XII.

Dirk Maruhn fand sich am nächsten Vormittag zur genannten Stunde am Lehrter Bahnhof ein. Er konnte immer noch kaum glauben, dass Fridolin von Trettin ihm eine Fahrkarte erster Klasse bezahlen würde. Der Graf war zweifelsohne ein bemerkenswerter Mann, der sich, anders als Grünfelder, Gedanken darüber machte, wie der Betrugsfall abgelaufen sein konnte. Zwar hatten Trettins Erkenntnisse bisher zu keinem Ergebnis geführt, doch Maruhn nahm sich vor, die Spur nach seiner Rückkehr aus der Provinz weiterzuverfolgen.

»Guten Tag, Herr Maruhn, ich sehe, Sie sind pünktlich.«

Fridolins Gruß beendete den Gedankengang des Detektivs. »Auch Ihnen einen guten Tag, Herr Graf. Sie hatten mich um diese Zeit hierherbestellt.«

Dann sah Maruhn, dass Fridolin nicht nur von seinem Kammerdiener, sondern von einem weiteren Mann begleitet wurde, dessen Kleidung für einen erfolgreichen Geschäftsmann eine Spur zu flott wirkte.

»Das ist Herr Benecke, ein guter Freund von mir, und das Herr Maruhn, den Herr Grünfelder beauftragt hat, sich um diesen Fall zu kümmern«, stellte Fridolin die beiden einander vor.

»Freut mich!« Konrad streckte dem Detektiv die Hand hin, die dieser nach kaum merklichem Zögern ergriff.

»Wir sind Reisegefährten. Also suchen wir einen Kondukteur, der uns das Abteil anweist.« Fridolin bat Kowalczyk, sich um das Gepäck zu kümmern, und winkte einen Bahnbeamten heran. Dieser warf einen kurzen Blick auf den Fahrschein erster Klasse und verbeugte sich.

»Wenn die Herren mir folgen wollen!«

»Nichts lieber als das.« Fridolin war bester Laune, weil er endlich seine Familie wiedersehen würde. Zudem wollte er den Besitzwechsel auf Klingenfeld endgültig durchführen und das Gut übernehmen.

Maruhns Gepäck passte in einen kleinen Koffer, den er noch halbwegs bequem tragen konnte. Nun wurde auch dieser von den Dienstmännern der Bahn auf einen Karren gelegt und zusammen mit Fridolins und Konrads Koffern zum Gepäckwagen transportiert.

Fridolin kaufte bei einem fliegenden Händler eine Zeitung und klemmte sie sich unter den Arm. Dann stieg er in den Eisenbahnwaggon und folgte dem Bahnbeamten bis zu dem reservierten Abteil. Unterdessen überwachte Kowalczyk das Einladen der Koffer und nahm seinen Platz in der zweiten Klasse ein, wie es ihm als Kammerdiener zustand.

Kurz darauf fuhr der Zug heftig dampfend los und rollte erst nordwärts und dann nach Westen. Während Maruhn und Konrad interessiert zum Fenster hinaussahen, las Fridolin in der Zeitung. Plötzlich stutzte er. »Alfred Krupp ist gestorben!«

»Der Stahlbaron?«, fragte Konrad.

Fridolin nickte.

»Herr Krupp war ein großer Mann!«, warf Maruhn ein.

»Da haben Sie recht. Ich glaube nicht, dass es in Deutschland viele gibt, die an seine Bedeutung heranreichen.«

In Fridolins Augen war Krupp nicht nur ein steinreicher Fabrikant, sondern in gewisser Weise auch ein Vorbild, dem er in bescheidenerem Maße nacheifern wollte. Krupp hatte sich aus einfachen Verhältnissen emporgearbeitet und ein Industrieimperium errichtet, das seinesgleichen suchte. Er wollte diesem Beispiel folgen und etwas schaffen, auf das seine Nachkommen stolz sein konnten, und Klingenfeld bot ihm die Möglichkeit dazu.

Als Fridolin begriff, wohin sich seine Gedanken verirrten, musste er über sich selbst lachen. Mit einem Alfred Krupp würde er sich niemals messen können. Ihm würde es schon genügen, ähnlich reich zu werden wie Baron Rendlinger, dem er die Villa am Tiergarten abgekauft hatte. Doch selbst um das zu erreichen, hatte er noch ein hartes Stück Arbeit vor sich.

Währenddessen unterhielten Konrad und Maruhn sich über Alfred Krupp und kamen dabei auch auf dessen soziale Projekte zu sprechen. Fridolin hörte interessiert zu und machte sich klar, dass auch er dafür sorgen musste, dass die Arbeiter in seiner zukünftigen Fabrik gut untergebracht und versorgt wurden. Daran hatte er bis zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht gedacht. Zwar würde dies zusätzliche Kosten verursachen, sich aber auf die Dauer bezahlt machen.

Berlin blieb hinter ihnen zurück, und der Zug dampfte nun durch die Mark Brandenburg. Die nächste Schlagzeile drängte Alfred Krupps Tod in den Hintergrund, und das Gespräch verlagerte sich auf andere Themen. Nach einer Weile legte Fridolin seine Zeitung zusammen und kam auf den Betrugsfall Klingenfeld zu sprechen. »Ich frage mich, wie dieser Mann erfahrene Bankiers wie Grünfelder an der Nase herumführen konnte.«

Maruhn lächelte verkniffen. »Wahrscheinlich wurden die Herren vom Glanz des Schmucks geblendet, und als die Juweliere ihnen bescheinigten, die Juwelen seien echt und sehr wertvoll, sahen sie keinen Grund, daran zu zweifeln.«

»Könnten die Juweliere mit Klingenfeld im Bunde sein?«, fragte Konrad, doch der Detektiv schüttelte den Kopf.

»Ich habe mit allen Juwelieren gesprochen, die uns bekannt sind. Jeder von ihnen hätte der Bank den Schmuck nach der Schätzung unbesehen abgekauft. Für sie war es erschreckend zu hören, dass die Juwelen auf dem Weg von ihren Geschäften zum Bankgebäude ausgetauscht worden sind, denn sie hatten den Transport ausnahmslos einem höchst zuverlässigen Mann anvertraut, zwei von ihnen sogar den eigenen Söhnen.«

»Sie sagen, der Schmuck sei unterwegs ausgetauscht worden. Also haben Sie doch etwas herausgefunden!« Fridolin beugte sich vor und hoffte mehr zu hören, doch Maruhn schüttelte bedauernd den Kopf.

»Es handelt sich nur um eine Vermutung, da Anno von Klingenfeld stets einen Juwelier als Schätzer auswählte, von dem aus die Droschke mindestens eine halbe Stunde bis zum jeweiligen Bankgebäude benötigte. Stellen Sie sich folgende Situation vor: Sie sind der Angestellte eines Juweliers, sitzen in einem geschlossenen Wagen mit verhängten Fenstern und sollen eine etwa unterarmlange Kassette bewachen, die neben Ihnen auf dem Polster liegt. Plötzlich hören Sie von draußen Lärm. Vielleicht wird sogar gegen den Wagenkasten geklopft. Was tun Sie da?«

»Ich fasse nach der Schmuckkassette und halte sie fest«, antwortete Fridolin.

»Ein löblicher Vorsatz. Doch den führen Sie nur aus, wenn Sie gewarnt worden sind. Ist das jedoch nicht der Fall, werden Sie den Vorhang des Fensters beiseiteschieben und nachsehen, was draußen los ist. Spricht Sie dabei auch noch jemand an, hat jene Person, die mit Ihnen im Wagen sitzt, alle Zeit der Welt, die Kassette mit dem echten Schmuck gegen ein gleich aussehendes Kästchen mit den Falsifikaten auszutauschen!«

Diese Argumentation leuchtete Fridolin ein, und er dachte zum ersten Mal, dass Grünfelder mit Maruhn vielleicht doch den richtigen Mann mit der Suche nach dem Schmuck beauftragt hatte.

Juliregen
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