immer anwesend sein, ich habe mich jetzt um so vieles zu kümmern, Sie verstehen?«
»Ich verstehe.«
Gott sei Dank verstehst du nicht, dachte Jakob und fuhr fort: »Zweitens: Könnten wir wohl in Ihrem PX einen Wintermantel für Mister Prill und Winterschuhe, Schals und Handschuhe für uns beide bekommen?«
»Werde ich sofort veranlassen. Donnerwetter, Mister Formann, Sie gehen aber ran!«
»Ich habe keine Minute zu verlieren, Sir«, sagte Jakob.