IV.

Hede ließ den Blick durch den Empfangssalon des Le Plaisir schweifen und seufzte. Ganz so leicht, wie sie es sich vorgestellt hatte, fiel ihr der Abschied nun doch nicht. Fast siebzehn Jahre lang hatte sie dieses Bordell geführt und dabei angenehme und weniger angenehme Stunden erlebt. Diese Zeit war nun mit einem Schlag vorbei. Selbst in ihren Papieren gab es sie nicht mehr. Hochrangige Gönner hatten dafür gesorgt, dass sämtliche Akteneinträge, die ihr Gewerbe betrafen, gelöscht oder so abgefasst worden waren, als beträfen sie eine andere Frau. Ihr war bewusst, dass dies nicht nur eine Gefälligkeitsleistung war. Die Herren wollten vorsorgen, dass sie nicht irgendwann über deren Besuche im Le Plaisir und ihre speziellen Vorlieben berichten konnte. Da sie offiziell kein Bordell besessen hatte, war man nun in der Lage, Äußerungen dieser Art als üble Verleumdungen abzutun.

Das war Hede gleichgültig, denn sie hatte nicht vor, in der Vergangenheit herumzurühren. Solange das Le Plaisir ihr Eigentum gewesen war, hatte sie es mit äußerster Diskretion geführt, und davon würde sie auch jetzt nicht abgehen. Immerhin war sie selbst nur mit viel Glück den Nachstellungen der Behörden entgangen. Da die Entführung von Lore, Nathalia und Dorothea nicht angezeigt worden war, wäre auch ihr Mann einer Strafverfolgung entgangen. Laabs hätte sogar aus dem Klingenfeld-Betrug mit halbwegs heiler Haut davonkommen können, denn Rudi Pielke und dessen Kumpane Maxe und Klaas hatten ihren Anteil daran kleingeredet und die gesamte Schuld Baron Anno in die Schuhe geschoben. Dies hatte ihnen zwar nicht geholfen, denn sie waren wegen etlicher anderer Delikte zu vielen Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Der Name Manfred Laabs aber war nicht gefallen.

Um ihres Sohnes willen war Hede froh darüber, denn nun konnte Fritz unbelastet von der Schuld des Vaters aufwachsen. Bei dem Gedanken lächelte sie, und mit einem Mal fiel ihr der Abschied leichter. Sie nickte den Mädchen zu, die, von Dela beaufsichtigt, zu dieser Morgenstunde sauber machten. Die junge Frau war nun eine der beiden neuen Prinzipalinnen des Le Plaisir. Die andere war Hilma, die jedoch noch in jenem Zimmer im ersten Obergeschoss weilte, das bei Lores und Nathalias Entführung eine unheilvolle Rolle gespielt hatte. Baron Rendlinger war bei ihr und kostete sein Privileg, einer der heimlichen Eigentümer des Bordells zu sein, weidlich aus. Auch August von Grünfelder hatte einen stattlichen Betrag eingesetzt, um Dela ganz für sich allein zu haben.

Hede war mit der Abstandssumme, die man ihr bezahlt hatte, hochzufrieden, denn die beiden Herren hatten sich großzügig gezeigt. Auch wollten sie die Renovierung des Le Plaisir nach ihren eigenen Vorstellungen finanzieren. Hede fand ihre Pläne ebenso schwülstig und pompös wie die Bronzestatue einer nackten Frau, die Rendlinger am Vorabend in den Empfangssalon hatte stellen lassen. Doch so war nun einmal die neue Zeit, die in Deutschland Einzug gehalten hatte.

Naserümpfend warf Hede einen letzten Blick auf die kitschige Statue und durchquerte den Saal so schnell, als befände sie sich auf der Flucht. Im Flur blieb sie stehen. »Ich wünsche euch allen Glück«, rief sie Dela und den putzenden Mädchen zu.

»Wir dir auch!«, antwortete die neue Mitbesitzerin des Le Plaisir und deutete damit an, dass sie sich auf gleicher Stufe wie Hede wähnte. Die übrigen Huren hoben nur kurz den Kopf und schrubbten weiter.

Nun kam Hede an ihrem Büro vorbei. Da sie es bereits ihren Nachfolgerinnen übergeben hatte, verkniff sie es sich, noch einmal hineinzuschauen, sondern ging weiter ins Treppenhaus und stieg nach oben.

In der Wohnung, die nun ebenfalls Hilma und Dela gehörte, wartete ihre Kinderfrau auf sie. Diese hatte Fritz schon in seine Reisekleidung gesteckt, die aus graukarierten Hosen und einer Jacke von gleicher Farbe bestand. Auf seinem Kopf saß eine ebenfalls graue Mütze, und darunter blickten die blauen Augen fragend in die Welt. Bislang war das Kind nur selten aus dem Haus gekommen und maulte, weil seine Spielzeuge in eine Kiste gepackt und nach unten gebracht worden waren.

»Mama!«, rief Fritz, als er Hedes ansichtig wurde, und streckte die Arme nach ihr aus. Sie hob ihn auf und trug ihn nach unten. Da sie sich bereits von den Räumen verabschiedet hatte, die so viele Jahre ihr Heim gewesen waren, wollte sie nun so rasch wie möglich fort.

Kaum hatte sie mit dem Jungen auf dem Arm das Erdgeschoss erreicht, sah sie sich Hilma und Dela gegenüber. Die beiden wirkten etwas unsicher, traten dann aber lächelnd auf sie zu und streckten ihr ein kleines Päckchen entgegen.

»Die Mädchen und wir haben zusammengelegt und eine Kleinigkeit gekauft. Wir wollen uns bedanken, weil Sie uns immer gut behandelt haben«, erklärte Hilma.

»Ich wollte, ich hätte mehr für euch tun können.« Hede nahm das Päckchen entgegen und klemmte es sich unter den Arm, auf dem sie Fritz trug.

»Macht es gut!« Tränen stiegen in ihr auf, und sie spürte, wie ihr die Kehle eng wurde. Mit dem freien Arm drückte sie die beiden jungen Frauen kurz an sich. Dann nickte sie ihnen zu und verließ zum ersten Mal, seit sie denken konnte, das Le Plaisir durch den Hintereingang.

Auf dem Hof schälte Anton sich aus dem Halbdunkel. Er steckte in einem altmodischen Zivilanzug und wirkte auf Hede, die ihn zumeist in seinen Phantasieuniformen gesehen hatte, seltsam fremd, aber daran würde sie sich gewöhnen müssen. Anton hatte darauf verzichtet, weiterhin Türsteher im Le Plaisir zu bleiben, sondern kam als Diener mit ihr. Auch dies machte Hede den Abschied von ihrem bisherigen Leben leichter.

Anton nahm ihr den Knaben ab und sah sie lächelnd an. »Die Droschke steht an der nächsten Straßenecke bereit, gnädige Frau.«

»Danke!« Mit einer energischen Handbewegung wischte Hede sich die Tränen aus den Augen und verließ den Hinterhof, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Ihr Sohn strampelte in Antons Armen. »Mama, wohin gehen wir?«

»Nach Hause«, antwortete Hede und spürte, wie sehr sie sich auf ein ruhiges und von keinen Aufregungen getrübtes Leben freute.

Juliregen
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