V.

Lore war ein wenig enttäuscht, weil Fridolin über Nacht ausgeblieben war und auch am Morgen nicht auftauchte. Aber sie tröstete sich damit, dass er gewiss interessante Neuigkeiten mitbringen würde. Seit sie sich auf Nathalias Gut befand, ging ihr Klingenfeld nicht mehr aus dem Kopf. In den letzten Jahren hatte sie sich immer wieder einen kleinen Landsitz in der Nähe von Berlin gewünscht, manchmal aber auch Sehnsucht nach Ostpreußen empfunden und überlegt, ob sie nicht dort einen Bauernhof erwerben und für ihre Zwecke umbauen sollte.

Ein Gutshof von der Größe Klingenfelds hatte jedoch weit jenseits ihrer Vorstellungen gelegen. Nun freundete sie sich immer mehr mit dem Gedanken an, den Sommer auf einem solchen Besitz zu verbringen und vielleicht sogar reiten zu lernen. Auch Wolfi und Doro würde es dort gewiss gefallen.

Nach dem Mittagessen ließ Nathalia einen leichten Wagen vorfahren und ihre Stute satteln. Da erst spürte Lore, wie nervös sie war. Sie hatte inzwischen vom Verwalter erfahren, dass Fridolin ebenfalls nach Nehlen gefahren war, und hoffte, ihn dort noch anzutreffen. Daher beeilte sie sich, auf den Wagen zu steigen, nahm Doro auf den Schoß und setzte Wolfi zu ihrer Seite. Das Kindermädchen nahm gegen die Fahrtrichtung Platz und behielt die beiden Kleinen im Auge, um sie jederzeit ihrer Herrin abnehmen zu können. Auch Agathe war recht aufgeregt, denn in Berlin hatte sie ihre Gräfin nur selten bei einer Ausfahrt begleiten dürfen.

»Auf geht’s!« Nathalia schwang sich fröhlich auf Frühlingsmaid und trabte an. Drewes folgte ihr mit dem Wagen, und nun ging es ein ganzes Stück über Land.

Lore freute sich über den Anblick der Dörfer am Wegesrand, deren Häuser aus Klinkersteinen bestanden und sehr gepflegt wirkten. Auch gab es immer wieder große Bauernhöfe und von Zeit zu Zeit einen Gutshof mit ausgedehnten Wirtschaftsgebäuden und Dutzenden von Knechten und Mägden, die auf den Feldern und Wiesen arbeiteten. Gelegentlich trafen sie auf einen anderen Wagen, und es kostete die Kutscher etliches an Zeit und Können, um auf der schmalen Straße aneinander vorbeizufahren. Allerdings benahmen die Männer sich erstaunlich manierlich und fluchten im Gegensatz zu den Fuhrleuten in Berlin nur selten.

Dennoch konnte Lore den Ausflug kaum genießen. Eine unerklärliche Ungeduld hatte von ihr Besitz ergriffen. Als die Gruppe Nehlen endlich erreicht hatte und sie unter dem Vordach der Remise die kleine Kutsche stehen sah, mit der Fridolin aufgebrochen war, atmete sie erleichtert auf.

»Neugierig, was?«, spottete Nathalia, die das letzte Stück neben dem Wagen geritten war. Sie trug ein fliederfarbenes Reitkleid aus Marys Salon und einen dunkelblauen Hut, der wie ein Herrenzylinder mit einem hellblauen Schleier aussah. Obwohl sie im Damensattel einen vorzüglichen Anblick bot, stöhnte sie, als ein Knecht sie vom Pferd gehoben hatte.

»Ich weiß nicht, weshalb man als Frau so reiten muss, während Herren weitaus sicherer in ihren Sätteln sitzen. Ich werde mir für den Aufenthalt hier ebenfalls einen solchen Sattel zulegen und Reithosen anfertigen lassen!«

»Aber Liebes, das darfst du nicht! Die Leute wären schockiert, wenn sie dich so sehen würden«, rief Lore erschrocken aus.

Ihre Freundin winkte lachend ab. »Warum sollte ich Konventionen beachten, die nicht nur sinnlos, sondern sogar gefährlich sind? Im Herrensitz zu reiten erachte ich für weitaus sicherer, als auf einer Seite des Pferdes zu hängen. Mir ist mein rechtes Bein eingeschlafen! Hätte Frühlingsmaid auf den letzten Kilometern gescheut, wäre ich aus dem Sattel gestürzt.«

Lore nahm sich vor, darauf zu dringen, dass ihre Freundin zumindest bei Besuchen so auf dem Pferd saß, wie es sich für eine Dame geziemte. Sie hatte allerdings keine Zeit, lange darüber nachzudenken, denn die Tür wurde geöffnet, und Fridolin sah sie entgeistert an. »Lore, du?«

»Da staunst du, was?«, antwortete Nathalia anstelle ihrer Freundin. »Aber Graf Nehlen ist ein alter Bekannter von mir, und da habe ich mir gedacht, wir besuchen ihn heute.«

In dem Moment trat der Gutsherr aus dem Haus. Zuerst wirkte er etwas verwundert, dann aber begrüßte er die neuen Gäste erfreut. »Na, wenn das nicht die kleine Komtess ist, die mir dieses Prachtmädel von Pferd weggeschnappt hat. Willkommen auf Nehlen! Es ist nett von Ihnen, dass Sie einen alten Hagestolz wie mich besuchen kommen. Bei so schönen Damen fühle ich mich direkt wieder jung!«

Er reichte Nathalia den Arm und blickte wohlgefällig auf die um einiges kleinere, agile junge Frau herab.

Unterdessen war Fridolin zum Wagen getreten, um Lore herabzuhelfen. Doch sie reichte ihm Wolfi und stieg allein hinab. Fräulein Agathe folgte ihr mit Doro auf dem Arm.

»Das ist ja ein richtiger Familienausflug«, sagte Fridolin lachend und stellte seinen Sohn auf den Boden. »Du bist alt genug, um auf eigenen Beinen zu stehen.«

»Aber Doro wird getragen!«, antwortete der Kleine missmutig.

»Die ist auch kleiner als du. Außerdem ist sie ein Mädchen.«

»Trägst du Mama auch?«, fragte der Junge.

»Gelegentlich tue ich das.« Fridolin zwinkerte Lore zu, nahm seinen Sohn bei der Hand und half ihm die Freitreppe hinauf.

Kurz darauf saßen alle in dem Raum, in dem Nehlen am Vortag Fridolin empfangen hatte. Diesmal aber befahl er einem Diener, die Petroleumlampen anzuzünden, damit es für die Damen hell genug war.

»So etwas Neumodisches wie elektrischen Strom haben wir hier nicht. Ich weiß auch nicht, ob ich den will. Was kann man denn schon damit tun? Zum Leuchten reichen Petroleumlampen und für festliche Anlässe Kerzen. Dafür braucht es keine Masten und kein Elektrizitätswerk.«

Obwohl Fridolin bei festlichen Anlässen ebenfalls Kerzenlicht bevorzugte, sah er sich genötigt, die Elektrizität zu verteidigen.

»Man sollte sich nicht gegen die modernen Zeiten stemmen, Nehlen. Ich bin sicher, dass die Elektrizität noch eine sehr große Rolle spielen wird. In Berlin treibt sie auf einigen Linien bereits die Straßenbahn an, und als Straßenbeleuchtung ist elektrisches Licht auch heller als die alten Gaslaternen. Vor allem aber kann Elektrizität nicht aus ihren Leitungen entweichen und durch einen Funken entzündet werden, wie dies bei Gas der Fall ist. Zudem werden auch schon Maschinen statt mit Dampf mit Elektrizität angetrieben, und es ist möglich, dass ich eine solche Einrichtung für die Konservenherstellung benötige.«

»Für Berlin oder eine Fabrik lasse ich das gelten. Aber hier auf unseren Gütern reicht das, was wir haben! Nun aber sollten wir uns um die Damen kümmern! Ihnen hat die Fahrt gewiss Appetit gemacht. Zuvor werden wir eine Kleinigkeit trinken. Schließlich kommen selten so hübsche Frauen zu mir zu Besuch.«

Der Graf lachte erneut und schenkte zwei Cognacs für sich und Fridolin sowie Gläser leichten Likörs für Lore und Nathalia ein. Sein Blick streifte Agathe, und er nahm ein weiteres Glas aus dem Schrank.

»Das Frauenzimmer hier kann auch mittrinken. Soll nicht heißen, der alte Nehlen lässt jemand dürsten.«

»Wolfi will auch trinken!« Der Junge griff nach dem Glas, das der Graf für sein Kindermädchen vorgesehen hatte, doch Nehlen war schneller.

»Aber Junge, du wirst doch nicht das Zeug trinken, das für die Frauen gedacht ist. Ein echter Mann braucht etwas anderes.«

»Ja, braucht er!«, sagte Wolfi und nickte heftig.

Nehlen zerzauste ihm lächelnd den hellen Schopf und füllte ihm dann aus einer unbeschrifteten Flasche eine dunkle Flüssigkeit in ein Schnapsglas. Da auch Doro sehr deutlich machte, dass sie etwas haben wollte, erhielt sie ein Gläschen aus einer anderen Flasche, deren Inhalt hellrot leuchtete.

»Lasst es euch schmecken!«, sagte der alte Graf grinsend.

»Was ist das?«, fragte Lore misstrauisch.

»Schwarzer und roter Johannisbeersaft«, erklärte ihr Gastgeber. »Ich mische ihn gelegentlich mit etwas Korn.«

Er lächelte, als wäre ihm eine gute Idee gekommen, füllte zwei etwas größere Gläser halb mit dem schwarzen Johannisbeersaft, gab einen kräftigen Schuss Schnaps dazu und schob eines davon Fridolin zu. »Auf unsere Gespräche! Und wie versprochen, können Sie jederzeit auf mich zählen.«

»Danke!« Fridolin stieß mit seinem Gastgeber, aber auch mit Wolfi an, der sehr stolz war, bei den Erwachsenen sitzen zu dürfen. Während er trank, sah er Lores fragenden Blick auf sich ruhen. Ihm war klar, dass sie vor Neugier beinahe platzte. Allerdings fragte er sich, wie er ihr alles erklären sollte. Sie waren gekommen, um sich Klingenfeld anzusehen, doch so, wie es aussah, würde er diese Gegend nicht nur als frischgebackener Gutsherr, sondern auch als zukünftiger Fabrikant verlassen. Das aber würde in den nächsten Jahren Opfer von ihnen verlangen, von denen er nicht wusste, ob er sie Lore und den Kindern zumuten konnte.

Graf Nehlen bemerkte Lores Interesse ebenfalls, doch als Mann alter Schule hielt er nichts davon, geschäftliche Dinge in der Gesellschaft von Frauen zu besprechen. Stattdessen fragte er Nathalia nach deren Stute aus, bekannte, dass es ihn immer noch ärgerte, bei jener Pferdeauktion einen Augenblick unachtsam gewesen zu sein, und erzählte schließlich, dass er seine drei Neffen erwartete.

»Die Kerle sollen zeigen, was sie wert sind!«, erklärte er in einem entschiedenen Tonfall. »Es sind die Urenkel dreier Schwestern meines Vaters und damit meine nächsten Verwandten. Einem werde ich dieses Gut hier hinterlassen. Brauchen könnte es jeder von ihnen, denn keine der Familien ist reich. Ich habe meinen Verwandten bislang immer wieder einmal mit einem kleinen Zuschuss ausgeholfen, wenn Not am Mann war.«

Normalerweise gehörte es sich nicht, solche Familieninterna preiszugeben, und somit ahnte Lore, dass Graf Nehlen die Macht über seine Sippe, die sein Reichtum ihm verlieh, genoss. Beinahe bedauerte sie die drei jungen Männer, die sich nun seiner gestrengen Prüfung stellen mussten, hoffte aber gleichzeitig, dass Leutnant von Bukow nicht derjenige sein würde, der die Siegespalme davontrug.

Während Lore darüber nachsann, wandte Nathalia sich mit einem feinen Lächeln an Nehlen. »Einen Ihrer Neffen kenne ich aus Berlin. Herr von Bukow ist ein schneidiger Offizier, will ich meinen.«

Der Kopf des alten Grafen ruckte herum, und er betrachtete Nathalia durchdringend. »Sie kennen meinen Großneffen Adolar?«

»Wir haben uns bei einigen gesellschaftlichen Anlässen getroffen und gelegentlich miteinander getanzt. Ich glaube, ich kann mir schmeicheln, dass sein Interesse in erhöhtem Maße meiner Person gilt«, berichtete Nathalia freundlich.

Lore hätte sie ohrfeigen können. Dieses verrückte Mädchen tat beinahe so, als habe Adolar von Bukow bereits versprochen, um ihre Hand anzuhalten. Ihr Gastgeber schien es ähnlich zu sehen, denn er unterzog Nathalia einem kurzen Verhör, wie sie denn dieses oder jenes sähe. Das kleine Biest, wie Lore für sich schimpfte, antwortete so geschickt, dass Graf Nehlen mehrmals beifällig nickte. Als Nathalia erwähnte, dass Bukow sie gebeten hatte, ihn hier auf dem Gut zu besuchen, war er Feuer und Flamme.

»Ein exzellenter Gedanke! Ich hoffe, Sie befolgen ihn auch, Komtess. Frau Gräfin, Sie sind natürlich auch herzlich eingeladen.«

Letzteres galt Lore, die ihren Unmut kaum mehr verbergen konnte. »Ich danke Ihnen, Graf Nehlen. Allerdings könnte Nathalia ohne mich ohnehin nicht kommen. Oder ist es in diesen Landstrichen üblich, dass ein unverheiratetes Mädchen ohne Anstandsdame zu Besuch erscheint?«

»Bei guten Nachbarn ist dies möglich, und ich hätte auch nichts dagegen. Aber ich will Ihr Gemüt nicht belasten. Außerdem genieße ich fröhliche Gesellschaft und würde mich freuen, den jungen Herrn und die kleine Dame hier ebenfalls wieder begrüßen zu können.«

Dies entwaffnete Lore, und sie dankte ihm mit einem Lächeln. »Nicht jeder Herr ist über Kinder erfreut, denn sie können manchmal recht laut sein und sogar bocken.«

Der Gutsherr tat diesen Einwand brummend ab. »Wer sich daran stört, hat vergessen, dass er selbst einmal ein Kind war! Auf jeden Fall hoffe ich, Sie und Komtess Nathalia bald wieder hier begrüßen zu dürfen. Sobald Ihr Ehemann seine Pflichten in Berlin erfüllt hat und ebenfalls aufs Land kommt, um Ferien zu machen, wird er hoffentlich öfter hier zu Gast sein. Vielleicht sehen Sie ihn sogar häufiger hier als drüben in Steenbrook.«

Nehlen lachte dröhnend und zwinkerte Fridolin auf eine Weise zu, die Lore wünschen ließ, endlich zu erfahren, was die beiden miteinander besprochen hatten.

Juliregen
cover.html
haupttitel.html
chapter1.html
chapter2.html
chapter3.html
chapter4.html
chapter5.html
chapter6.html
chapter7.html
chapter8.html
chapter9.html
chapter10.html
chapter11.html
chapter12.html
chapter13.html
chapter14.html
chapter15.html
chapter16.html
chapter17.html
chapter18.html
chapter19.html
chapter20.html
chapter21.html
chapter22.html
chapter23.html
chapter24.html
chapter25.html
chapter26.html
chapter27.html
chapter28.html
chapter29.html
chapter30.html
chapter31.html
chapter32.html
chapter33.html
chapter34.html
chapter35.html
chapter36.html
chapter37.html
chapter38.html
chapter39.html
chapter40.html
chapter41.html
chapter42.html
chapter43.html
chapter44.html
chapter45.html
chapter46.html
chapter47.html
chapter48.html
chapter49.html
chapter50.html
chapter51.html
chapter52.html
chapter53.html
chapter54.html
chapter55.html
chapter56.html
chapter57.html
chapter58.html
chapter59.html
chapter60.html
chapter61.html
chapter62.html
chapter63.html
chapter64.html
chapter65.html
chapter66.html
chapter67.html
chapter68.html
chapter69.html
chapter70.html
chapter71.html
chapter72.html
chapter73.html
chapter74.html
chapter75.html
chapter76.html
chapter77.html
chapter78.html
chapter79.html
chapter80.html
chapter81.html
chapter82.html
chapter83.html
chapter84.html
chapter85.html
chapter86.html
chapter87.html
chapter88.html
chapter89.html
chapter90.html
chapter91.html
chapter92.html
chapter93.html
chapter94.html
chapter95.html
chapter96.html
chapter97.html
chapter98.html
chapter99.html
chapter100.html
chapter101.html
chapter102.html
chapter103.html
chapter104.html
chapter105.html
chapter106.html
chapter107.html
chapter108.html
chapter109.html
chapter110.html
chapter111.html
chapter112.html
chapter113.html
chapter114.html
chapter115.html
chapter116.html
chapter117.html
chapter118.html
chapter119.html
chapter120.html
chapter121.html
chapter122.html
chapter123.html
chapter124.html
chapter125.html
chapter126.html
chapter127.html
chapter128.html
chapter129.html
chapter130.html
chapter131.html
chapter132.html
info_autor.html
info_buch.html
impressum.html
hinweise.html