VI.

Nathalia wusste selbst nicht recht, was sie antrieb, den Philippsteinerinnen zu folgen. Es mochte der Ärger sein, weil diese ihr die kalte Schulter gezeigt hatten, aber auch Neugier. Des Risikos war sie sich dabei durchaus bewusst. Wurde sie entdeckt, musste sie mit bösen Worten und Verleumdungen rechnen.

Sie verließ den Kiesweg und schlich über den Rasen auf die Gartenlaube zu. Zu ihrem Glück war die Hecke, die diese umgab, sehr dicht und verbarg sie vor den Augen der beiden Frauen, die sich auf einer hölzernen Bank im Schatten niedergelassen hatten. Dabei achteten die Philippsteinerinnen ohnehin kaum auf ihre Umgebung, stattdessen redete die Mutter eifrig auf Gottlobine ein. Obwohl sie leise sprach, konnte Nathalia das meiste verstehen.

»Du wirst genau das tun, was ich dir sage, hast du mich verstanden?« Frau Rodegard machte eine kurze Pause, als erwarte sie eine Antwort.

Das »Ja, Mama!« erahnte die Lauscherin jedoch mehr, als sie es hörte.

»Sehr gut«, fuhr Rodegard von Philippstein fort. »Es ist nämlich äußerst wichtig, sowohl für dich selbst wie auch für die gesamte Familie. Als Gräfin Nehlen hast du ganz andere Möglichkeiten als ich, deine beiden Schwestern in die Gesellschaft einzuführen und ihnen höherrangige Ehemänner zu verschaffen. Es ist ein Glücksfall für uns alle, dass sich dir diese Gelegenheit eröffnet hat. Doch wir müssen klug vorgehen und jeden Fehler vermeiden.«

»Ja, Mama!« Diesmal sprach Gottlobine etwas lauter.

Nathalia meinte zu spüren, wie intensiv Gottlobine darauf hoffte, eine Ehe mit dem Erben des alten Grafen einzugehen, und konnte sie sogar verstehen. Mit einer solchen Heirat würde die junge Frau endlich der Fuchtel ihrer Mutter entrinnen.

»Es passt mir gar nicht, dass diese impertinente Nathalia von Retzmann hier aufgetaucht ist! Ihr Reichtum könnte die Herren verlocken, ihr mehr Aufmerksamkeit zu schenken als dir. Du wirst dich daher so benehmen, wie es einem bescheidenen und sanften Mädchen zukommt, auf dass du dich wohlgefällig von diesem Trampel unterscheidest.«

Ein Trampel bin ich also, fuhr es Nathalia durch den Kopf, während Gottlobine erneut »Ja, Mama« hauchte.

»Ich werde den Herren von Bukow und von Gademer im Vertrauen mitteilen, dass Graf Nehlen von seinem Erben erwartet, dich zu heiraten. Damit werde ich ihre Aufmerksamkeit von Komtess Retzmann weg und wieder auf dich lenken. Gleichzeitig werde ich den Grafen in diesem Sinne beeinflussen. Immerhin sind wir ebenfalls mit ihm verwandt, und es wäre ausgleichende Gerechtigkeit, wenn du die Gattin seines Erben würdest.«

Nathalia schwankte zwischen Lachen und Zorn. Am liebsten hätte sie dieser intriganten Dame sehr deutlich erklärt, was sie von ihr hielt.

Diese war noch nicht am Ende angelangt. »Ich habe mich über alle drei Großneffen informieren lassen«, erklärte Rodegard selbstzufrieden. »Diesen Göde wirst du ignorieren, soweit es die notwendigste Höflichkeit zulässt. Rede nur dann mit ihm, wenn es unumgänglich ist. Er ist nicht einmal von Adel und wird mit Sicherheit nicht der Erbe werden. Von den beiden anderen Bewerbern würde ich Herrn von Gademer den Vorzug geben, denn er ist gelernter Landwirt. Allerdings dürfen wir Leutnant von Bukow nicht außer Acht lassen. Es mag durchaus sein, dass sein Auftreten dem alten Herrn gefällt. Du wirst daher beide ein wenig ermutigen, dich aber bei keinem exponieren. Hast du mich verstanden?«

»Ja, Mama!« Unversehens hatte Nathalia Gottlobines Part übernommen und legte sich erschrocken die Hand auf den Mund. Zu ihrer Erleichterung hatten die Damen in der Gartenlaube es nicht gehört. Dennoch zog sie sich leise über den Rasen zurück und trat ins Haus.

Lore wartete bereits auf sie. »Bist du denn total verrückt geworden? Stell dir bloß vor, sie hätten dich bemerkt?«

»Haben sie aber nicht«, gab Nathalia feixend zurück. Dann griff sie sich an den Kopf. »Bei Gott, was für ein Weib! Rodegard von Philippstein ist verlogen und intrigant wie kaum eine Zweite. Es ist wirklich bedauerlich, dass uns Frauen so viele Einschränkungen auferlegt sind. Wären diese Harpyie und ich Männer, könnte ich sie vor meinen Lauf fordern und ihr mit Genuss ein Loch in die Stirn stanzen!«

Trotz des nicht gerade damenhaften Wortschatzes sah Lore sie neugierig an. »Was hat sie gesagt?«

»Das erzähle ich dir auf dem Heimweg.«

»Auch wenn Drewes dich hören kann?«

Nathalia wischte diesen Einwand mit einer lockeren Handbewegung beiseite. »Der gehört doch zu uns! Nun lass uns von Graf Nehlen Abschied nehmen. Sonst kommen wir wirklich noch zu spät nach Hause.« Damit eilte sie auf die Tür zu und stand Augenblicke später auf dem Hof. Lore folgte ihr etwas langsamer, während sie sich besorgt fragte, was ihre Freundin wohl in der Gartenlaube erlauscht haben mochte.

Juliregen
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