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Von Paris bis Brüssel sind es zweihundertachtundneunzig Kilometer.
Dazwischen liegt die Grenze. Polizei- und Zollbeamte kontrollierten Jakobs amerikanischen Paß auf den Namen Jerome Howard Fletcher und fanden nichts zu bemängeln. Mein lieber Freund Josef Mader, der Münchner Fälscher, ist wirklich Weltklasse, dachte Jakob frohen Mutes. Ich darf nicht vergessen, ihm ein paar Dosen Schmalz mit genug Zwiebeln und feinen Grieben mitzubringen.
Auch in den vielen Gepäckstücken fand sich nichts, was die Zöllner zu beanstanden gehabt hätten. Sie wünschten Mr. Fletcher eine angenehme Reise. Mr. Fletcher dankte. Die erste Station auf belgischem Gebiet hieß Frameries.
In Frameries stieg Jakob aus. Zwei Träger transportierten seinen Schweinslederkofferberg durch das Bahnhofsgebäude auf den Platz davor.
Unter einem verschneiten Baum am Ende des Platzes stand ein Bentley mit französischer CD-Nummer. Die Scheinwerfer flammten auf, der Wagen kam angesummt und hielt. Der abnorm häßliche Handelsattaché Amadeo Juarez mit dem abnormen Frauenverschleiß stieg aus. Die Gepäckträger verstauten Jakobs Koffer. Zum Glück war es ein großer Bentley. Jakob entlohnte die Träger. Die Träger verbeugten sich geradezu ehrfürchtig. Wieder zuviel Trinkgeld, dachte Jakob verärgert. Aber schon war die Rechtfertigung da: Warum sollen die armen Hunde, die sich für mich abmühen, nicht auch eine Freude haben? (Solch Alibi brachte es mit sich, daß Jakob niemals davon zu heilen war, viel zu hohe Trinkgelder zu verteilen.) Der Attaché und Jakob kletterten in den Wagen.
»Wo sind die Scheckhefte und die Papiere von Rubi?« fragte Jakob.
»Hier.« Der Handelsattaché war maulfaul. Er reichte Jakob einen Diplomatenkoffer. »Hat mir Ihre Frau gegeben.«
Das ist der Diplomatenkoffer, den mir der Hase in Linz im PX gekauft und zu Weihnachten geschenkt hat, dachte Jakob sentimental. Der Hase … wie gemein benehme ich mich gegen ihn. Und ganz gewiß werde ich niemals im Leben und in der ganzen Welt eine bessere Frau finden als Julia, mein Gott. (Genau diesem Gedanken hat er in Abständen das ganze nächste Vierteljahrhundert hindurch nachgehangen.)
»Jetzt geben Sie mir den anderen Paß.« Daraufhin gab der mürrische Juarez ihm den Paß, den der Milliardär Cortez in Paris verloren und den nun Juarez mit über die Grenze gebracht hatte. Juarez besaß diplomatische Immunität. Er und sein Wagen wurden niemals untersucht. (Schlauer Franzl!)
Jakob nahm den erstklassig gefälschten amerikanischen Paß auf den Namen Jerome Howard Fletcher aus der Jackentasche und reichte ihn Juarez, der ihn aufbewahren sollte. Den echten argentinischen Paß steckte er ein.
»Was ist los mit Ihnen, Juarez? Warum sind Sie so mürrisch?«
»Ich bin nicht mürrisch, ich bin müde.«
»Sie sollten doch nachmittags schlafen!«
»Habe ich auch.«
»Aber nicht allein«, sagte Jakob ergrimmt.
»Sie kennen Yvonne nicht. Das ist die süßeste …«
Mit diesem Typ muß man gleich Fraktur reden, dachte Jakob und schnauzte den Mann, der an übermäßiger Hormonausschüttung litt, an: »In der nächsten Zeit werden Sie sich zusammenreißen, verstanden? Es wird Ihnen ja Gott behüte wohl möglich sein, für einen Riesenverdienst zehn Tage lang nicht herumzuhocken!«
»Ich will’s versuchen«, sagte Juarez kläglich, »aber versprechen kann ich es nicht. Es ist einfach zu stark – stärker als ich, Señor Cortez.«
Zwei Stunden später erreichten die beiden einen Taxistand an der Peripherie von Brüssel. Gemeinsam holten sie Jakobs Schweinslederkofferpracht aus dem Wagen. Dann wählten sie ein Taxi, in dem all die Koffer auch Platz hatten.
»Ich rufe Sie an«, sagte Juarez.
»Aber nur …«
»…aus einer Telefonzelle«, knurrte Juarez gereizt. »Ich bin kein Idiot.«
»Geb’s Gott!« Jakob sah dem Bentley nach, der davonschoß. Wetten könnte ich, daß der Kerl schon wieder zu irgendeiner Puppe saust, die er in Brüssel kennt, dachte er traurig. Es ist zum Verzweifeln mit dem Burschen! Das ist ja ein … ein … na ja, eben ein!
Jakob nannte dem Chauffeur den Namen des Hotels, zu dem er wollte. »PLAZA, sehr wohl, Monsieur. Sind Sie Amerikaner?« Der Taxifahrer drehte sich um. Das hätte er nicht tun sollen. Er stieß um ein Haar mit einem anderen Taxi zusammen, das gerade vorüberfuhr. Halt. Große Beschimpfung, von der Jakob nichts verstand. Zwei Worte blieben haften: ›Flame‹ und ›Wallone‹. Endlich hatten die beiden Herren sich ausgetobt. Sein Fahrer kletterte hinter das Steuerrad, wüst vor sich hinfluchend. Nur soviel verstand Jakob, daß der Chauffeur dauernd einen dreckigen Flamen verfluchte. Das muß der andere gewesen sein, überlegte Jakob. Aber was sind Flamen? Und was sind Wallonen? Um Gottes willen nicht fragen, sonst gibt’s einen richtigen Unfall! Ich werde mich erkundigen. Vielleicht kann man dabei was herausschlagen. Ich habe schon aus den sonderbarsten Sachen was herausgeschlagen …
Auf dem Weg durch die Stadt beruhigte der Taxifahrer sich langsam. Gott sei Dank, dachte Jakob. Ich hab’ mich nicht durch einen ganzen Krieg gerettet, damit mich jetzt irgend so ein Fallone oder Walme totfährt.
»Nein, Argentinier«, antwortete Jakob. Mit einiger Verspätung.
»Was, Argentinier?« fragte der Chauffeur, der englisch mit schwerem Akzent sprach.
»Bin ich. Haben sie mich gefragt. Vorhin.«
»Ah!« Der Chauffeur begann zu schwärmen. »Schauen Sie sich das an, Sir! Klein-Paris hat man Brüssel immer schon genannt. Aber ich glaube, jetzt ist es mehr Paris als Paris selber!«
Das stimmte. Jakob erblickte breite Boulevards, Luxusgeschäfte, Häuser mit üppigem Stuck. Alle Straßen waren taghell erleuchtet. Hier existierten offenbar keine Strombeschränkungen. An den Geschäftshäusern sah man Leuchtreklamen in allen Farben. Der Chauffeur teilte Jakob mit, daß die Geschäfte bis Mitternacht geöffnet seien. In den Schaufenstern lagen Luxusartikel aus der ganzen Welt. Belgien hat den Krieg eben nicht annähernd so gewonnen wie Frankreich, sinnierte Jakob.
»Auch auf kulturellem Gebiet ist alles in Ordnung …« Der Taxichauffeur war äußerst gesprächig. »Sartre, Anouilh, Wilder …«
Keine Ahnung, wer die Herren sind, dachte Jakob. Nie gehört. Schieber offenbar nicht. Er sagte: »Großartig!«
»Und ›Egmont‹!« Der Chauffeur kam immer mehr in Fahrt. »›Don Giovanni‹ und ›Tristan‹ sind zu erwarten – mit österreichischen Solisten! Ah, und Schönberg! Lieben Sie die deutsche Musik auch so sehr?«
Fragen kann ein Mensch stellen!
»Hm …«
»Fast den ganzen Tag hören Sie deutsche Musik im Radio – von Bach bis Reger, alles! Wenn Sie amerikanischen Jazz wollen, müssen Sie einen deutschen Sender wählen …« Jakob döste sanft, bis das Taxi hielt.
Aus dem Innern des PLAZA kamen Hausdiener und Portiers geeilt. Bei der Reception wieselten Herren um Jakob herum. Der Name Miguel Santiago Cortez schien allenthalben einen märchenhaften Klang zu haben. Na, wartet mal, bis ich meinen Krieg gewonnen habe, dachte Jakob. Der Klang von meinem Namen dann!
»Appartement dreihundertsieben, Señor Cortez – das schönste unseres Hauses!«
»Haben wir sofort für Sie reserviert, nachdem Ihr Pariser Büro anrief.« (Braver Franzl.)
»Es ist Post für Sie da, Señor Cortez!« (Brave Laureen.)
Der weltberühmte (falsche) Cortez, der in Wahrheit ein armes Landserschwein gewesen war, steckte Expreßbriefe und größere Kuverts lässig in die Tasche seines Flanellmantels. Der Hoteldirektor persönlich brachte ihn nach oben. Jakob überlegte: Kann man einem derartigen Gentleman Geld geben? Wird er es ablehnen? Ein so imposanter Mann! Der so imposante Mann nahm mit tausend Dank. Von diesem Moment an war Jakob davon überzeugt: Es gibt keinen Menschen auf der Welt, dem man kein Geld geben darf. Vielleicht mit Ausnahme des Heiligen Vaters. Er sollte noch daraufkommen, daß auch …
Er badete.
Er saß im Salon still vor einem anderen herrlichen Louis-XV-Schreibtisch (ohne eine Ahnung davon zu haben, daß es ein Louis-XV-Schreibtisch war) und räusperte sich ein paarmal, um für seine Rolle als Milliardär fit zu sein. Dann wählte er die Nummer, die der Handelsattaché auf die Rückseite des Fotos des Herrn Robert Rouvier geschrieben hatte. Er verabredete sich – man sprach Englisch – mit Rouvier für den nächsten Vormittag im Hotel. Rouvier äußerte ungeheure Freude darüber, mit einem Mann wie Miguel Santiago Cortez ins Geschäft zu kommen.
Zufrieden ging Jakob schlafen, nachdem er noch einmal sein Prachtappartement inspiziert hatte. Das Ding konnte sich sehen lassen, wahrhaftig! Unser Freund schlief sehr unruhig in dieser Nacht. Immer wieder schreckte er aus gräßlichen Alpträumen auf. In ihnen sprachen mit ihm vertraulich Herren, die er nicht kannte, nie gesehen hatte, von denen er nicht das geringste wußte. Die Herren hießen Egmont Wilder, Reger Anouilh, Giovanni Sartre und Don Schönberg …