XIII.
Da Maruhn während der interessanten Gespräche die Bitterkeit ablegte, die ihn seit seiner Verabschiedung aus dem Staatsdienst befallen hatte, verlief der Rest der Reise sehr angenehm. Die drei Herren fanden genug Themen, über die sie sich unterhalten konnten, und Maruhns Eindruck verfestigte sich, dass Graf Trettin sich in positiver Weise von anderen Herren von Adel unterschied, die Menschen niedrigeren Standes eher als dressierte Affen ansahen. Auch Fridolin fasste immer mehr Zutrauen zu Maruhns Fähigkeiten. Offensichtlich machte der Detektiv seine körperlichen Einschränkungen durch die Beweglichkeit seines Geistes wett.
Als der Schaffner erschien und als nächste Station Eystrup ankündigte, wandte Fridolin sich lächelnd an Maruhn.
»Fahren Sie doch mit uns bis Steenbrook! Komtess Nathalia wird Ihnen gewiss Gastfreundschaft gewähren. Wir könnten dann gemeinsam den Umtrieben des betrügerischen Barons nachspüren.«
»Das«, antwortete Maruhn nach einem kurzen Zögern, »halte ich für keine gute Idee. Zum einen befindet sich Gut Steenbrook gut zwanzig Kilometer von Klingenfeld entfernt. Die Leute werden deshalb nicht viel über den Baron wissen. Zum anderen haben Sie gewiss familiäre Pflichten, die Sie in Anspruch nehmen werden, und in dieser Zeit müsste ich entweder auf Sie warten oder allein umherstreifen. Sie werden daher erlauben, dass ich hier aussteige und mich in einem Dorfkrug in der Nähe von Klingenfeld einquartiere. Dort werde ich gewiss mehr über Baron Anno erfahren.«
Obwohl Fridolin sich gerne länger mit Maruhn unterhalten hätte, gab er dem Mann recht. »Es wird wohl besser so sein. Aber melden Sie sich bitte sofort bei mir, wenn Sie Unterstützung brauchen.«
»Das mache ich«, versprach Maruhn und dachte zugleich, dass er ein schlechter Detektiv wäre, wenn es ihm nicht gelingen würde, auf eigene Faust vorwärtszukommen.
Kurz darauf kündigte das Pfeifen der Lokomotive das Nahen des Bahnhofs an. Maruhn stand auf und wollte sich verabschieden, da streckte Fridolin ihm die Hand hin. »Auf Wiedersehen und viel Erfolg!«
»Danke, Herr Graf. Das kann ich gebrauchen!« Maruhn erwiderte den Händedruck und verließ das Abteil.
Kurz bevor sie den Bahnhof Verden erreichten, erschien Kowalczyk und erklärte, dass er sich des Gepäcks annähme.
»Tun Sie das!« Fridolin nickte seinem Kammerdiener zu und stellte sich ans Fenster. Wenig später hielt der Zug, und er sah Lore auf dem Bahnsteig stehen. So schnell wie diesmal war er wohl noch nie aus einem Zug ausgestiegen. Lachend und winkend eilte er auf seine Frau zu.
Diese kam ihm strahlend entgegen. »Endlich! Wir haben schon so auf euch gewartet. Sind Mary und ihre Kinder auch dabei?«
Konrad hob in einer bedauernden Geste die Arme. »Sie kommen in drei Tagen nach! Da gibt es noch ein Kleid für eine hochgestellte Dame, das unbedingt fertiggestellt werden muss, und Mary will diese Aufgabe nicht ihren Näherinnen überlassen.«
»Das verstehe ich. Aber nun kommt! Wollt ihr noch eine Konditorei oder ein Restaurant aufsuchen, oder können wir gleich nach Steenbrook fahren?«
»Ich glaube, auf Steenbrook bekommen wir alles, was wir uns wünschen, meinst du nicht auch, Konrad?«
»Aber natürlich! Die Köchin dort ist vortrefflich! Ich habe bei meinem Aufenthalt im letzten Jahr mindestens sechs Pfund zugenommen und musste anschließend meine Hosen weiter machen lassen.« Konrad lachte und reichte dann Lore die Hand. »Es freut mich, Sie wiederzusehen, Frau Gräfin.«
»Nenne mich Lore, wenn du willst, dass ich weiterhin Konrad zu dir sage.« Es war ein Ritual, das die beiden immer wieder durchspielten, wenn sie sich länger nicht gesehen hatten.
Konrad ging auch diesmal darauf ein. »Also gut, ich gebe mich geschlagen. Aber Sie bieten mir das Du nicht an, Herr Graf. Wie sähe das aus, wenn ich vor allen Leuten einen echten Bankdirektor anspreche wie einen Leichtmatrosen.«
Fridolin hatte ihm diese Bedenken schon oft ausreden wollen, doch gegen den Bremer Sturkopf kam er nicht an. Daher lächelte er nur, fasste Lore unter und ging mit ihr durch das Bahnhofsgebäude auf den Vorplatz. Dort wartete Nathalia hoch zu Ross und in einem Reitkleid auf sie, dessen modischer Schnitt seine Herkunft aus Mrs. Penns Modeatelier nicht verleugnen konnte.
»Hallo, Fridolin! Gut angekommen?«, fragte sie fröhlich.
»Guten Tag, Frechdachs. Was hast du wieder ausgefressen, während ich weg war?«
Auch das war bereits ein Ritual, denn in früheren Jahren hatte Nathalia meist einiges zu beichten gehabt. Nun aber winkte sie lachend ab. »Gar nichts! Immerhin stand ich unter der strengen Aufsicht deiner Frau Gemahlin. Lore meinte nämlich, ich dürfe kein schlechtes Vorbild für Wolfi sein!«
»Wie geht es dem Jungen und Doro?« Fridolin sah sich suchend um.
Lore wies lächelnd auf ein Haus in der Nähe. »Fräulein Agathe und ihre Helferin Tinke sind mit den beiden in die Konditorei gegangen, denn Wolfi hat arg gequengelt, weil der Zug nicht kommen wollte.«
»Aber er war doch pünktlich«, erklärte Konrad nach einem Blick auf seine Taschenuhr.
»Wir waren eine halbe Stunde früher hier, und da ist dem Jungen das Warten lang geworden. Setzt euch schon einmal in den Wagen. Ich hole die beiden!« Lore wollte los, doch da gab Drewes dem Knecht, der das Fuhrwerk mit dem Gepäck kutschierte, einen Wink, und der Bursche sauste davon.
Lore sah ihm nach und stieg kopfschüttelnd in den Wagen. »Irgendwie habe ich das Gefühl, die Leute auf Steenbrook befürchten, mir könne jede kleine Anstrengung schaden.«
»Dabei wolltest du doch nur noch rasch einen Windbeutel mampfen!«, warf Nathalia lachend ein.
»Sei froh, dass Wolfi das nicht gehört hat. Er würde sonst nur noch mampfen wollen.« Lore versuchte, strafend auszusehen, doch ihre Mundwinkel bogen sich verräterisch nach oben.
Auch Fridolin lachte, glücklich, wieder bei seiner Familie zu sein. Er strich mit der Rechten über Lores Knie und zwinkerte ihr zu. Heute Abend sind wir wieder zusammen, sagte sein Blick.
Lore deutete eine Kusshand an und hielt dann nach den Kindern Ausschau. Da kamen Agathe und ihre Helferin auch schon herangeeilt. Tinke trug Doro auf dem Arm, und der junge Knecht folgte ihnen mit Wolfi, der stolz auf seinen Schultern thronte.
»Verzeihen Sie, gnädige Frau, aber es hat ein wenig gedauert«, entschuldigte sich das Kindermädchen und versuchte gleichzeitig, Doros Mund mit einem Taschentuch abzuwischen.
Lore sah ihre Tochter an und musste sich das Lachen verkneifen. »Doro, du bist ein Ferkel!«
Die Kleine hatte sich Kinn, Hals und Wangen mit Sahne und Fruchtstückchen beschmiert. Allerdings war sie weit davon entfernt, sich dessen zu schämen, sondern krähte fröhlich: »Ferkel, Ferkel!«
Fridolin sah Konrad mit einem Seufzer an. »Wie man sieht, bin ich wieder mit meiner Familie vereint!«
»Papa!« Wolfis Stimme klang fordernd, und er zählte rasch einige Dinge auf, die er unbedingt brauchte, die die Mutter ihm aber nicht kaufen wollte.
Lore warf Fridolin einen warnenden Blick zu.
»Wenn deine Mama sagt, das bekommst du nicht, darfst du nicht erwarten, dass ich ja sage«, beschied Fridolin Wolfi.
Der Junge verzog das Gesicht und flüchtete sich in die Arme seiner Kinderfrau. Da Agathe nicht so recht zu wissen schien, was sie mit dem störrischen Jungen anfangen sollte, strich Lore Wolfi über das Haar. »Wenn wir auf dem Gut sind, zeigst du deinem Papa, wie gut du reiten kannst!«
Sofort glätteten sich die Züge des Jungen, und er nickte heftig. »Ich kann so gut reiten wie ein Ulan, sagt Drewes!«
»Du bist doch noch viel zu klein für ein Pferd«, rief Fridolin verwundert.
Nathalia stieß einen leisen Seufzer aus. »Ich habe ein Pony gekauft, das gerade groß genug ist für ein Kind. Eigentlich war es für Jonny gedacht, der im letzten Jahr eines gesehen und den Rest der Ferien über von nichts anderem mehr geredet hat. Nun fürchte ich, dass die beiden Jungen sich darum streiten werden.«
»Sie werden sich das Pferdchen teilen müssen, und das wird für beide eine gute Lehre in Disziplin sein. Keine Sorge, Komtess, die beiden bringe ich schon zum Parieren!« Da sie Konrad kannten, wussten Lore und Nathalia, dass er weniger Gewalt als Überredungskünste anwenden würde.
Lore atmete auf, doch Nathalia hatte noch etwas auszusetzen. »Mein lieber Konrad, sollte es dir entgangen sein, dass du zu der kleinen Gruppe auserlesener Freunde gehörst, denen das Privileg vergönnt ist, mich nicht nur ihre Freundin zu nennen, sondern mich auch mit du ansprechen zu können?«
»Nein! Aber in der Öffentlichkeit …« Konrad versuchte sich zu verteidigen, doch gegen Nathalia kam er nicht an.
»Gerade in der Öffentlichkeit ist es wichtig, Flagge zu zeigen, wie Prinz Wilhelm zu sagen pflegt. Also wage es nicht, mich weiterhin Komtess zu nennen. Ansonsten vergesse ich meine ganze Erziehung und nenne dich vor allen Leuten ›alter Seebär‹ oder, noch besser, ›alter Pirat‹!«
Bei dem Wort Pirat ruckte Wolfis Kopf herum. »Ich will auch Pirat werden!«, rief er und schwang seine Hand, als hielte er einen Entersäbel in der Hand.
»Na ja, immer noch besser als Wespenjäger«, erklärte Fridolin trocken und hatte die Lacher auf seiner Seite.