IX.

Lore erwachte früh genug, um die vor dem Bett liegenden Kleidungsstücke ihres Mannes aufzusammeln und zu verräumen. Lächelnd lief sie ins Badezimmer hinüber, putzte sich die Zähne und wusch sich. Nachdem sie sich angezogen hatte, suchte sie als Erstes Jutta Knoppke, um sie über die neuen Pläne zu informieren.

Auch wenn die Mamsell sich wunderte, ließ sie sich nichts anmerken. »Wenn Sie heute abreisen wollen, sind noch einige Vorbereitungen zu treffen, gnädige Frau. Die Koffer müssen gepackt werden, und ich werde einen Diener zum Bahnhof schicken, um ein Abteil für Sie und Ihre Begleitung reservieren zu lassen.«

»Tun Sie das!«, sagte Lore lächelnd und ging ins Frühstückszimmer, wo Fridolin bereits in seine Zeitung vertieft war und ihr fröhliches »Guten Morgen!« mit einem kurzen Brummen beantwortete.

»Möchtest du frühstücken?«, fragte Lore freundlich.

Erneut brummte Fridolin. Sie nahm es als Zustimmung und ließ die kleine Glocke ertönen, die auf dem Tisch stand.

Kurz darauf steckte Jutta Knoppke den Kopf herein, nickte und befahl einem Diener, das Frühstück aufzutragen.

»Soll ich die gnädige Komtess wecken?«, fragte sie.

»Tu das bitte, und richte Nathalia aus, sie solle sich beeilen!«

Die Mamsell verließ eilig das Zimmer und machte zwei Bediensteten Platz, die Kaffee, Hörnchen, Butter und Marmelade brachten sowie etwas Käse und Schinken für Fridolin. Lore goss ihm Kaffee ein und schnitt eines der Brötchen auseinander.

»Möchtest du Schinken oder Käse?«, fragte sie freundlich, nachdem sie Butter aufgestrichen hatte.

Sie interpretierte sein Brummen als Schinken und legte zwei Scheiben darauf. »Lass es dir schmecken!«

Als hätten ihre Worte einen Impuls in Fridolins Gehirn ausgelöst, tastete dieser nach der Kaffeetasse und trank einen Schluck. Danach nahm er das erste halbe Brötchen und begann zu essen, ohne von seiner Zeitung aufzusehen.

»Was gibt es denn so Interessantes zu lesen, mein Brummbär?« Endlich senkte er die Zeitung und sah sie an. »Ein gewisser Emil Berliner, trotz seines Namens ein Amerikaner, hat letztens ein von ihm erfundenes Gerät vorgeführt, das er Grammophon nennt. Es soll angeblich ebenso Musik erzeugen können wie eine Kapelle.«

»Was es nicht alles gibt!«, rief Lore verwundert aus.

»Das hier könnte dich auch interessieren. Die Schriftstellerin Eugenie Marlitt ist gestorben. Du hast doch ein paar ihrer Romane gelesen.« Fridolin war nicht anzumerken, ob er diese Literatur für lesenswert hielt oder nicht. Wie die Werke etlicher anderer Schriftsteller und Schriftstellerinnen zählten auch Eugenie Marlitts Romane zu jenen, die von der kulturbeflissenen Oberschicht im besten Fall ignoriert, zumeist aber verachtet wurden. In Kreisen des Kleinbürgertums und der Dienstmädchen erfreuten sie sich jedoch großer Beliebtheit.

Lore hatte vor einigen Jahren einen von Marlitts Romanen bei ihrer Zofe Nele entdeckt und eigentlich nur ein wenig darin blättern wollen. Die Geschichte hatte sie jedoch rasch gefesselt, und so hatte sie Nele Geld zugesteckt, damit diese weitere Romane dieser Autorin besorgen konnte, und sie als Erste gelesen.

Nun bedauerte sie den Tod dieser Frau und bemerkte dann verblüfft, dass sie nicht das Geringste von ihr wusste. »Schade, ich hätte Eugenie Marlitt gerne kennengelernt. Sie schreibt so lebendig, was man von den Autoren, die en vogue sind, nicht unbedingt behaupten kann.«

»Sag das bloß nicht in der Öffentlichkeit. Man wäre entsetzt«, antwortete Fridolin mit einem Schmunzeln.

»Gut, dass du Frau Marlitt erwähnt hast. Ich muss mir unbedingt noch etwas zu lesen einpacken. Immerhin schickst du die Kinder und mich zwei Wochen länger in Urlaub als geplant!«

Es ist fast wie ein Ritual, das sich jeden Morgen wiederholt, dachte Lore. Zuerst las Fridolin schweigend die Zeitung, aber irgendwann brauchte er jemand, mit dem er über die Themen reden konnte, und das war sie.

»Ich habe leider kaum Zeit zu lesen!« Fridolin klang betrübt, ließ sich aber nicht seinen Appetit verderben, sondern aß das zweite halbe Brötchen auf.

Da stürmte Nathalia wie ein Wirbelwind herein und setzte sich. »Guten Morgen!«, rief sie, während sie zur Teekanne griff, um ihre Tasse zu füllen. Anders als Fridolin und Lore zog sie dieses Getränk dem Kaffee vor. Daher hatte Lore sich angewöhnt, ihr immer eine Kanne aufschütten zu lassen. Gelegentlich trank auch sie mit, vor allem, wenn sie unter sich waren oder bei ihrer Freundin Mary speisten.

Ein Brötchen wanderte auf Nathalias Teller. Sie bestrich es dick mit Butter und belegte es mit dem Käse, den Fridolin verschmäht hatte.

Nach dem ersten Bissen sah sie Lore neugierig an. »So, und jetzt erzähl mir, was los ist! Jutta – ich meine Frau Knoppke – klang ganz so, als würde heute noch der halbe Haushalt umziehen.«

»Der halbe Haushalt nicht, aber wir beide, Wolfi, Doro, unsere Zofen und das Kindermädchen«, erklärte Lore.

»Und wohin geht es?«, fragte Nathalia verblüfft.

»Auf dein Gut! Fridolin muss dort in der Nähe etwas erledigen und bringt uns deshalb hin. Ich hoffe, es ist dir so recht!« Lore war etwas unwohl, weil ihr Mann und sie diese Entscheidung getroffen hatten, ohne Nathalia zu fragen.

Diese kaute genüsslich ihr Käsebrötchen, bevor sie Antwort gab. »Also, ich habe nichts dagegen. Leutnant von Bukow will nämlich bereits nächste Woche zu seinem Onkel nach Nehlen reisen, und dann können wir ihn da schon besuchen.«

Nathalias Bemerkung hätte Lore beinahe dazu gebracht, die geplante Reise abzusagen. Da sie ihren Schützling kannte, wusste sie jedoch, dass Nati notfalls auf eigene Faust losfahren würde, um den Leutnant zu treffen. Aus diesem Grund tat sie so, als wäre dieser Besuch für sie nebensächlich.

»Natürlich können wir das! Allerdings erfordert die Höflichkeit, einen Boten zu Graf Nehlen zu schicken und anzufragen, ob unser Besuch auch erwünscht ist.«

»Bukow sagt, sein Großonkel frisst ihm aus der Hand. Der alte Herr ermöglicht es ihm, in Berlin stationiert zu bleiben, obwohl die Ausgaben für einen Leutnant hier exorbitant hoch sind.«

Lore wunderte sich, dass Nathalia dieser Besuch so wichtig schien, und fragte sich besorgt, ob ihrer Freundin tatsächlich so viel an Adolar von Bukow lag. Dieser sah zwar schneidig aus, hatte aber bereits zwei Duelle hinter sich, über die der Mantel des Schweigens gebreitet worden war. Zudem wurde er mit mindestens drei Damen in Verbindung gebracht, die nicht unbedingt der besten Gesellschaft angehörten. Dies Nathalia zu sagen, wäre jedoch ähnlich wirkungsvoll, wie ihr den weiteren Umgang mit dem Leutnant zu verbieten, nämlich überhaupt nicht.

Lore schluckte den Ärger, der sich in ihr breitzumachen drohte, hinunter und aß ihr halbes Brötchen auf. Hunger hatte sie mit einem Mal keinen mehr, im Gegensatz zu Nathalia, die beherzt zugriff und diesmal Kirschmarmelade als Aufstrich wählte.

»Wann brechen wir auf?«, fragte das Mädchen und wandte sich Fridolin zu. »Du gehst heute nicht mehr in die Bank?«

Fridolin schüttelte den Kopf. »Nein! Allerdings werde ich spätestens am Montag wieder nach Berlin zurückkehren. Daher kann ich euch leider nirgendwohin begleiten, denn ich reise nicht zum Vergnügen nach Steenbrook.«

»Wenigstens begleitest du uns auf der Hinfahrt«, erklärte Nathalia und wiederholte ihre Frage nach der genauen Abreisezeit.

Ein Blick auf die große Standuhr verriet Lore, dass es höchste Zeit war, das Frühstück zu beenden. »Wir sollten uns umziehen und in der Zeit den Wagen anspannen lassen. Für das Gepäck und die Kinder benötigen wir zusätzlich noch eine Droschke.«

»Ich habe bereits eine rufen lassen, gnädige Frau«, erklärte Jutta Knoppke, die gerade ins Zimmer gekommen war und Lores Bemerkung gehört hatte.

»Sehr gut! Wie steht es mit den Kindern?«

»Fräulein Agathe zieht sie gerade für die Reise an, gnädige Frau.« Jutta deutete einen Knicks an und verließ das Frühstückszimmer, um draußen dafür zu sorgen, dass alles für die Abreise der Herrschaften vorbereitet wurde.

In Lores Zimmer wartete bereits ihre Zofe Nele mit dem ausgesuchten Reisekleid auf sie. Im Nebenraum wurden die Koffer gepackt und von den Dienern nach unten geschafft. Kurz darauf war auch Lore fertig angekleidet und ging wieder hinunter.

Wie meist war Nathalia schneller gewesen als sie und sah in ihrem hellgrünen Reisekleid und dem dunkelgrünen, mit einer Federapplikation versehenen Hut einfach entzückend aus. In der Hand hielt sie einen ebenfalls grünen Sonnenschirm, und an ihrem Arm hing ein winziges grünes Täschchen.

»Willst du auf die Pirsch gehen, weil du dich in den Farben eines Waidmanns kleidest?«, fragte Lore mit einer winzigen Spur Spott.

Damit konnte sie Nathalia nicht verunsichern. »Das Grün kleidet mich, findest du nicht auch?«

»Das tut es, doch du hättest bei Schirm und Hut andere Farben wählen können. So finde ich deinen Aufzug ein bisschen arg grün.«

»Ich nicht«, antwortete Nathalia unverbesserlich und musterte nun ihrerseits Lore, die wie immer mit ausgesuchter Eleganz gekleidet war. Sie trug ein rosa Jäckchen zu einem beigen Rock, und den Kopf beschirmte ein Strohhut mit Blumenbesatz.

»Schick!«, befand Nathalia und tänzelte auf die Tür zu.

Im Flur wartete bereits das Kindermädchen mit den beiden Kleinen an der Hand. Doro riss sich beim Anblick ihrer Mutter los, stapfte auf sie zu und streckte fordernd die Arme aus.

Lore hob ihre Tochter lachend auf und gab ihr einen Kuss. »Na, mein Schatz? Jetzt fahren wir Eisenbahn. Ich hoffe, es wird dir gefallen.«

»Mir gefällt es nicht«, meldete sich Wolfi mit missmutig vorgeschobener Unterlippe. Er hatte nicht vergessen, dass ihm während der letzten Bahnreise übel geworden war. Nun klammerte er sich an das Kindermädchen und kämpfte mit den Tränen.

Da war Nathalia mit einem raschen Schritt bei ihm und zupfte ihn am Ohr. »Wenn du brav bist, bekommst du morgen zu Mittag ganz viel Nachtisch!«

»Wirklich?«, fragte Wolfi skeptisch, der seiner Erfahrung nach nie so viel Kuchen oder Pudding erhielt, wie er glaubte, essen zu können.

»Ganz großes Ehrenwort!« Nathalia hob ihn auf und trug ihn zur Tür hinaus. Lore folgte ihr, und Fridolin verließ schmunzelnd als Letzter das Haus.

Der Landauer war bereits vorgefahren. Während Lore, Nathalia und Fridolin samt den Kindern einstiegen, wurde das Gepäck in die Droschke geladen. Dort nahmen auch Fridolins Kammerdiener Kowalczyk, Lores Zofe Nele, Natis Zofe Christa und Fräulein Agathe Platz.

»Auf geht’s!«, sagte Fridolin fröhlich, als der Kutscher die Peitsche über den Köpfen der Pferde knallen ließ und diese antrabten.

Juliregen
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