30

»Der Werwolf!« hatte Jakob gekeucht, während er gegen ein Fenster im Schlafwagengang des ›Orient-Expreß‹ taumelte.

In der Tat, er war es.

Präziser gesagt: Es war die Werwölfin.

»Der Formann!« sagte die Frau im Bett (man könnte hinzufügen: schmatzend) und räkelte sich noch ein wenig mehr. Eine Schulter war schon blank. Die Achsen des ›Orient-Expreß‹ pochten. Zu beiden Seiten des Zuges, der da durch die Nacht raste, stoben weiße Schneeflügel empor bis zu den Wagendächern. Die Stimme der schwarzen Hilde hatte sich in den letzten Monaten völlig verändert. Sie war rauh und tief geworden. Der heulende Werwolf von einst als ganzer hatte sich verändert! Den schmiß so leicht nichts mehr um. Der heulte so leicht nicht mehr los.

»Ha … hallo«, sagte Jakob und schluckte, denn die eine Nachthemdseite rutschte lebensgefährlich. Die schwarze Hilde räkelte sich wie ein Aal.

»Sonst hast du nichts zu sagen, Formann? Keine Freude? Keine Überraschung?«

»Wenn Sie sich noch ein bißchen mehr räkeln, stehen Sie im Freien, Fräulein Korn«, sagte Jakob. Er war auf einmal gleichfalls heiser.

»Seit wann denn ›Sie‹?« fragte die schwarze Hilde beleidigt. Und räkelte sich. Na also. Eine war draußen. Und was für eine. Mein lieber Mann! Hilde bedeckte lässig ihre Blöße.

»Na, schließlich hatte ich bisher nur die Ehre, Sie ein einziges Mal zu sehen, Fräulein Korn, und da mußte ich Sie einsperren.«

»Aber da hast du ›du‹ zu mir gesagt, Formann! Und außerdem heiße ich nicht Fräulein Korn, sondern Mrs. Fletcher.«

Es war alles ein bißchen viel auf einmal für Jakob.

»Mrs. Fletcher … Wieso? … Sie wurden doch längst nach Deutschland gebracht … gleich damals, nachdem …«

»Denkste.«

»Und du bist der … hrm … Boß vom Franzl?«

»Das ist der Boß von uns allen«, sagte Jakobs Schulfreund Franz Arnusch hastig. »Wir sind eine … eine Organisation, verstehst du?«

»Organisation von was?«

»Na von …«

»Laß mich mit dem Kleinen allein, Franzl! Hau ab!«

»Jawohl, Boß!«

Der Franzl haute ab.

Jakob stand vor der schwarzen Hilde dem Bett gegenüber an die Wand gepreßt und starrte auf sie herab. Er hielt sich an der Türklinke fest. Das hätte noch gefehlt, daß er gleich auf sie draufgefallen wäre bei diesem Schwanken des Wagens!

»Was … was ist das für eine Organisation, Hilde?« fragte er endlich. Ein Auge … zwei Augen hat die Person!

»Laureen.«

»Was?«

»Laureen ist jetzt mein Vorname. Nicht mehr Hilde. Laureen Fletcher.«

»Pardon! Also, was ist das für eine Organisation, Laureen?«

»Steh nicht so steif rum. Setz dich aufs Bett.« Er ließ sich daraufplumpsen. In ihre Magenkuhle. (Sie lag auf der Seite.) Ist ja wirklich zu blöd, dachte er. Ich bin ein erwachsener Mann! »Ich habe so etwas wie eine offene Handelsgesellschaft mit Filialen in verschiedenen Ländern. Du bist der einzige, der zu mir Laureen sagen darf. Brauchst mich nicht Boß zu nennen.«

»Sehr freundlich, Laureen.«

»Ich handle mit den verschiedensten Artikeln. Ich würde sagen, daß die Basis aller meiner Geschäfte die menschliche Dummheit ist.«

»Da hast du dir eine goldene Basis ausgesucht, Laureen!«

»Übrigens heiße ich nicht nur Fletcher. Ich habe eine ganze Menge Namen und Pässe. Und Perücken.«

»Selbstverständlich.«

»Und wie heißt du mit Vornamen?«

»Jakob, und meine Freunde sagen Jake zu mir.«

Die ehemalige schwarze Hilde räkelte sich wieder. Unter der Decke. Sie schubberte sich an Jakob.

»Ich habe so oft an dich denken müssen, Jake.«

»Klar«, sagte er. »Welche Frau kann mich schon vergessen?«

»Trottel. Ich habe so oft an dich denken müssen, weil du einem andern Mann ähnlich siehst. Und dann kommst du in das gleiche Schlafwagenabteil wie der Franzl. Zufälle gibt es!«

»Was ist das für ein anderer Mann?«

»Gib mir mal bitte meine Tasche vom Waschtisch. Danke.« Sie kramte kurz und entnahm der Tasche einen Paß, so geöffnet, daß Jakob das Paßfoto sehen konnte.

Das Paßfoto zeigte das Gesicht eines Herrn, der Jakob in der Tat außerordentlich ähnelte.

»Donnerwetter. Wer ist das?«

»Das«, sagte die ehemalige schwarze Hilde – derzeit Laureen –, »ist Señor Miguel Santiago Cortez. Kennst du nicht?«

»Nie gehört den Namen.«

»Mensch, Junge, in welchem Kuhdorf bist du denn gewesen, seit wir uns zum letztenmal gesehen haben?«

»In Theresienkron«, sagte Jakob.

»Wo ist denn das?«

Jakob sagte, wo das war und was er da gemacht hatte.

»Eier«, sagte Laureen. »Großer Gott! Eier. Und dich habe ich für intelligent gehalten. Natürlich sind einem wie dir die Namen der internationalen Hochfinanz nicht bekannt.«

»Was ist also mit diesem Cortez los?«

»Er hat Tbc.«

»Wo?«

»In der Lunge, Idiot.«

»Wo er ist, meine ich!«

»Für das nächste Jahr in Davos. Um seine Tuberkeln loszuwerden.«

»Weiter, du Luder.«

»Ach, ich habe ja gleich gewußt, daß du auf mich stehst! Weiter, Junge, wäre zu sagen, daß Señor Cortez, bevor er nach Davos fuhr, in Paris seinen Paß verloren hat. Ein ehrlicher Finder gab den Paß bei der Argentinischen Gesandtschaft ab. Trotzdem hat Señor Cortez ihn nicht wiederbekommen.«

»Warum nicht?«

»Ein Kulturattaché hat ihn zurückbehalten. Der ist auch Mitglied meiner Organisation. Heute. Damals war er’s noch nicht. Damals sagte er sich nur, daß der Paß eines Milliardärs immer etwas Gutes ist, und verkaufte ihn deshalb an deinen Freund Franzl. Der war gerade in Paris, zum Glück. Wir fahren jetzt wieder hin …«

»Wieso kann der Franzl nach Paris fahren?«

»Na, er ist doch immer noch bei der österreichischen Zollbehörde! Mit allen Vollmachten und mit Paß und Fahrbefehlen und so weiter! Er ist mein Fachmann in Devisenfragen. Daneben ist er natürlich für die Österreicher tätig. Nach dir haben wir gesucht wie nach einer Stecknadel im Heuhaufen.«

»Wegen der Ähnlichkeit mit dem da«, sagte Jakob und wies auf das Paßfoto.

»Wegen der Ähnlichkeit mit dem da«, sagte Laureen.

»Wo kommt ihr her?«

»Aus Wien.«

»Aber da habt ihr doch zuerst mit einem andern Zug fahren müssen! Durch die ganze Sowjetische Zone!«

»Na und? Ich als Amerikanerin, Franzl als Zollfahnder mit allen Ausweisen! Glaubst du, das war schwer?«

»Woher hast du aber den amerikanischen Paß?«

»Woher schon? Von einem Fälscher. Der hat auch alle meine anderen Pässe gefälscht. Großartiger Mann, sage ich dir. Jedenfalls – unterbrich mich nicht immer, bitte, ja? – hat Franzl den Paß von Señor Cortez mir gegeben, während der natürlich einen neuen Paß beantragen mußte.«

»Wie korrupt ist dieser argentinische Handelsattaché in Paris eigentlich?« fragte Jakob.

»Ich muß dir noch die Adresse und das Erkennungszeichen für meinen Paßfälscher geben. Du wirst auch Pässe brauchen jetzt. Sehr.«

»Was sehr?«

»Sehr korrupt ist dieser argentinische Handelsattaché. Dazu sehr häßlich. Dazu wie wild hinter den Weibern her. Das kostet ihn natürlich eine Menge Geld. Aus Liebe tut’s keine mit dem.«

»Verstehe.«

»Der braucht also dauernd Geld.«

»Verstehe.«

»Wir haben den Paß, wir haben den Handelsattaché, und jetzt, endlich, haben wir auch dich, der du diesem Tuberkel-Milliardär so ähnlich siehst. Nun laß dir was einfallen.«

»Einfallen?«

»Ich und der Franzl machen doch in Devisen!«

»Wo hinein?«

Darüber mußte sogar die Pfeife der Lok aufjaulen.

»In Devisengeschäften, du Trottel! Mit dir können wir ein Geschäft machen, das sich lohnt. Und ich habe dich in der Hand, mein Junge. Ich kenne ein kleines russisches Abenteuer.«

»Von wem?«

»Von einem russischen Mitarbeiter. Die suchen dich immer noch. Ein kleiner Hinweis von mir genügt also.«

»Du erpreßt mich …«

»Natürlich. Wovon reden wir denn die ganze Zeit? Wir arbeiten jetzt zusammen, oder ich lasse dich platzen. Kapiert? Na also, endlich. Ich liefere den Paß, den Attaché, meine Organisation. Wir werden Partner.«

»Ich brauche aber keinen Partner, Laureen! Denk doch an meine Eier!«

»Auf deine Eier kann ich jetzt keine Rücksicht nehmen! Schau mal: Franzl und ich haben da in Recklinghausen einen Kerl aufgetrieben, der sieht dir halbwegs ähnlich. Halbwegs! Mit Schminke und so könnte man’s wohl hinkriegen. Wir wollten es auf alle Fälle versuchen. Deshalb sind wir mit dem Recklinghausener in Paris verabredet, der Franzl und ich. Finanztechnisch hat der Franzl schon alles ausgearbeitet.«

»Da ist er ja auch ein Genie!«

»Und doch ist auch da noch nicht alles in Ordnung! Franzl weiß das. Ganz abgesehen von dem Recklinghausener. Es kann alles schiefgehen, haben wir uns gesagt, aber probieren müssen wir’s! Na, aber jetzt haben wir dich! Also mußt natürlich du ran! Den Recklinghausener schicken wir zurück. Und was der Franzl noch nicht gefunden hat, das mußt du liefern.«

»Ich? Herrgott, Hilde, ich meine Laureen, ich habe doch keine Ahnung von Finanzen! Das ist doch Franzls Spezialgebiet! Da bin ich doch ein kompletter Trottel! Du darfst nichts von mir verlangen, was ich einfach nicht schaffe! Apropos: Wie geht der Trick vom Franzl?«

Laureen erklärte, wie der Trick vom Franzl ging. Gleich allen wirklich guten Tricks ging er sehr einfach. Sogar Jakob kapierte auf Anhieb.

»Phantastisch«, murmelte er ehrfurchtsvoll. »Ja, der Franzl!«

»Nichts ›ja der Franzl‹! Er weiß es, und ich weiß es, trotz allem fehlt bei dem Trick noch etwas! Wir haben uns abgequält, aber es kam uns nicht …«

»Was kam euch nicht?«

»Das … die … Wie soll ich dir das erklären, das ist Psychologie … Sagen wir, die Sache, die das Ganze unauffällig macht, sympathisch … Verstehst du, was ich meine?«

»Du meinst den ›Human touch‹?«

»Den Human touch, ja!«

»Das Menschliche, das Rührende, wie?«

»Das Menschliche, das Rührende, genau! Und das wirst du dir jetzt einfallen lassen! Das hat nichts mit Finanzen zu tun! Du bringst den Human touch in die Geschichte, und kriegst deinen Anteil. Na?«

»Hm …«

»Los, denk nach! Denk schneller, Genosse! Sonst bist du schon in Sibirien.«

Die Achsen hetzten, hetzten, hetzten …

Jakob griff in die Hosentasche.

»Nein!« sagte Laureen. »Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.« Sie erstarrte. »Was hast du da?«

»Eine alte Hasenpfote«, erklärte ihr Jakob ruhig. »Habe ich gerade geschenkt bekommen. Wer sie besitzt, soll immer Glück haben.«

»Na, das werden wir ja gleich sehen. Konzentriere dich!«

Jakob nickte. Er senkte den Kopf, starrte die Hasenpfote an, als wolle er sie hypnotisieren und dachte nach. Über die elende Situation, in der er sich befand. Über seinen Privatkrieg, den er gewinnen wollte. Über seine Eier. Und über den Human touch.

Laureen zündete sich inzwischen eine Zigarette an. Sie benützte eine unmäßig lange goldene Spitze. Minuten verstrichen. Der Zug verlangsamte seine Fahrt. Ein paar schwache Lichter huschten vorüber.

»Da hätten wir Attnang-Puchheim«, sagte Laureen.

»Und da hätten wir den Human touch«, sagte Jakob.

Sie fuhr im Bett hoch.

O Gott, schon wieder, dachte Jakob. Diese Augen …

»Du hast ihn?«

»Ja.«

»Und du hast dich entschlossen, mit mir zusammenzuarbeiten?«

»Was bleibt mir denn anderes übrig?«

»Wie ist das mit dem Human touch?« fragte sie.

»Was schaut denn bei der Sache heraus?« fragte er.

»So rund zweihunderttausend Dollar.«

Jakob streichelte die alte, steinharte Hasenpfote. Dabei zeigte sich zum erstenmal, daß dieselbe wirklich Glück brachte und ihren Besitzer beschützte. Jakob dachte: So rund zweihunderttausend Dollar, hat das Weib gesagt. Du liebes Gottchen! … Da bleibt natürlich einiges für mich hängen! Mann, auch nur mit hunderttausend Dollar kann man heute ganz Deutschland kaufen! Deutschland? Den Trümmerhaufen will ich gar nicht! Aber mit guten Dollars könnte ich jetzt meine Eier- und Fertighäuserprojekte groß aufziehen! Ganz groß! Um Jakob drehte sich alles ein wenig. Das ist schon eine Pfote, diese Pfote!

Wenn das so weiterging!

»Einverstanden«, sagte er. »Hundertzwanzigtausend für mich, achtzigtausend für dich.«

»Ich sehe schon, ich werde mit meinem russischen Freund sprechen müssen.«

»Entweder wir einigen uns, oder du kommst nicht mehr lebend aus dem Abteil, Süße.«

»Hunderttausend für mich und hunderttausend für dich! Ich bringe den Paß!«

»Und ich bringe den Human touch.«

»Gefalle ich dir eigentlich gar nicht, Jake?«

»Okay, okay«, sagte Jakob. »Du hast dir in der Zwischenzeit doch sicherlich immer brav die Zähne geputzt nach der Werwolfgeschichte. Also schön. Hunderttausend für dich, hunderttausend für mich.«

»Moment mal, ja? Was ist der Human touch?«

»Wir müssen heiraten, Liebling.«

»Das nennst du Human touch?«

»Das nenne ich Human touch, ja! Die süße Zeit der Flitterwochen! Wir haben nur Augen und alles andere füreinander! Das Glück, stell es dir vor! Ganz jung verheiratet!«

»Wenn’s nichts Schlimmeres ist.«

»Du kommst als meine Frau mit nach Paris.«

»Als Señora Cortez?«

»Nein, als Mrs. Fletcher! Dazu muß ich einen falschen Paß auf den Namen Fletcher – Vorname ist mir egal – kriegen.«

»Wenn’s weiter nichts ist.«

»Hat der korrupte Handelsattaché einen Wagen mit einer CD-Nummer?«

»Ja. Einen großen.«

»Hast du eine Bankverbindung in Amerika?«

»Selbstverständlich. Wofür hältst du mich?«

»Sehr gut«, sagte Jakob. Dann begann er, den Human touch zu erläutern. Laureen war tief beeindruckt. »Großartig, Jake!« Sie ließ sich zurückfallen und lag jetzt ganz im Freien. »Schließlich werden wir nun doch bald als Eheleute auftreten«, sagte sie. »Da möchtest du dich vielleicht ein wenig besser bei mir auskennen.«

»Ich muß mich ganz genau bei dir auskennen«, sagte Jakob und stellte wieder einmal sein außerordentlich gutes Verständnis für Frauen unter Beweis. Mit vollem Erfolg …

Salzburg lag hinter ihnen, als Laureen, selig und schläfrig in seinen Armen, murmelte: »Jake …?«

»Hm?«

»Wenn du unbedingt willst, nimm dir hundertzwanzigtausend!«

»Ah, nein!« sagte Jakob. »Darauf hättest du vor Attnang-Puchheim eingehen müssen. Jetzt käme ich mir unanständig vor.«

Hurra, wir leben noch
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