IV.
In einem gelang es Lore dann doch, sich durchzusetzen. Zwar hatte Volkmar Zeeb nichts dagegen, dass seine Herrin die Zügel übernahm, schlug aber vor, dass der Kutscher Drewes sich hinten auf den Platz des Grooms stellte, um jederzeit eingreifen zu können. Nathalia blies zwar die Backen auf, akzeptierte diese Lösung jedoch um des lieben Friedens willen, wie sie sagte.
Sie und Lore gaben ein hübsches Bild ab. Nathalia hatte ein eisblaues Kleid gewählt, das ihr einen kühlen Anstrich verlieh, und im Gegensatz dazu hatte Lore sich für einen warmen Gelbton entschieden, der ihr ausgezeichnet stand und von dem sie behauptete, er ließe sie jünger erscheinen.
Nathalia tippte sich an die Stirn. »Jünger? Jetzt tu nicht so, als wärst du schon Großmutter! Bis Wolfi und Doro einmal so weit sind, dich dazu zu machen, wird noch einiges Wasser die Weser hinab in die Nordsee fließen.«
»Immerhin werde ich nächstes Jahr achtundzwanzig«, wandte Lore ein. »Wilhelmine ist ein Jahr jünger als ich und wirkt bereits wie eine Matrone.«
»Die Frau futtert einfach zu viele Süßigkeiten und bewegt sich so gut wie gar nicht. Würden wir genauso viel naschen wie Grünfelders Tochter, gingen wir auch aus dem Leim!« Nathalia war stolz auf ihre schlanke Figur und fand, dass auch Lore ausgezeichnet aussah. Was Wilhelmine von Dohnke betraf, würde diese bereits in wenigen Jahren wie eine jüngere Ausgabe ihrer breit gebauten Mutter wirken.
»Wir sollten aufbrechen!« Nathalia stieg auf den Wagen und nahm von Drewes die Zügel entgegen. »Setz dich doch«, sagte sie zu Lore. Während diese der Aufforderung folgte, nahm auch Drewes seinen Platz ein und zwinkerte Nathalia zu.
»Na, Komtess, dann zeigen Sie mal, wie gut ich Ihnen das Kutschieren beigebracht habe. Aber werfen Sie mich nicht wieder in den Graben wie beim letzten Mal!«
»Daran war das Schlagloch schuld, welches ich nicht früh genug erkennen konnte«, antwortete Nathalia lachend und hob die Peitsche.
Der schwarze Wallach lief los, sobald er den Luftzug der Peitschenschnur über seinen Ohren spürte. Nathalia gab ihm den Kopf frei, und so trabte das wuchtige Tier mit den großen Hufen und der auffälligen Fesselbehaarung im schnellen Tempo aus dem Hof und lief den Weg zur Landstraße entlang. Da die Straße unbefestigt und nicht ganz eben war, schwankte das Gig so, dass Lore sich festhalten musste.
»Müssen wir so rasch fahren?«, fragte sie Nathalia.
Diese schüttelte lachend den Kopf. »Nein, nötig ist es nicht, aber es macht Spaß. Pass auf deinen Hut auf, sonst weht es ihn noch davon!«
Erneut tanzte die Peitschenschnur über den Ohren des Wallachs, und dieser griff noch stärker aus. Jetzt musste Lore sich mit einem Arm an den Wagen klammern und das luftige Gebilde auf ihrem Kopf mit der freien Hand festhalten. Als sie sich kurz umdrehte, sah sie Drewes breit lächeln. Offenbar hatte er Spaß daran, seine Schülerin so schneidig fahren zu sehen.
»Wenn Sie wollen, Komtess, läuft der Wallach in diesem Tempo bis Nehlen«, rief er Nathalia zu.
Diese lachte erneut, schüttelte dann aber den Kopf. »Ich will ihn nicht zu sehr erschöpfen, sonst kann er auf dem Heimweg nur noch kriechen.«
»Der nicht«, antwortete der Kutscher ein wenig gekränkt, schließlich war das Wagenpferd von ihm ausgebildet worden.
Nathalia bog knapp vor einem Heufuhrwerk auf die Landstraße ein und überholte kurz darauf einen anderen Wagen so scharf, dass Lore schon glaubte, das Gig würde ihn streifen. Doch Nathalia gelang das Kunststück, sowohl dem anderen Gefährt auszuweichen wie auch so knapp am Straßengraben vorbeizufahren, dass zwar ein Teil des Rades überragte, aber nicht abrutschte. Gleich darauf hatten sie wieder freie Bahn, und der Wallach trabte übermütig vor dem kleinen Wagen dahin.
»Das war schneidig, Komtess«, lobte Drewes, obwohl er ebenso wie Lore für einen Moment den Atem angehalten hatte.
»Das ist auch kein Wunder. Immerhin hast du mich kutschieren gelehrt«, gab Nathalia das Kompliment zurück und wies dann mit dem Kopf auf Lore. »Du wirst auch Gräfin Trettin darin unterrichten müssen, Drewes.«
»Wenn Komtess es wünschen.« Drewes zeigte sich nicht übermäßig begeistert, denn er hielt Lore für eine der Stadtdamen, in deren Augen ein Pferd ein wildes Raubtier war, das nur von einem todesmutigen Kutscher gebändigt werden konnte.
Lore wollte schon ablehnen, dachte aber im nächsten Moment, dass Nathalia sie als feige verspotten würde, und sagte mit zusammengebissenen Zähnen: »Es würde mich freuen.«
Während der nächsten Kilometer fand sie jedoch tatsächlich zunehmend Gefallen an der Ausfahrt. Noch während sie darüber nachsann, hörte sie Nathalia leise schimpfen.
»He, kannst du nicht zur Seite fahren?«, rief die Komtess schließlich laut, doch der Lenker des Fuhrwerks vor ihnen blieb mitten auf der Straße, so dass nicht einmal Nathalia ein Überholmanöver wagte.
»Dem Kerl sollte man die Peitsche um die Ohren schlagen!« Nathalia schnaubte zornig, doch blieb ihr nichts anderes übrig, als den Wallach zu zügeln und hinter dem anderen Wagen herzufahren. Kaum war der Weg nach Nehlen erreicht, gab sie dem Rappen wieder den Kopf frei und bog schließlich in forschem Tempo auf die Allee zum Gutshof ein.
Auf dem Vorplatz standen bereits etliche Kutschen und Fuhrwerke. Nathalia bremste im letzten Moment, warf Drewes die Zügel zu und sprang leichtfüßig vom Wagen. Lore zögerte jedoch, denn sie hatte bereits gesehen, dass nicht nur Graf Nehlen, Leutnant Bukow und Jürgen Göde vor dem Gutshaus standen, sondern ein weiterer Herr im grünen Lodenanzug sowie mehrere Frauen, in denen sie auf den zweiten Blick Rodegard von Philippstein und deren Tochter Gottlobine erkannte. Die verkniffene Miene der älteren Frau zeigte deutlich, wie wenig sie von Nathalias Fahrkünsten hielt.
Lore seufzte. Wie sie Frau Rodegard kannte, würde diese nach ihrer Rückkehr nach Berlin nach Strich und Faden über Nathalia herziehen. Während Lore noch darüber nachsann, wie es die beiden Großstadtdamen hierher verschlagen haben mochte, trat Graf Nehlen auf Nathalia zu und reichte ihr die Hand. »Willkommen, Komtess! Es freut mich, Sie hier zu sehen, und Sie natürlich auch, Gräfin Trettin!«
Mit den Worten trat er an das Gig und reichte Lore die Hand, um ihr beim Aussteigen zu helfen. Lore lächelte den alten Herrn warmherzig an. »Danke, Graf Nehlen! Wir dachten, an einem so schönen Tag wäre ein Ausflug hierher genau das Richtige.«
»Vor allem, weil die beiden Neffen heute eingetroffen sind«, raunte Rodegard von Philippstein ihrer Tochter verärgert zu. Sie hatte eine entfernte Verwandtschaft zu Grimbert von Nehlen zum Anlass genommen, sich selbst einzuladen, denn sie beabsichtigte, jenen Großneffen, der einmal der Erbe des Grafen sein würde, als Ehemann für ihre älteste Tochter zu gewinnen. Umso mehr ärgerte sie sich, Nathalia von Retzmann hier auftauchen zu sehen. Die Komtess war nicht nur um einiges hübscher als Gottlobine, sondern besaß auch ein Vermögen, das selbst den ehrenwertesten Mann dazu bewegen mochte, die vielen Fehler dieses Frauenzimmers zu übersehen.
Ihren schwarzen Gedanken zum Trotz begrüßte sie Lore scheinbar erfreut, sah dann aber Nathalia missbilligend an. »Ich finde es bereits bei einem Herrn äußerst ungehörig, mit seinem Wagen ein Tempo einzuschlagen, das zwangsläufig einen Unfall nach sich ziehen muss. Eine junge Dame sollte sich, wenn sie überhaupt die Zügel in die Hand nimmt – was ich keineswegs gutheiße –, noch viel mehr eines gemächlichen Schrittes befleißigen.«
Nathalias Augen blitzten angriffslustig auf, und Lore befürchtete, sie würde Rodegard von Philippstein in einer Weise antworten, die diese als beleidigend empfinden musste.
Doch da griff Graf Nehlen ein. »Gräfin, Komtess, Sie sind zu einer guten Zeit gekommen! Heute sind meine beiden Großneffen Adolar und Edgar eingetroffen und werden ebenso wie Jürgen einige Wochen bleiben. Wenn sie wieder abreisen, werde ich einen von ihnen zu meinem Erben bestimmt haben.«
Diese Worte empfand Lore als arg unverblümt, doch sie sagte sich, dass die Menschen auf dem Land nun einmal direkter waren als Städter und unnötige Ziererei mieden. Sie bedachte Leutnant von Bukow mit einem knappen Gruß und wandte sich dann Edgar von Gademer zu. Dieser überragte sie ein ganzes Stück, obwohl sie selbst nicht gerade klein war, Nathalia aber reichte ihm gerade bis zur Brust. Dazu hatte Gademer breite Schultern und große Hände, die wie geschaffen dafür schienen, die Zügel eines Vierer- oder gar eines Sechsergespannes zu führen. Auf dem breiten Nacken saß ein wuchtiger Kopf mit einem nicht sonderlich hübschen, aber auch nicht hässlichen Gesicht. Lore hätte es offen genannt, hätte nicht ein lauernder Ausdruck in den wasserhellen Augen gelegen. Wie es aussah, hatte er die Konkurrenzsituation mit seinen beiden Vettern angenommen und war bereit, alles zu tun, um als Sieger daraus hervorzugehen.
Je länger sie ihn betrachtete, desto weniger gefiel er ihr. Da war ihr sogar Adolar von Bukow noch lieber. Während dieser in schmucker Uniform erschienen war, den Schnurrbart schneidig gezwirbelt, und jene blasierte Miene zur Schau trug, die Städter in einer ländlichen Umgebung so gerne aufsetzten, wirkte von Gademer verbissen. Als er Nathalia anblickte, geschah dies auf eine abschätzende Weise, so als hätte er ein Stück Milchvieh vor sich, das er zu bewerten hatte. Wie es aussah, hielt er gleich Rodegard von Philippstein wenig von jungen Damen, die schneidig kutschieren konnten.
Jürgen Göde, der dritte Großneffe des alten Grafen, stand unbeachtet im Hintergrund. Weder seine beiden Verwandten Bukow und Gademer noch die Damen Philippstein schienen ihn wahrzunehmen.
Gerade das reizte Lore, auf ihn zuzugehen und ihm die Hand zu reichen. »Ich freue mich, Sie wiederzusehen, Herr Göde. Haben Sie sich bereits ein wenig auf Nehlen eingelebt?«
»Danke der Nachfrage, gnädige Frau! Nachdem Komtess Retzmann und Sie so freundlich waren, mich nach Nehlen zu bringen, habe ich hier einen angenehmen Aufenthalt gefunden. Mein Herr Onkel hat mir in seiner Güte erlaubt, seine Bibliothek zu benützen. Es sind etliche wundervolle Bücher vorhanden, die zu lesen mir eine Freude sein wird.«
Lore begriff, dass Jürgen nach der Begegnung mit seinen Vettern keinerlei Hoffnung mehr hegte, aus dem Wettbewerb um das Erbe als Sieger hervorzugehen, und er daher das Beste aus seinem Aufenthalt auf Nehlen zu machen gedachte. Dies verstärkte ihre Sympathie für ihn, und sie bedauerte, dass er so stark im Schatten seiner beiden adeligen Vettern stand.
Im Gegensatz zu ihr kümmerte Nathalia sich nicht um Jürgen, sondern verwickelte Leutnant von Bukow in ein Gespräch. Dieser antwortete höflich, verkniff sich aber jegliche Komplimente, da er noch nicht wusste, wie er die Anwesenheit Rodegard von Philippsteins und deren Tochter einschätzen sollte. Da die beiden ebenfalls mit seinem Großonkel verwandt waren, bestand durchaus die Möglichkeit, dass Graf Nehlen eine Heirat zwischen seinem erkorenen Erben und Fräulein Gottlobine plante. Daher durfte er die Damen Philippstein keinesfalls gegen sich aufbringen, indem er Nathalia zu vertraulich behandelte. Andererseits jedoch stellte diese einen Notnagel dar, wenn es mit dem eigenen Erbe nichts werden sollte.
Gewohnt, in den Berliner Salons zu glänzen, versuchte er diese Klippe elegant zu umschiffen und widmete sich beiden jungen Frauen gleichermaßen.
Doch als Rodegard von Philippstein sich räusperte, wandte er sich ihr zu. »So ein Aufenthalt auf dem Land hat seinen eigenen Reiz. Nicht wahr, gnädige Frau?«
»Wenn man nicht von Leuten totgefahren wird, die besser nicht die Zügel in die Hand nehmen sollten.« Frau von Philippstein warf Nathalia einen vernichtenden Blick zu. Ihr gefiel es ganz und gar nicht, dass die reiche Erbin hier ein und aus zu gehen schien.
Da das Gespräch zu erlahmen drohte, machte Graf Nehlen den Vorschlag, ins Haus zu gehen und eine Erfrischung zu sich zu nehmen.
»Aber nur zu gerne, lieber Onkel«, erklärte Frau Rodegard und reichte ihm den Arm, so dass er nicht umhinkonnte, sie ins Haus zu führen.
Leutnant Bukow war um einen Lidschlag langsamer als sein Vetter Gademer, der sofort Gottlobines Arm ergriffen hatte. Doch als er die leicht schmollende Miene des Mädchens bemerkte, war er sogleich versöhnt. Auch wenn sein Vetter eine Handbreit größer war als er, machte er selbst eine weitaus bessere Figur. Er versuchte nun, Nathalia als Begleiterin zu gewinnen, doch da schob Lore sich vor diese, und er musste dieser den Arm reichen, wollte er nicht als ungezogen gelten. Als Letzte folgten Nathalia und Jürgen Göde, die anders als die anderen Paare schweigend nebeneinander hergingen.