46

Von Paris bis Brüssel sind es zweihundertachtundneunzig Kilometer.

Dazwischen liegt die Grenze. Polizei- und Zollbeamte kontrollierten Jakobs amerikanischen Paß auf den Namen Jerome Howard Fletcher und fanden nichts zu bemängeln. Mein lieber Freund Josef Mader, der Münchner Fälscher, ist wirklich Weltklasse, dachte Jakob frohen Mutes. Ich darf nicht vergessen, ihm ein paar Dosen Schmalz mit genug Zwiebeln und feinen Grieben mitzubringen.

Auch in den vielen Gepäckstücken fand sich nichts, was die Zöllner zu beanstanden gehabt hätten. Sie wünschten Mr. Fletcher eine angenehme Reise. Mr. Fletcher dankte. Die erste Station auf belgischem Gebiet hieß Frameries.

In Frameries stieg Jakob aus. Zwei Träger transportierten seinen Schweinslederkofferberg durch das Bahnhofsgebäude auf den Platz davor.

Unter einem verschneiten Baum am Ende des Platzes stand ein Bentley mit französischer CD-Nummer. Die Scheinwerfer flammten auf, der Wagen kam angesummt und hielt. Der abnorm häßliche Handelsattaché Amadeo Juarez mit dem abnormen Frauenverschleiß stieg aus. Die Gepäckträger verstauten Jakobs Koffer. Zum Glück war es ein großer Bentley. Jakob entlohnte die Träger. Die Träger verbeugten sich geradezu ehrfürchtig. Wieder zuviel Trinkgeld, dachte Jakob verärgert. Aber schon war die Rechtfertigung da: Warum sollen die armen Hunde, die sich für mich abmühen, nicht auch eine Freude haben? (Solch Alibi brachte es mit sich, daß Jakob niemals davon zu heilen war, viel zu hohe Trinkgelder zu verteilen.) Der Attaché und Jakob kletterten in den Wagen.

»Wo sind die Scheckhefte und die Papiere von Rubi?« fragte Jakob.

»Hier.« Der Handelsattaché war maulfaul. Er reichte Jakob einen Diplomatenkoffer. »Hat mir Ihre Frau gegeben.«

Das ist der Diplomatenkoffer, den mir der Hase in Linz im PX gekauft und zu Weihnachten geschenkt hat, dachte Jakob sentimental. Der Hase … wie gemein benehme ich mich gegen ihn. Und ganz gewiß werde ich niemals im Leben und in der ganzen Welt eine bessere Frau finden als Julia, mein Gott. (Genau diesem Gedanken hat er in Abständen das ganze nächste Vierteljahrhundert hindurch nachgehangen.)

»Jetzt geben Sie mir den anderen Paß.« Daraufhin gab der mürrische Juarez ihm den Paß, den der Milliardär Cortez in Paris verloren und den nun Juarez mit über die Grenze gebracht hatte. Juarez besaß diplomatische Immunität. Er und sein Wagen wurden niemals untersucht. (Schlauer Franzl!)

Jakob nahm den erstklassig gefälschten amerikanischen Paß auf den Namen Jerome Howard Fletcher aus der Jackentasche und reichte ihn Juarez, der ihn aufbewahren sollte. Den echten argentinischen Paß steckte er ein.

»Was ist los mit Ihnen, Juarez? Warum sind Sie so mürrisch?«

»Ich bin nicht mürrisch, ich bin müde.«

»Sie sollten doch nachmittags schlafen!«

»Habe ich auch.«

»Aber nicht allein«, sagte Jakob ergrimmt.

»Sie kennen Yvonne nicht. Das ist die süßeste …«

Mit diesem Typ muß man gleich Fraktur reden, dachte Jakob und schnauzte den Mann, der an übermäßiger Hormonausschüttung litt, an: »In der nächsten Zeit werden Sie sich zusammenreißen, verstanden? Es wird Ihnen ja Gott behüte wohl möglich sein, für einen Riesenverdienst zehn Tage lang nicht herumzuhocken!«

»Ich will’s versuchen«, sagte Juarez kläglich, »aber versprechen kann ich es nicht. Es ist einfach zu stark – stärker als ich, Señor Cortez.«

Zwei Stunden später erreichten die beiden einen Taxistand an der Peripherie von Brüssel. Gemeinsam holten sie Jakobs Schweinslederkofferpracht aus dem Wagen. Dann wählten sie ein Taxi, in dem all die Koffer auch Platz hatten.

»Ich rufe Sie an«, sagte Juarez.

»Aber nur …«

»…aus einer Telefonzelle«, knurrte Juarez gereizt. »Ich bin kein Idiot.«

»Geb’s Gott!« Jakob sah dem Bentley nach, der davonschoß. Wetten könnte ich, daß der Kerl schon wieder zu irgendeiner Puppe saust, die er in Brüssel kennt, dachte er traurig. Es ist zum Verzweifeln mit dem Burschen! Das ist ja ein … ein … na ja, eben ein!

Jakob nannte dem Chauffeur den Namen des Hotels, zu dem er wollte. »PLAZA, sehr wohl, Monsieur. Sind Sie Amerikaner?« Der Taxifahrer drehte sich um. Das hätte er nicht tun sollen. Er stieß um ein Haar mit einem anderen Taxi zusammen, das gerade vorüberfuhr. Halt. Große Beschimpfung, von der Jakob nichts verstand. Zwei Worte blieben haften: ›Flame‹ und ›Wallone‹. Endlich hatten die beiden Herren sich ausgetobt. Sein Fahrer kletterte hinter das Steuerrad, wüst vor sich hinfluchend. Nur soviel verstand Jakob, daß der Chauffeur dauernd einen dreckigen Flamen verfluchte. Das muß der andere gewesen sein, überlegte Jakob. Aber was sind Flamen? Und was sind Wallonen? Um Gottes willen nicht fragen, sonst gibt’s einen richtigen Unfall! Ich werde mich erkundigen. Vielleicht kann man dabei was herausschlagen. Ich habe schon aus den sonderbarsten Sachen was herausgeschlagen …

Auf dem Weg durch die Stadt beruhigte der Taxifahrer sich langsam. Gott sei Dank, dachte Jakob. Ich hab’ mich nicht durch einen ganzen Krieg gerettet, damit mich jetzt irgend so ein Fallone oder Walme totfährt.

»Nein, Argentinier«, antwortete Jakob. Mit einiger Verspätung.

»Was, Argentinier?« fragte der Chauffeur, der englisch mit schwerem Akzent sprach.

»Bin ich. Haben sie mich gefragt. Vorhin.«

»Ah!« Der Chauffeur begann zu schwärmen. »Schauen Sie sich das an, Sir! Klein-Paris hat man Brüssel immer schon genannt. Aber ich glaube, jetzt ist es mehr Paris als Paris selber!«

Das stimmte. Jakob erblickte breite Boulevards, Luxusgeschäfte, Häuser mit üppigem Stuck. Alle Straßen waren taghell erleuchtet. Hier existierten offenbar keine Strombeschränkungen. An den Geschäftshäusern sah man Leuchtreklamen in allen Farben. Der Chauffeur teilte Jakob mit, daß die Geschäfte bis Mitternacht geöffnet seien. In den Schaufenstern lagen Luxusartikel aus der ganzen Welt. Belgien hat den Krieg eben nicht annähernd so gewonnen wie Frankreich, sinnierte Jakob.

»Auch auf kulturellem Gebiet ist alles in Ordnung …« Der Taxichauffeur war äußerst gesprächig. »Sartre, Anouilh, Wilder …«

Keine Ahnung, wer die Herren sind, dachte Jakob. Nie gehört. Schieber offenbar nicht. Er sagte: »Großartig!«

»Und ›Egmont‹!« Der Chauffeur kam immer mehr in Fahrt. »›Don Giovanni‹ und ›Tristan‹ sind zu erwarten – mit österreichischen Solisten! Ah, und Schönberg! Lieben Sie die deutsche Musik auch so sehr?«

Fragen kann ein Mensch stellen!

»Hm …«

»Fast den ganzen Tag hören Sie deutsche Musik im Radio – von Bach bis Reger, alles! Wenn Sie amerikanischen Jazz wollen, müssen Sie einen deutschen Sender wählen …« Jakob döste sanft, bis das Taxi hielt.

Aus dem Innern des PLAZA kamen Hausdiener und Portiers geeilt. Bei der Reception wieselten Herren um Jakob herum. Der Name Miguel Santiago Cortez schien allenthalben einen märchenhaften Klang zu haben. Na, wartet mal, bis ich meinen Krieg gewonnen habe, dachte Jakob. Der Klang von meinem Namen dann!

»Appartement dreihundertsieben, Señor Cortez – das schönste unseres Hauses!«

»Haben wir sofort für Sie reserviert, nachdem Ihr Pariser Büro anrief.« (Braver Franzl.)

»Es ist Post für Sie da, Señor Cortez!« (Brave Laureen.)

Der weltberühmte (falsche) Cortez, der in Wahrheit ein armes Landserschwein gewesen war, steckte Expreßbriefe und größere Kuverts lässig in die Tasche seines Flanellmantels. Der Hoteldirektor persönlich brachte ihn nach oben. Jakob überlegte: Kann man einem derartigen Gentleman Geld geben? Wird er es ablehnen? Ein so imposanter Mann! Der so imposante Mann nahm mit tausend Dank. Von diesem Moment an war Jakob davon überzeugt: Es gibt keinen Menschen auf der Welt, dem man kein Geld geben darf. Vielleicht mit Ausnahme des Heiligen Vaters. Er sollte noch daraufkommen, daß auch …

Er badete.

Er saß im Salon still vor einem anderen herrlichen Louis-XV-Schreibtisch (ohne eine Ahnung davon zu haben, daß es ein Louis-XV-Schreibtisch war) und räusperte sich ein paarmal, um für seine Rolle als Milliardär fit zu sein. Dann wählte er die Nummer, die der Handelsattaché auf die Rückseite des Fotos des Herrn Robert Rouvier geschrieben hatte. Er verabredete sich – man sprach Englisch – mit Rouvier für den nächsten Vormittag im Hotel. Rouvier äußerte ungeheure Freude darüber, mit einem Mann wie Miguel Santiago Cortez ins Geschäft zu kommen.

Zufrieden ging Jakob schlafen, nachdem er noch einmal sein Prachtappartement inspiziert hatte. Das Ding konnte sich sehen lassen, wahrhaftig! Unser Freund schlief sehr unruhig in dieser Nacht. Immer wieder schreckte er aus gräßlichen Alpträumen auf. In ihnen sprachen mit ihm vertraulich Herren, die er nicht kannte, nie gesehen hatte, von denen er nicht das geringste wußte. Die Herren hießen Egmont Wilder, Reger Anouilh, Giovanni Sartre und Don Schönberg …

Hurra, wir leben noch
cover.html
haupttitel.html
navigation.html
chapter1.html
chapter2.html
chapter3.html
chapter4.html
chapter5.html
chapter6.html
chapter7.html
chapter8.html
chapter9.html
chapter10.html
chapter11.html
chapter12.html
chapter13.html
chapter14.html
chapter15.html
chapter16.html
chapter17.html
chapter18.html
chapter19.html
chapter20.html
chapter21.html
chapter22.html
chapter23.html
chapter24.html
chapter25.html
chapter26.html
chapter27.html
chapter28.html
chapter29.html
chapter30.html
chapter31.html
chapter32.html
chapter33.html
chapter34.html
chapter35.html
chapter36.html
chapter37.html
chapter38.html
chapter39.html
chapter40.html
chapter41.html
chapter42.html
chapter43.html
chapter44.html
chapter45.html
chapter46.html
chapter47.html
chapter48.html
chapter49.html
chapter50.html
chapter51.html
chapter52.html
chapter53.html
chapter54.html
chapter55.html
chapter56.html
chapter57.html
chapter58.html
chapter59.html
chapter60.html
chapter61.html
chapter62.html
chapter63.html
chapter64.html
chapter65.html
chapter66.html
chapter67.html
chapter68.html
chapter69.html
chapter70.html
chapter71.html
chapter72.html
chapter73.html
chapter74.html
chapter75.html
chapter76.html
chapter77.html
chapter78.html
chapter79.html
chapter80.html
chapter81.html
chapter82.html
chapter83.html
chapter84.html
chapter85.html
chapter86.html
chapter87.html
chapter88.html
chapter89.html
chapter90.html
chapter91.html
chapter92.html
chapter93.html
chapter94.html
chapter95.html
chapter96.html
chapter97.html
chapter98.html
chapter99.html
chapter100.html
chapter101.html
chapter102.html
chapter103.html
chapter104.html
chapter105.html
chapter106.html
chapter107.html
chapter108.html
chapter109.html
chapter110.html
chapter111.html
chapter112.html
chapter113.html
chapter114.html
chapter115.html
chapter116.html
chapter117.html
chapter118.html
chapter119.html
chapter120.html
chapter121.html
chapter122.html
chapter123.html
chapter124.html
chapter125.html
chapter126.html
chapter127.html
chapter128.html
chapter129.html
chapter130.html
chapter131.html
chapter132.html
chapter133.html
chapter134.html
chapter135.html
chapter136.html
chapter137.html
chapter138.html
chapter139.html
chapter140.html
chapter141.html
chapter142.html
chapter143.html
chapter144.html
chapter145.html
chapter146.html
chapter147.html
chapter148.html
chapter149.html
chapter150.html
chapter151.html
chapter152.html
chapter153.html
chapter154.html
chapter155.html
chapter156.html
chapter157.html
chapter158.html
chapter159.html
chapter160.html
chapter161.html
chapter162.html
chapter163.html
chapter164.html
chapter165.html
chapter166.html
chapter167.html
chapter168.html
chapter169.html
chapter170.html
chapter171.html
chapter172.html
chapter173.html
chapter174.html
chapter175.html
chapter176.html
chapter177.html
chapter178.html
chapter179.html
chapter180.html
chapter181.html
chapter182.html
chapter183.html
chapter184.html
chapter185.html
chapter186.html
chapter187.html
chapter188.html
chapter189.html
chapter190.html
chapter191.html
chapter192.html
chapter193.html
chapter194.html
chapter195.html
chapter196.html
chapter197.html
chapter198.html
chapter199.html
chapter200.html
chapter201.html
chapter202.html
chapter203.html
chapter204.html
chapter205.html
chapter206.html
chapter207.html
chapter208.html
chapter209.html
chapter210.html
chapter211.html
chapter212.html
chapter213.html
chapter214.html
chapter215.html
chapter216.html
chapter217.html
chapter218.html
chapter219.html
chapter220.html
chapter221.html
chapter222.html
chapter223.html
chapter224.html
chapter225.html
chapter226.html
chapter227.html
chapter228.html
chapter229.html
chapter230.html
chapter231.html
chapter232.html
chapter233.html
chapter234.html
chapter235.html
info_autor.html
info_buch.html
impressum.html
hinweise.html