VI.

Nachdem die Entscheidung für die Reise nach Ostpreußen gefallen war, wollte Lore das Ganze so rasch wie möglich hinter sich bringen. Als erster Etappenort war Berlin vorgesehen. Bis dorthin sollten sie Dorothea und Nathalia begleiten, die bei Mary das Brautkleid bestellen wollten.

Als sie an einem regnerischen Morgen aufbrachen, dachte Lore bedauernd, dass die Zeit der Ruhe und Erholung, die sie und ihre beiden Freundinnen auf Klingenfeld gefunden hatten, nun der Vergangenheit angehörte und sie sich wieder dem normalen Leben stellen mussten.

Nathalia schien die aufregenden Ereignisse im Juli am besten verkraftet zu haben, denn sie freute sich wie ein kleines Kind auf Mary und auf das Brautkleid, das diese ihr nähen sollte. In der Hinsicht war Nathalia nicht anders als andere Bräute. Auch Dorothea wirkte munterer als noch vor ein paar Tagen und machte begeistert Vorschläge, welche Nathalias Brautkleid wie auch die Hochzeitsfeier selbst betrafen.

Lore schüttelte innerlich den Kopf über den Eifer ihrer Freundinnen, die Fridolin mit ihren Ausführungen sichtlich langweilten. Dabei hätte sie sich gewünscht, ebenso fröhlich sein zu können, doch es gelang ihr nicht, die Schatten, die sie umgaben, zu verdrängen. Immerhin lag die Reise nach Trettin vor ihr und damit die schmerzliche Begegnung mit ihrer Vergangenheit.

Die Demütigung ihres Großvaters durch seinen Neffen Ottokar, der einen Richter bestochen hatte, um ein Urteil zu seinen Gunsten zu erreichen, und alles, was infolgedessen geschehen war, beschäftigte sie so stark, dass sie kaum auf die Versuche, sie aufzumuntern, reagierte. Als sie Berlin erreichten und von ihrem Kutscher am Lehrter Bahnhof abgeholt worden waren, wäre sie beinahe vor ihrem Haus im Landauer sitzen geblieben. Fridolin musste sie anstupsen.

»Entschuldige, ich war wohl in Gedanken«, sagte sie erschrocken und folgte Nathalia ins Haus.

Diese drehte sich in der Eingangshalle um und sah Lore kopfschüttelnd an. »Ich erkenne dich nicht wieder. Vielleicht solltest du besser hier in Berlin bleiben und Fridolin alleine zu dieser ostpreußischen Giftschlange fahren lassen.«

»Es ist meine Pflicht, als Ehefrau des neuen Majoratsherrn diesen nach Trettin zu begleiten. Das erwartet das Gesinde, und die Nachbarn legen noch mehr Wert darauf«, antwortete Lore mit verbissener Miene, während sie die Treppe zum Umkleidezimmer hinaufstiegen.

»Lass dir von Malwine nichts gefallen! Immerhin bist du jetzt die Herrin auf Trettin. Sie hat dort nichts mehr zu melden.«

Nathalia versuchte ihrer Freundin den Rücken zu stärken. Denn Lore schien im Augenblick eher dem unsicheren fünfzehnjährigen Mädchen zu gleichen, welches sie auf dem NDL-Dampfer Deutschland kennengelernt hatte.

»Ich wünsche dir und den anderen eine gute Reise und eine glückliche Heimkehr!« Mit dem gleichen Überschwang, den Nathalia bereits als Kind gezeigt hatte, umarmte sie ihre Freundin und hätte sie am liebsten nicht mehr losgelassen.

Unterdessen war Jutta ihnen ins Zimmer gefolgt und meldete, dass ein Imbiss für die Herrschaften im kleinen Speisezimmer angerichtet worden sei.

»Danke!« Lore hatte zwar keinen Hunger, wusste aber, dass sie auf keine Mahlzeit verzichten durfte. Wenn sie nach Trettin kam, musste sie bei Kräften sein.

Die Mamsell hatte noch etwas anderes auf dem Herzen. »Wenn gnädige Frau erlauben: Ich habe jenes Dienstmädchen nach Ihren Anweisungen entlassen und ihr ein Zeugnis ausgestellt, mit dem sie eine neue Stelle finden kann. Ich hoffe, Luise nimmt sich die Sache zu Herzen. Sonst hätte ich das Gefühl, einem fremden Haushalt eine Diebin aufgedrängt zu haben.«

Jutta machte keinen Hehl daraus, dass sie das Dienstmädchen nicht so einfach hätte davonkommen lassen, doch Lore war erleichtert.

»Lass es gut sein! Wird das Mädchen gut behandelt, dürfte es treu zu seiner Herrschaft stehen. Bei uns hat Luise ja auch nur gefehlt, weil der Gutsherr auf Trettin sie dazu verführt hat. Das wird ihr gewiss eine Lehre gewesen sein.«

Lore nickte ihrer Mamsell kurz zu und bat Nathalia, mit ihr ins Speisezimmer zu kommen.

Fridolin und Dorothea saßen bereits am Tisch und versuchten während des Essens, Lores Anspannung durch amüsante Anekdoten zu vertreiben. Zwar verspürte Lore bei dem Gedanken an Malwine nach wie vor ein dumpfes Gefühl im Magen, vermochte aber zu lächeln und fand in der Nacht großen Gefallen daran, Fridolin wieder einmal ganz für sich allein zu haben.

Juliregen
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