13
Zehn Minuten später hatten sich beide so weit beruhigt, daß sie normal miteinander reden konnten. Die meiste Zeit redete Julia. Sachlich. Betont neutral. Professor Donner hatte unentwegt experimentiert, erfuhr Jakob. Julia hatte zuletzt alle Hoffnung verloren und einen Rat des Professors befolgt. Sie gehe ja zugrunde, wenn sie in Theresienkron bliebe und immer weiter ihrem Jakob nachtrauere – diesem Jakob, von dem sie in den Zeitungen las und im Radio hörte. Sie müsse fort, hatte Donner gesagt. Weit fort! Unter andere Menschen! Jakob vergessen! Seine Eier vergessen! Aber wie? Aber wohin?
Ins Rheinland! Dorthin müsse Julia jetzt gehen, hatte Professor Donner geraten. Dort sei was los jetzt! Und Donner habe gedonnert: Die großen und kleinen Industriellen und die großen und die kleinen Kaufleute hätten wieder Boden unter den Füßen gefunden. Während die Engländer und die Franzosen auf der einen Seite noch lustig demontierten, pumpten die Amerikaner auf der anderen Seite heftigst Milliarden in die westdeutsche Industrie und sorgten sich um deren Wiederaufbau. Kein Wunder: Denn westdeutsche Politiker hätten den Amerikanern versprochen, dieses neue Deutschland werde ihr bester Verbündeter gegen den Kommunismus und gegen die Russen sein, falls es wieder losgehen sollte. Die Herren Industriellen fanden sehr schnell, daß Düsseldorf ein prächtiger Platz für repräsentative Büros und angenehme Vergnügungen war. Ihre Frauen fanden das auch. Solches war das Resultat westdeutscher Steuergesetze. Wenn man Geld hatte, konnte man nach Düsseldorf fahren und dort Spesen machen – und das hieß: unversteuertes Einkommen in einer für das Finanzamt nicht nachzukontrollierenden Weise ausgeben.
»Früher war die Konfektion zu neunzig Prozent in Berlin«, berichtete der Hase, ernst und gefaßt. »Mit Berlin ist es vorbei. Also sind sehr, sehr viele Unternehmen der Bekleidungsbranche nach Düsseldorf abgewandert. Große Firmen haben sich zur IGEDO zusammengeschlossen …«
»Zur was?« (Und ich krieg’ sie doch herum, das wäre ja lächerlich.) »Abkürzung von: Interessengemeinschaft des Damen-Oberbekleidungs-Gewerbes. Der Erfolg der ersten Verkaufsausstellung war großartig …«
»Weiß ich, weiß ich«, sagte Jakob. (Und dachte: Ich weiß auch schon, wie ich den Hasen bändige. Der Widerling ist doch bestimmt zwei Stunden im Atelier festgehalten.)
»Professor Donner hat mir Kredite verschafft, der gute alte Mann. Ich zahle noch immer ab. Eigenes Geld hatte ich ja auch … na, und so bin ich also hergezogen vor einem halben Jahr und habe den Laden da unten aufgemacht. Er geht phantastisch«, berichtete Julia.
»Das freut mich. Das freut mich wirklich, Hase.« (Diese Beine. Und diese Brüste. Das leichte Kleid läßt den ganzen Körper ahnen. Ich kenne ihn ja schon … Und ob ich ihn kenne! Es war doch schlau von mir, daß ich das Geschenk mitgebracht habe. Wenn der Hase erst einmal das Geschenk … da hat er noch niemals Widerstand leisten können!)
»Jetzt, nach Donners Tod, leitet die gute Frau Pröschl den Theresienkroner Betrieb mit einem Nachfolger für den Professor, den er noch selbst bestimmt hat. Ach, das habe ich ja ganz vergessen. Es ist doch gut, daß du gekommen bist.«
»Nicht wahr?« (Noch ein kleines Weilchen, dann fange ich an.)
»Ich rede rein geschäftlich, Jakob! Wir müssen jetzt die Statuten ändern! Alle Filialen und Werke außerhalb Theresienkrons, die dem Professor und dir gehört haben, gehören nun dir allein!«
»Und du?«
»Ich will nichts davon haben! Ich habe genug! Im Gegenteil – ich muß dir noch etwas geben!«
»Was?«
»Die Forschungsergebnisse des Professors! Er hat sensationelle Entdeckungen gemacht! Unsere Hennen legen jetzt die besten Eier der Welt!« Julia sprang auf und lief zu einem zierlichen Schreibtisch. »Ich habe die ganzen Unterlagen hier drin, ich gebe sie dir gleich mit! Es ist ein Haufen Papiere! Die Erfindungen habe ich schon zum Patent angemeldet – in deinem und in Donners Namen. Nutzungslizenz für Theresienkron ist auch erledigt. Da ist zum Beispiel die Sache mit dem ›Gacker-Blocker‹ …« Julia öffnete und schloß Schubladen, sie suchte.
»Hase, ich flehe dich an! Nach so langer Zeit sehe ich dich wieder … Ich liebe dich … Ich werde immer nur dich lieben! Ich nehme dich mit mir! Auf der Stelle! Hinaus in die Welt! Wir bleiben zusammen! Das haben wir doch immer gewollt!«
»›Gacker-Blocker‹ hat Professor Donner seine Entdeckung genannt«, sprach der Hase kühl und belehrend, als hätte Jakob nicht soeben seine Herzensnot herausgeschrien. »Dem ist er nach langer Zeit dahintergekommen. Dem Gegacker der Hennen, meine ich …«
»Herrgott, ich sch … ich pfeife auf alle Hennen, wenn du mich nur wieder lieb hast! Wenn du mich heiratest!«
»Ich werde dich nie heiraten, mein lieber Jakob. Ich werde Erich heiraten!«
»Diesen miesen Vogel? Das verbiete ich dir!«
»Du hast mir gar nichts zu verbieten, Jakob«, sprach der Hase, in Papieren wühlend. »Das Gackern der Hennen, hat der Professor herausgefunden, hemmt ihren Legeeifer.«
»Ich liebe dich doch, Hase! Bitte, verzeih mir!«
»Darauf ist der Professor nach langen Versuchen gekommen! Daß das Gackern der Hennen ihren Legeeifer hemmt, meine ich. Schau, natürlich ist Erich noch kein Star. Natürlich hat er noch sehr wenig Geld. Natürlich lebt er von mir. Na und? Wen geht das etwas an? Ich kann mit meinem Geld machen, was ich will!« Julia sammelte weiter Papiere aus den Schubladen. »Der Professor hat Reihenversuche angestellt, jahrelang. So kompliziert, daß er es mir niemals erklären konnte.«
»Ich liebe dich, Hase, verflucht noch mal, hörst du nicht?«
»Mit Hormonen. Erich ist hochbegabt. Er macht seine Karriere! Und dieser Direktor Mühsam hat Erich so gern! Auch Edda …«
»Hase!«
»…das ist die Tochter von Direktor Mühsam, die Edda. Dreizehn. Erich hilft ihr bei den Schulaufgaben. Also wirklich, die ganze Familie ist geradezu verrückt nach Erich! Der hat einen prima Start! Bestimmt gibt ihm Direktor Mühsam jede Chance. Bald wird er eine Hauptrolle bekommen.«
»Das ist ja zum Wahnsinnigwerden! Ich kann dir die Welt zu Füßen legen! Ich kaufe dir, was du willst! Was willst du? Sag es! Sag es, und du hast es!«
»Mit halbsynthetischen Hormonen, weißt du. Ich habe es nie verstanden, aber es steht alles präzise in den Patentschriften. Erich ist so gut. Er wird viel Geld verdienen. Und dann heiraten wir!« Immer noch wühlte Julia in einer Schublade.
Jakob erhob sich. Geräuschlos packte er sein Geschenk aus. Man wird ja sehen, dachte er.
»Tut mir leid, wenn ich dir wehtun muß, Jakob. Und mit den halbsynthetischen Hormonen hat Professor Donner alle unsere Hennen behandelt!«
»Dieser widerliche Kerl ist doch der Dreck vom letzten Dreck. Der stürzt dich doch noch ins Unglück! Das ist ein ganz gewöhnlicher …« Nein, das hätte ich nicht sagen sollen. Gerade noch konnte ich das Geschenk hinter meinem Rücken verstecken, bevor Julia herumfuhr. Ist die aufgeregt! Wieviel Platz liegt zwischen Liebe und Haß? Ein Millimeter? Zwei Millimeter? überlegte Jakob, während Julia schrie: »Ich liebe Erich! Ich liebe ihn, und wenn du platzt! Er ist ein prachtvoller Mensch, der mich verwöhnen und auf Händen tragen wird, sobald er kann! Ein Haus werden wir haben, nicht protzig, gemütlich, und drei Kinder.«
»Kinder …«
»Ja, drei! Soviel will ich! Und stell dir vor, alle behandelten Hennen sind verstummt und haben nie mehr gegackert!«
»Hase! Schau dir das an! Was ist das? Das ist die alte Hasenpfote, die mir Jesus geschenkt hat, damals in Linz, als ich abfuhr! Die Hasenpfote hat mir immer nur Glück gebracht, wirklich! Und warum? Doch nur darum, weil sie von einem Hasen ist, Hase!«
»Und sie haben ihr Plan-Soll weit überzogen! Jeweils dreitausend Hennen um hundertzwanzigtausend Eier! Stell dir das vor! Und es waren nicht nur viel mehr Eier, es waren auch noch viel bessere Eier! Die besten! Die Schalenqualität! Der Dotter! Die Spurenelemente! Und Erich ist der beste Mann von der Welt, damit du es weißt!«
An der Wand entlangschleichend hatte Jakob ein modernes Möbelstück fast erreicht. Indessen der Hase immer noch mehr Papiere zusammenraffte, sagte er: »Der beste Mann von der Welt! Daß ich nicht ohnmächtig werde vor Lachen! Wenn diese Tochter von seinem Direktor fünfzehn ist, wirst du was erleben! Von wegen bei Schulaufgaben helfen! Der hat sich das fein zurechtgelegt! Und glaube ja nicht, daß du die einzige bist! Der feine Herr Fromm betrügt dich nach Strich und Faden!«
»Was hast du gesagt? Nach Strich und Faden?«
»Jawohl!«
Sie stürzte sich auf ihn. Die Papiere flatterten auf den Boden.
»Du …! Du … was ist das?«
Musik erklang.
Jakob hatte sein Geschenk blitzschnell auf den Teller des Plattenspielers gelegt und diesen eingeschaltet.
Lena Hornes Stimme erklang: »Don’t know why, there’s no sun in the sky …«
Der Hase starrte Jakob mit offenem Mund an. Der Hase begann zu zittern und zu beben.
Na, habe ich es nicht gewußt? dachte Jakob.
»Unser … unser Lied …«
»Mhm.« Das wäre doch gelacht, wenn ich sie nicht wiederkriegte, meine Julia.
»… since my man and I ain’t together …«
So, und jetzt nichts wie los, dachte Jakob, packte den schwankenden Hasen, preßte ihn an sich und küßte ihn leidenschaftlich.
»… it keeps raining all the ti-ime …«
Plötzlich öffneten sich Julias zusammengepreßte Lippen, sie stöhnte, und ihre Hände fuhren wild durch Jakobs Haar.
»›Stormy weather‹«, flüsterte der Hase.
»Unser ›Stormy weather‹!«
»Ach, Bär, mein Gott, wie glücklich hätten wir sein können …«
»Werden wir gleich sein«, sagte Jakob Formann.