I.

Dirk Maruhn hatte August von Grünfelder den Schmuck übergeben und den Bankier damit in den Zwiespalt gebracht, ob er die Preziosen selbst behalten und heimlich zu Geld machen oder die übrigen von Anno von Klingenfeld betrogenen Kollegen von dem Fund informieren sollte.

Im Gegensatz zu seinem Auftraggeber fühlte der Detektiv sich wie befreit, als dieser Gang hinter ihm lag. Da ihm der Fund des Schmucks einiges an Geld eintragen würde, überlegte er, ob er sich ein paar freie Tage mit Frida gönnen sollte. Die Reise nach Bremen musste er erst einen Tag vor der Ankunft des Schiffes antreten.

Ihm gingen jedoch die Informationen nicht aus dem Kopf, die er von dem betrügerischen Juwelier erhalten hatte. Ein Besuch im Polizeipräsidium ergab, dass Rudi Pielke als Hehler und Bandenchef zur Fahndung ausgeschrieben war. Die Belohnung für dessen Ergreifung war zwar nicht besonders hoch, würde es Frida aber ermöglichen, mehrere Monate lang alle Einkäufe davon zu bestreiten.

Die Sparsamkeit, die er sich hatte angewöhnen müssen, und der Reiz, dort erfolgreich zu sein, wo die Staatsmacht versagt hatte, brachten Maruhn dazu, sich auf die Suche nach Pielke zu machen. Als er den Weg zum Roten Ochsen einschlug, wusste er bereits, dass dieses Lokal in einem schlecht beleumundeten Teil der Stadt lag. Die Häuser standen eng zusammen und sahen schäbig aus. Auf der Straße tollten dutzendweise schmutzige Kinder herum, während ein krank und übernächtigt aussehender Mann, der seiner Kleidung und dem Geruch nach von der Schicht in der Fabrik kam, in einem Hauseingang verschwand.

Der Rote Ochse befand sich im Erdgeschoss eines Gebäudes, welches sich, abgesehen von dem verblichenen Wirtshausschild, in nichts von den Nachbarhäusern unterschied. Maruhn trat ein und fand sich in einem Raum wieder, der nicht genug Licht durch die schlecht geputzten und im Schatten anderer Häuser liegenden Fenster erhielt. Da auch die Gaslampen abgedreht waren, herrschte ein Halbdunkel, das ihn zunächst nur Schemen erkennen ließ.

Einer dieser Schemen erwies sich beim Näherkommen als ein Mann mit einer Schürze, der eine runde Mütze auf dem Kopf trug. »Wollen Se ’n Bier?«

»Dagegen hätte ich nichts«, antwortete Maruhn.

Essen mochte er an diesem Ort nicht, denn er konnte sich nicht vorstellen, dass bei solchen diffusen Lichtverhältnissen in der Küche sauber gearbeitet wurde.

Der Wirt zapfte ein Bier und stellte es ihm hin.

Zu Maruhns Verwunderung schmeckte es gut. Offenbar waren Pielke und seine Männer Bierkenner. Noch wusste er nicht, wie er an den Hehler herankommen sollte. Laut Aussage des Juweliers hielt dieser sich meist in einem versteckten Hinterzimmer auf, das den Gendarmen bereits bei mehreren Durchsuchungen entgangen war.

Dieser Gedanke brachte Maruhn dazu, sein Bier auszutrinken, zu zahlen und die Kneipe zu verlassen. Er ging die Häuserfront entlang, bis er den Zugang zu den Hinterhöfen fand. Dieser bestand aus einer Einfahrt, die breit und hoch genug war, um Pferdegespanne passieren zu lassen. Im größten Hof fand Maruhn die Hintertür des Roten Ochsen, neben der ein Schild auf die Wirtschaft hinwies. Maruhn achtete jedoch nicht auf diesen Eingang, sondern auf die übrigen, die scheinbar in Nebengebäude führten. Am liebsten hätte er einen der Jungen für ein paar Groschen angeheuert, diese unter Kontrolle zu halten und ihn zu informieren, wenn Pielke sich sehen ließ. Doch da die Bewohner der umliegenden Häuser seiner Erfahrung nach eher zu den Ganoven als zu Vertretern des Gesetzes hielten, suchte er sich seufzend eine dunkle Ecke hinter den Müllkübeln, ignorierte den penetranten Gestank und legte sich so dorthin, als wäre er ein Obdachloser, der hier seinen Rausch ausschlafen wollte. Seine Kleidung war zwar zu gut für diese Rolle, aber das würde in diesem düsteren Hof nicht auffallen.

Zwei Stunden lang tat sich nichts, und Maruhn zweifelte zunehmend daran, ob er auf diese Weise tatsächlich an Informationen gelangen würde. Da tauchte ein älterer, wenig vertrauenerweckender Mann auf, den der Detektiv seines Mantels wegen für einen Droschkenkutscher hielt. Er blickte sich um, ohne Maruhn zu bemerken, und verschwand in einem der Hintereingänge. Kurz darauf folgte ihm ein Zweiter, dem Maruhn auf der Straße nicht die Hand gegeben hätte, ohne hinterher zu zählen, ob noch alle Finger vorhanden waren.

Der Detektiv war sicher, Ganoven beobachtet zu haben, die ihr Diebesgut an den Hehler verkaufen wollten. Er dachte an den vertauschten Schmuck, bei dem ein Droschkenkutscher als Komplize gedient haben musste, und kratzte sich am Kopf. Hatte der Kerl, der eben das Haus betreten hatte, Baron Anno von Klingenfeld geholfen, den echten Schmuck mit den Falsifikaten zu vertauschen? Der Verdacht war nicht von der Hand zu weisen.

Mit der wachsenden Gewissheit, auf der richtigen Spur zu sein, blieb er geduldig auf seinem Posten und wurde nicht enttäuscht. Nach einer Weile kamen der Kutscher und der zweite Gauner in Begleitung eines untersetzten Mannes zurück, den man für einen kleinen Geschäftsmann hätte halten können, wäre da nicht der unstete Blick gewesen, mit dem er seine Umgebung musterte.

Die drei verließen den Hinterhof durch die Einfahrt, durch die auch Maruhn hereingekommen war. Sofort stand der Detektiv auf, klopfte seine Kleidung ab und hinkte hinter den Leuten her. Er sah noch, wie der Mann, den er für Pielke hielt, und der kleingewachsene Gauner in einen geschlossenen Wagen stiegen, während der Kutscher auf dem Bock Platz nahm.

»Die haben ein Schurkenstück vor, und das am helllichten Tag!«, murmelte Maruhn und machte sich auf die Suche nach einer Droschke. Viel Hoffnung hatte er nicht, in dieser Gegend eine zu finden, doch als er in eine der Nebenstraßen blickte, sah er einen mit zwei Pferden bespannten Wagen direkt vor sich stehen. Der Kutscher schien sich nicht auszukennen, denn er fragte eine Horde lärmender Kinder nach dem Weg zum Schlesischen Bahnhof, erntete aber nur Gelächter.

Maruhn schob sich durch die Bengel und stieg in den Wagen. »Fahren Sie los, Mann. Sie kommen mir wie gerufen!«

Der Kutscher sah sich erleichtert zu ihm um. »Entschuldigen Sie, aber ich bin erst seit zwei Wochen im Dienst und noch nie in dieser Gegend gewesen. Wohin wollen Sie gefahren werden, und wie gelange ich dorthin?«

Da entdeckte Maruhn weiter vorne Pielkes Kastenwagen, der eben eine Schleife gezogen hatte und nun die Straße befuhr, in der die Droschke angehalten hatte. »Fahren Sie erst einmal in diese Richtung«, befahl er dem Kutscher.

Dieser stieß erleichtert die Luft aus und knallte mit der Peitsche. Auch wenn er sich in Berlin noch nicht so recht auskannte, so kam er mit seinem Gespann gut zurecht.

Maruhn stellte fest, dass die Kinder hinter ihnen zurückblieben und auch sonst niemand mehr zuhören konnte. Daher stemmte er sich aus dem Sitz und klopfte dem Kutscher auf die Schulter. »Folgen Sie diesem Wagen dort vorne, aber so, dass die Leute darin es nicht merken!«

»Aber wieso …«, setzte der Mann an.

Maruhn hielt ihm seine Karte unter die Nase. »Ich bin Leutnant a.D. und Detektiv. Reicht Ihnen das?«

Der Mann nickte. »Ja! Worum geht es denn? Müssen Sie eine untreue Ehefrau beschatten oder steckt mehr dahinter?«

Offensichtlich las der Kerl in seiner Freizeit Kolportageromane – und zwar nicht die besten, befand Maruhn und brummte, dass sein Auftrag geheim wäre. Zu seiner Erleichterung gab der Kutscher sich damit zufrieden.

Dieser folgte dem Wagen vor ihnen in wechselnden Abständen, um nicht den Eindruck zu erwecken, er würde den Leuten darin nachspüren. Für diese Umsicht lobte Maruhn ihn innerlich. Da er selbst die Stadt recht gut kannte, gelang es ihnen, Pielke auf den Fersen zu bleiben. Nach einiger Zeit erreichten sie ein Gebiet mit alten Fabrikhallen und Schuppen. Hierher verirrten sich kaum Droschken, und es bestand die Gefahr, dass Pielke oder dessen Begleiter auf sie aufmerksam wurden. Daher wies Maruhn den Kutscher an, weiter zurückzubleiben, und behielt die Gauner mit einem Taschenfernrohr im Auge.

Als Pielkes Gefährt in eine Einfahrt einbog, klopfte Maruhn seinem Kutscher auf die Schulter. »Stellen Sie den Wagen in einer Nebenstraße ab und warten Sie auf mich. Ich engagiere Sie für die nächsten Stunden!«

»Mir soll’s recht sein.« Der Mann hatte nach einer bezahlten Fahrt eine Abkürzung nehmen wollen und sich dabei verirrt. Nun hoffte er, wenigstens so viel Geld einzunehmen, dass er dem Besitzer der Droschke die Gebühr bezahlen und noch etwas übrig behalten konnte. Er suchte eine Stelle, an der sein Gespann genügend Platz fand, zog die Bremse an und wickelte die Zügel um einen Pfosten des Bocks. Dann stieg er ab und wollte Maruhn aus dem Wagen helfen. Der war jedoch schon ausgestiegen und eilte, so schnell er es mit seinem verkrüppelten Bein vermochte, auf das Gebäude zu, hinter dem Pielke verschwunden war.

Gerade als Maruhn das Haus erreichte, sah er einen Wagen aus der Einfahrt kommen. Im ersten Moment nahm er an, die Verfolgten hätten ihn bemerkt und wollten ihn austricksen. Dann aber stellte er fest, dass der magere Gaul diesmal nicht den geschlossenen Wagen zog, sondern eine schäbig aussehende Droschke. Auf dem Bock saß jedoch derselbe ältliche Kutscher. Da der Wagen leer war, mussten Pielke und dessen Kumpan sich noch in dem Gebäude befinden.

Maruhn überlegte, wie er ungesehen hineingelangen konnte, entdeckte dann zwei Männer und eine Frau hinter einem Fenster, an dem er gerade vorbeigehen wollte, und drückte sich an die Wand. Vorsichtig stellte er sich so, dass er die Leute drinnen beobachten konnte, ohne selbst wahrgenommen zu werden, solange niemand von innen direkt an das Fenster trat. Der jüngere der beiden Männer war wie ein wohlhabender Gutsbesitzer gekleidet, der andere eher bürgerlich und die ältere Frau, die heftig auf ihre Begleiter einredete, wie eine Dame von Stand.

Nun war Maruhn restlos überzeugt, dass hier ein übler Streich vorbereitet wurde, der Anno von Klingenfelds Betrügereien noch übertreffen mochte, und er nahm sich vor, den Herrschaften dort drinnen die Suppe nach Kräften zu versalzen.

Juliregen
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