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»Tag, Chef«, sagte Klaus Mario Schreiber. Er schüttelte dem entgeisterten Jakob kräftig die Hand. Schreibers Akne war verschwunden, nur noch kleine Narben erinnerten an sie. Er hatte eine gesunde Gesichtsfarbe, ein freundliches Gebaren, und er trug einen Morgenmantel über dem Pyjama.
Unser Freund holte röchelnd Luft.
»Schreiber!« ächzte er überwältigt. »Wie kommen Sie hierher? Meinetwegen?«
»Nicht direkt.«
»Was heißt ›nicht direkt‹?«
»Na ja«, sagte Schreiber, »ich liege auch hier drin in diesem Großklinikum.«
»Sie auch? Seit wann?«
»So acht Wochen werden es wohl sein. Ich stehe vor der Entlassung.« Schreiber setzte sich und schlug die Beine übereinander.
»Entlassung?« Jakob war entsetzt. »Sind Sie krank gewesen?«
»Ziemlich, Chef.«
»Der … Entschuldigen Sie, Schreiber … der Suff, was? Der Suff hat Sie endlich geschafft, wie?«
»Ja, Chef. Mitten in der Arbeit, an einem neuen Roman noch dazu. BIS ZUM LETZTEN TROPFEN heißt er. Jetzt werde ich ihn fertigschreiben. Aber beim LETZTEN TROPFEN, da ist es von einer Sekunde zur anderen gekommen! Ich habe immer gesagt, solange ich schreiben kann, kann ich auch saufen. Wenn ich nicht mehr schreiben kann, höre ich einfach mit dem Saufen auf. Habe ich gesagt. Und gedacht. War nur nicht so. Die meisten Sachen im Leben kommen ganz anders, als man sie sich vorstellt. Beim Schreiben bin ich umgekippt. Einfach umgekippt! Na ja, und weil Sie doch angeordnet haben, daß alle Ihre Mitarbeiter hierher nach Berlin gebracht werden, wenn sie krank sind, in Ihr Großklinikum, haben sie auch mich hergebracht – in einem Flugzeug, höre ich. Ich weiß nichts davon. In meinem Leben fehlen vier Tage.«
»Bei mir sind es sechs, Schreiber«, sagte Jakob erschüttert. »Was war’s denn bei Ihnen? Delirium?«
»Fast, Chef. Fast. Es ist dann bei Halluzinationen geblieben. Akustischen. Dauernd habe ich Stimmen gehört. Unangenehme Sachen haben die gesagt. Die Stimme vom Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Ärmchen. Von Frau Doktor Malthus. Von meinen letzten vier Freundinnen.«
»Sie haben vier Freundinnen in letzter Zeit gehabt?«
»Nicht in letzter Zeit, Chef. Alle auf einmal. Darum war da ja auch alles so unangenehm, was ich zu hören glaubte. Na, lassen wir das. Es ist vorbei. Ich brauche noch eine Weile Psychotherapie, dann bin ich wieder okay. Ich habe ein Riesenschwein gehabt, Chef. Der Arzt, der mich in der Psychiatrischen Abteilung behandelt hat, ist wirklich der beste Psychiater, den es gibt!«
»Jakob Formann hat nur die besten Ärzte, Schreiber.«
»Ja, ja, schon. Aber der Arzt, der mich wieder hingekriegt hat, das ist wirklich ein Genie! Der hat eine ganz große Zukunft vor sich. Wissen Sie, was das tollste ist? Wir sind zusammen in die gleiche Schule gegangen! Haben uns dann nie mehr gesehen. Erst wieder hier. Das ist vielleicht ein Kerl, Chef. Der hat mich übern Berg gebracht – für immer.«
»Hoffentlich«, murmelte Jakob. »Ich will Sie nicht erschrecken, aber die Rückfallquote bei Alkoholikern ist …«
»… sehr hoch, ich weiß. Und ich würde ja auch bestimmt rückfällig werden, sagt der Cornel – so heißt dieser Psychiater mit dem Vornamen, wissen Sie, Chef –, wenn ich nicht ein so feiges Schwein wäre.«
»Sie sind doch kein feiges …«
»Haben Sie eine Ahnung, was für eines, Chef! Wenn ich nicht so feige wäre, hätte ich doch mein Leben lang nie so schreiben können! Die Mutigen, das sind die, die keine Phantasie haben, die sich nicht vorstellen können, was möglich wäre. Besonders die Helden – also das sind die größten Idioten! Aber ich, ich habe mir immer alles vorstellen können, das Verrückteste, Abenteuerlichste, Schlimmste.«
»Und es aufgeschrieben.«
»Und es aufgeschrieben. Und da sagt jetzt der Cornel, mein Schulfreund: Klar würdest du sofort wieder saufen, wenn du nicht ein so feiges Schwein wärst und dir jetzt in Erinnerung an deine Halluzinationen und all das andere Unangenehme beständig in die Hosen scheißen würdest. Vielleicht wirst du noch haschen oder koksen oder fixen oder LSD nehmen – aber niemals im Leben mehr Whisky. Denn vor dem hast du jetzt eine viel zu große Angst! Toller Kerl, wie?« Schreiber schüttelte den Kopf. »Ich quatsche dauernd von mir. Deshalb bin ich nicht zu Besuch gekommen, Chef.«
»Na, ich freue mich aber doch, Schreiber! Nur eines ist mir unheimlich. Sind Sie wirklich der Schreiber? Haben Sie keinen Zwillingsbruder?«
»Nein, warum, Chef?«
»Der Schreiber, den ich gekannt habe, der alte Saufaus, der hat immer gestottert, aber wie!«
»Das war ich, Chef! Ich!«
»Sie? Und jetzt … jetzt reden Sie ganz fließend?«
»So ist es, Chef. Nach der Entwöhnungskur war es mit der Stotterei vorbei. Weiß ich, warum! Zuerst habe ich auch einen mächtigen Schreck gekriegt und gedacht, ich bin nicht mehr der alte und werde nie mehr schreiben können ohne Saufen und Stottern, aber das hat mir der Cornel dann ausgeredet.«
»Unglaublich! Meinen herzlichsten Glückwunsch!«
Schreiber wurde ernst.
»Sie haben einen hübschen kleinen Zusammenbruch gehabt, höre ich.«
»Habe ich auch. Die Idioten hier sagen zwar, ich bin vollkommen gesund, aber ich fühle mich nicht so«, bekannte Jakob. »Ich fühle mich beschissen! Kommen Sie mal näher, Schreiber. Noch näher, ich muß es Ihnen ins Ohr sagen, es darf kein anderer hören …«
»Um was handelt es sich denn?«
»Ich habe solche entsetzlichen Schuldgefühle!«
»Weshalb?«
»Wegen einer Steuergeschichte!«
»Was für eine Steuergeschichte?«
Jakob flüsterte in Schreibers Ohr …