XIII.

Fridolins Laune besserte sich während der Fahrt nach Berlin, und bald konnte er den Zwischenfall auf Klingenfeld von der humorvollen Seite sehen. Eine besonders heldenhafte Figur hatte er nicht gerade abgegeben. Da war es ganz gut, dass Lore und Nathalia ihn nicht hatten beobachten können. Allerdings würde er sich das unverschämte Verhalten des Verwalters kein zweites Mal bieten lassen. Mit dem festen Vorsatz, das Gut zu übernehmen und als Erstes diesen Mann auf die Straße zu setzen, erreichte er den Lehrter Bahnhof und überlegte, ob er gleich zu Grünfelder fahren und Nägel mit Köpfen machen sollte.

Auf dem Weg zum Droschkenstand entschied er sich jedoch dagegen und gab dem Kutscher seine Privatadresse an. Er wollte sich erst frisch machen und danach seine Partner aufsuchen.

Der Lärm und die Gerüche der Stadt schienen ihm nach dem kurzen Aufenthalt auf dem Land schlimmer als sonst, und er brauchte eine Weile, bis er sich wieder daran gewöhnt hatte. Es wird gut sein, Lore und die Kinder so oft wie möglich auf unser Gut zu schicken, damit sie sich in gesunder Umgebung erholen können, sagte er sich. Diese Stadt hier wurde immer mehr zum Moloch, die ihren Bewohnern ein Leben aufzwang, für das der Mensch in seinen Augen nicht geeignet war. Dabei hatten er und seine Familie es noch gut. Er mochte sich gar nicht erst vorstellen, wie es den Menschen in den lichtlosen Hinterhofwohnungen der Arbeiterviertel ging.

Als die Droschke vor seinem Haus anhielt, schob Fridolin diese Gedanken beiseite, bezahlte und nahm seinen Koffer an sich. Während der Kutscher hinter ihm seine Pferde antrieb, stieg er die Freitreppe hoch und klingelte.

Sofort öffnete ihm ein Diener und ließ ihn ein. Die Miene des Mannes wirkte so erleichtert, dass Fridolin sich verwundert fragte, was in seiner Abwesenheit vorgefallen sein mochte. Allerdings grüßte der Diener nur, übernahm sein Gepäck und verschwand damit im Haus.

An seiner Stelle trat sein Majordomus Johann Ferber auf ihn zu und verbeugte sich mustergültig. »Willkommen zu Hause, Herr Graf!«

»Sie hören sich an, als wäre ich wochenlang weggewesen«, antwortete Fridolin lachend.

»Wir haben einen Gast im Haus, einen sehr anspruchsvollen, wie ich hinzufügen möchte«, erklärte sein Hausverwalter.

»Einen Gast?« Fridolins Gedanken rasten. Die Herren, die er kannte, verfügten entweder selbst über einen Wohnsitz in Berlin oder über genug Geld, um im Adlon oder in vergleichbaren Hotels zu logieren.

»Es handelt sich um Ihren Verwandten, den Freiherrn Ottwald von Trettin. Er erschien an dem Tag, an dem der Herr Graf mit seiner Gemahlin, der Komtess Retzmann und den jungen Herrschaften aufgebrochen ist, und wollte hier auf den Herrn Grafen warten.«

»Ottwald!« Fridolin bleckte in unbewusster Abwehr die Zähne.

Malwines und Ottokars Sohn war nicht gerade der Gast, den er unter seinem Dach zu dulden gedachte. Schon wollte er Ferber fragen, weshalb dieser Ottwald überhaupt eingelassen habe, erinnerte sich aber früh genug daran, dass Lore und er den Streit mit den Trettiner Verwandten nicht an das Personal weitergetragen hatten. Sein Hausverwalter konnte daher nicht wissen, wie wenig willkommen der Freiherr auf Trettin ihm war.

»Ist gut, Ferber! Ich werde mich darum kümmern. Sorgen Sie dafür, dass ich etwas zu essen bekomme. Reisen macht hungrig, vor allem, wenn der Zug nirgends lange genug hält, um unterwegs speisen zu können.«

»Sehr wohl, Herr Graf! Darf ich mir erlauben zu fragen, wann der Kammerdiener des Herrn Grafen eintreffen wird?«

»Ich habe Kowalczyk nach Bremen geschickt, um Herrn Simmern wichtige Unterlagen zu überbringen. Er wird morgen eintreffen. Bis dahin werde ich hoffentlich ohne Kammerdiener auskommen.«

»Ich stehe dem Herrn Grafen selbstverständlich auch in dieser Funktion zur Verfügung.« Ferber verbeugte sich noch einmal und ging gemessenen Schrittes davon.

Unterdessen überlegte Fridolin, wie er seinem Neffen begegnen sollte. Da ihm Streit zuwider war, beschloss er, sich anzuhören, was Ottwald von Trettin zu sagen hatte, und sich dann zu entscheiden. Mit diesem Vorsatz betrat er seine Zimmerflucht, machte sich frisch und kleidete sich um. Als er eine Viertelstunde später in den kleinen Speisesalon trat, stand dort ein üppiger Imbiss für ihn bereit.

Allerdings blieb ihm nicht die Zeit, in Ruhe zu essen, denn schon bald hörte er die Türglocke fordernd bimmeln, und kurz darauf trat sein Neffe in den Raum.

»Guten Tag, Oheim!«, grüßte dieser und reichte dem Diener, der ihm gefolgt war, Hut und Stock.

»Guten Tag, Neffe!« Fridolin betrachtete den jungen Mann, der immer noch kaum eine Ähnlichkeit mit dessen Vater aufwies. War Ottokar ein eher grobschlächtig wirkender Mann mit einem breiten, meist hochroten Kopf gewesen, so sah er nun einen schlanken Schönling vor sich, der selbst Leutnant Bukow in den Schatten stellte. Ottwalds kalt blickende Augen bewiesen jedoch, dass er zwar hübsch, aber gewiss nicht weich war.

»Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise, Oheim«, eröffnete Ottwald das Gespräch.

»Danke der Nachfrage, ich kann nicht klagen!« Fridolin war nicht bereit, seinem Neffen auch nur einen Schritt entgegenzukommen. Nach Ottwalds Auftritt bei ihrem letzten Zusammentreffen fragte er sich misstrauisch, welchen Grund sein Neffe hatte, unangemeldet bei ihm aufzutauchen.

»Sie werden sicher wissen wollen, was mich nach Berlin führt«, fuhr Ottwald fort.

»Sie sind seit vier Jahren Ihr eigener Herr und können tun und lassen, was Sie wollen. Mir sind Sie keine Rechenschaft mehr schuldig.«

Einem Kunden in der Bank hätte Fridolins Tonfall signalisiert, dass sein Kreditwunsch abschlägig beschieden worden war. An seinen Neffen war diese Andeutung jedoch verschwendet.

»Es geht um Trettin«, erklärte Ottwald. »Es gab einen großen Brand, und dabei wurde die Scheuer zerstört.«

»Wie ich eben schon sagte, bin ich seit vier Jahren nicht mehr Ihr Vormund und habe, wie Sie mir selbst unmissverständlich klargemacht haben, mit Gut Trettin nichts mehr zu schaffen.«

Ottwald stemmte sich mit beiden Händen auf den Tisch und sah seinen Onkel durchdringend an. »Das glaube ich doch! Immerhin wird auch Ihr Name in Mitleidenschaft gezogen, wenn es heißt, Gut Trettin sei verkracht. Die Leute würden sich fragen, was Sie als mein Vormund und Sachwalter unternommen haben, dass es dazu gekommen ist!«

»Soll das eine Drohung sein?«, fragte Fridolin mit einem Lächeln, das allen, die ihn besser kannten, geraten hätte, den Rückzug anzutreten.

Aber Ottwald ignorierte die Warnung. »Es geht um den guten Namen derer von Trettin. Das sollte Ihnen einen Griff in Ihre Geldbörse wert sein, lieber Onkel. Immerhin sind Sie ein erfolgreicher Bankier und wollen doch nicht, dass es heißt, man könne Ihnen nicht mehr vertrauen.«

Dieser Lümmel ist nicht nur dreist, sondern unverschämt, stellte Fridolin erbost fest, und er war weniger denn je bereit, etwas für die Verwandtschaft auf Trettin zu tun. »Wenn Sie gehofft haben, von mir Geld zu erhalten, lieber Neffe, sind Sie umsonst nach Berlin gekommen. Das Tischtuch zwischen Ihnen und Ihrer Mutter sowie mir und meiner Familie ist seit langem zerschnitten. Ich schlage vor, dass Sie dieses Haus verlassen und sich zu einem Ihrer gewiss zahlreichen Freunde begeben. Zudem frage ich mich, weshalb eine niedergebrannte Scheune Sie so in Schwierigkeiten bringt. Ich habe schließlich dafür gesorgt, dass Ihr Besitz gut versichert ist. Wenden Sie sich an die Berlinische Feuer-Versicherungs-Anstalt, wenn Sie Geld haben wollen. Bei mir sind Sie am falschen Ort.«

Das war an Deutlichkeit nicht zu überbieten. Ottwald verzog das Gesicht jedoch zu einer höhnischen Grimasse. »Was würden Ihre Geschäftspartner und Kunden dazu sagen, wenn die Rechnungsbücher in Trettin beweisen, dass Sie zu Unrecht Geld abgezogen haben?«

Fridolin widerstand nur mit Mühe der Versuchung, den Hausknecht zu rufen und den impertinenten Burschen auf die Straße setzen zu lassen. »Sie können es versuchen, lieber Neffe. Nur habe ich in weiser Voraussicht die Rechnungsbücher Ihres Gutes kopieren und notariell beglaubigen lassen. Es ist mir daher ein Leichtes, in die Zeitungen zu setzen, dass ich für die Schulden meines Neffen zweiten Grades, des Gutsherrn Ottwald von Trettin auf Trettin, nicht aufzukommen gedenke. Was die Rechnungsbücher betrifft, können wir diese Sache gerne vor Gericht ausfechten!«

Da Ottwald wusste, dass die Bücher während Fridolins Vormundschaft exakt geführt worden waren, und eine gerichtliche Untersuchung ergeben würde, dass seine Mutter und sein Verwalter Geld unterschlagen hatten, konnte er sich einen Prozess nicht leisten. Doch nun fielen ihm die Aussprüche Ermingarde Klampts und deren Sohnes Gerhard über das Vermögen der Komtess Retzmann ein.

»Vielleicht reden Sie anders, wenn bekannt wird, dass Ihr Vermögen aus dem Besitz jenes kleinen Mädchens stammt, dessen Besitz Sie und dieser Simmern aus Bremen verwaltet haben. Es gibt Beweise …«

Weiter kam Ottwald nicht, denn jetzt stand Fridolin auf und wies ihm mit eisiger Miene die Tür.

»Sie werden umgehend dieses Haus verlassen. Wenden Sie sich an Ihre Freunde oder die Ihrer Mutter, wenn Sie Hilfe brauchen. Von mir erhalten Sie keinen einzigen Groschen!«

Ottwald starrte ihn an und begriff erst nach und nach, dass es seinem Onkel mit diesen Worten vollkommen ernst war. Mit einem gezischten Fluch stieß er sich vom Tisch ab und funkelte Fridolin feindselig an. »Da ist das letzte Wort noch nicht gesprochen, das schwöre ich Ihnen!«

»Hinaus! Sonst nehme ich die Reitpeitsche und mache Ihnen Beine. Ferber, lassen Sie den Koffer dieses Herrn auf die Straße stellen. Er wird dieses Haus nicht mehr betreten.«

»Sie … Ich …« Ottwald von Trettin ballte die Fäuste und ging ein paar Schritte auf Fridolin zu. Doch bevor er handgreiflich werden konnte, waren Johann Ferber und zwei Bedienstete bei ihm.

»Sie haben den Herrn Grafen gehört. Gehen Sie jetzt, sonst sehen wir uns gezwungen nachzuhelfen!« Da der Hausverwalter so aussah, als würde er sich genau das wünschen, zog Ottwald wutschnaubend ab.

Ferber befahl einem Diener, dafür zu sorgen, dass der Koffer des Gastes gepackt wurde, und wandte sich anschließend an seinen Herrn. »Erlauben mir, Herr Graf, meiner Erleichterung Ausdruck zu geben.«

»Wie meinen?«, fragte Fridolin, dessen Gedanken sich noch immer um die Drohungen seines Neffen drehten.

»Freiherr von Trettin hat sich in den drei Tagen seines Hierseins als äußerst anstrengender Gast erwiesen. Er wollte den besten Wein und den wertvollsten Champagner aus Ihrem Keller kredenzt und die köstlichsten Leckerbissen aufgetischt bekommen. Außerdem hat er, wenn ich das erwähnen darf, dem Dienstmädchen Luise nachgestellt und es durch die Verabreichung von Champagner, Austern und Kaviar dazu gebracht, ihm unschickliche Dinge zu erlauben. Wenn Sie gestatten, werde ich dieses Frauenzimmer umgehend entlassen und die Arbeitsvermittlerin auffordern, uns eine andere Kraft zu schicken.«

»Ist das nicht eine etwas harte Strafe für ein Glas Champagner und ein Löffelchen Fischrogen? Von dem anderen wollen wir lieber gar nicht erst sprechen«, sagte Fridolin.

Sein Hausverwalter erinnerte sich daran, wie knapp er und Nele, Lores jetzige Zofe, vor etlichen Jahren der Entlassung entgangen waren, und zuckte zusammen. »Es tut mir leid, Herr Graf. Ich wollte nicht …«

»Es ist schon gut, Ferber! Halten Sie dem Mädchen eine Gardinenpredigt und lassen es arbeiten. Es wird diesen Fehler nicht wiederholen.«

»Gewiss nicht, Herr Graf. Wenn Herr Graf erlauben, werde ich diesem Geschöpf mitteilen, wie knapp es einer schmachvollen Rückkehr zu seiner Arbeitsvermittlerin entgangen ist.«

»Tun Sie das, Ferber.« Fridolin vergaß die leichtsinnige Dienerin in dem Augenblick, in dem sein Hausverwalter das Zimmer verlassen hatte. Stattdessen dachte er sorgenvoll an seinen Neffen, der gewiss alles daransetzen würde, Geld aus ihm herauszupressen. In der Hinsicht war Ottwald nicht besser als sein Vater, der Lores Eltern und deren Geschwister auf dem Gewissen hatte. Und da war auch noch Malwine, seine und Lores erbitterte Feindin. Wie es aussah, würde er in Zukunft noch mehr auf seine Familie achtgeben müssen.

Juliregen
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