V.

Kaum war die ungewöhnliche Verlobung auf Nehlen gefeiert worden, schmiedeten Lore und Dorothea Pläne für die Hochzeitsfeier. Gelegentlich dachte Lore dabei an Ottwald von Trettins Tod, empfand aber kein Mitgefühl für den Toten oder dessen Mutter. In ihren Augen hatte Fridolins Neffe mit dem Anschlag auf Nathalia sein Ende selbst verschuldet. Noch immer war das Ausmaß der Intrige nicht restlos aufgeklärt, und daher hatte Fridolin den Berliner Detektiv Dirk Maruhn beauftragt, in aller Diskretion weiterzuforschen.

Ein paar Tage später kam ein Brief von ihrer Haushälterin Jutta Knoppke aus Berlin, in dem diese ihr mitteilte, dass ihre Schmuckkassette verschwunden sei. Zusammen mit Johann Ferber hatte die Mamsell sofort das restliche Personal befragt, und dabei war Luise, eines der neueren Dienstmädchen, zusammengebrochen. Wie es aussah, hatte diese Ottwald von Trettin dabei geholfen, den Schmuck zu stehlen. Nun schlug Lore sich mit der Frage herum, ob sie Luise den Behörden übergeben lassen sollte. Von Fridolin wusste sie, dass dieser die wertvollsten Schmuckstücke noch vor dem Diebstahl zur Bank gebracht hatte. Damit beschränkte sich ihr Verlust auf wenige hundert Mark und einige schöne Erinnerungen. Durfte sie deswegen das Leben einer jungen Frau zerstören? Wenn sie Luise anzeigte, würde diese unweigerlich auf die schiefe Bahn geraten.

Daher nahm sie Papier und Stift zur Hand und wies Jutta in ihrem Antwortbrief an, Luise erst ins Gewissen zu reden, sie dann zu entlassen und mit einem Monatslohn abzufinden. Wenn das Mädchen klug war, würde es den richtigen Weg wählen. Wenn nicht, so brauchte sie sich nicht mit der Frage zu belasten, ob sie Luise hätte retten können.

Auf Lores Läuten hin erschien die alte Erna. »Gnädige Frau wünschen?«

»Dieser Brief muss heute noch zur Post!« Lore reichte der Magd das Schreiben, lehnte sich auf ihren Stuhl zurück und schloss die Augen.

Plötzlich schlang jemand die Arme um sie, und als sie aufsah, stand Nathalia neben ihr. Das Mädchen wirkte bedrückt, und Lore fürchtete schon, dass es zwischen ihrer Freundin und Jürgen Zwist gegeben habe.

Da holte Nathalia ganz tief Luft. »Lore, du erinnerst dich doch gewiss noch an meine angeheiratete Verwandte Ermingarde.«

»Leider nur zu gut.« Lore zog ein Gesicht, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. Diese Frau hatte vor Jahren alles versucht, um ihren Sohn Gerhard zu Nathalias Vormund zu machen und sich damit in den Besitz des Retzmann-Vermögens zu setzen.

»Dann wird es dich gewiss nicht betrüben, dass Ermingarde in die ewigen Jagdgründe eingegangen ist, und mit ihr gingen Armgard und Gerhard!«

»Ewige Jagdgründe! Nathalia, was hast du in letzter Zeit gelesen?«

»Ein paar Romane aus Jürgens privater Bibliothek. Sie wurden von einem Sachsen namens Karl May verfasst.«

»Gehört habe ich von dem Mann, aber gelesen noch nichts. Doch wenn er solche Worte wie ewige Jagdgründe verwendet, werde ich das wohl auch nicht tun.«

Jetzt erst drang der Sinn von Nathalias Worten zu ihr durch. »Was sagst du da? Ermingarde Klampt ist tot?«

»Samt Sohn und Tochter! Ich habe es gestern erfahren. Entfernte Verwandte von Ermingarde haben sich an mich gewendet und angefragt, ob ich ihnen die Kosten für die Bestattung ersetzen könnte. Sie selbst befänden sich nicht in so glücklichen Umständen wie ich.« Nathalias Schnauben verriet, was sie von solcher Bettelei hielt.

»Alle drei sind tot! Wie ist das geschehen?«, fragte Lore.

»Eine Gasexplosion! Das ganze Haus soll eingestürzt sein! Die Behörden nehmen an, dass sie unsachgemäß mit der Lampe hantiert haben. Auf die Weise sind wir sie endgültig losgeworden.«

Lore bedachte ihre Freundin mit einem strafenden Blick. »Nati, so etwas sagt man nicht! Auch wenn Tante Ermingarde und ihre Familie zugegebenermaßen keine angenehmen Zeitgenossen waren, so erschüttert es mich doch zu hören, dass sie ihr Leben durch ein solch schlimmes Unglück verloren haben!«

Nathalia machte eine wegwerfende Handbewegung. »Es tut mir leid, aber ich kann nicht um Ermingarde und deren Nachkommenschaft trauern. Dafür haben sie mir das Leben zu sehr vergällt. Übrigens soll Gerhard Klampt ein guter Freund dieses Manfred Laabs gewesen sein. Dazu kommt, dass Ottwald und Malwine von Trettin mehrere Wochen bei Ermingarde gewohnt haben. Dämmert es dir langsam?«

Da Lore sie verständnislos ansah, lachte Nathalia bitter auf. »Ich bin sicher, dass Gerhard Klampt und dieser elende Ottwald den Plan meiner Entführung gemeinsam ausgeheckt haben. Gewiss war die Gasexplosion genau an jenem Tag, an dem Ottwald ums Leben gekommen ist, die Strafe des Himmels für dieses Verbrechen.«

»Gott sei Dank sind unsere Feinde von uns gegangen«, flüsterte Lore, die nun von den Bildern der schrecklichen Ereignisse eingeholt wurde, und zuckte zusammen, als sie an Malwine dachte, die noch immer auf Trettin weilte und nun auch den Tod ihres zweiten Sohnes zu betrauern hatte. Bei dem Gedanken, diese Frau könnte noch immer darauf sinnen, ihr und Fridolin zu schaden, lief es ihr kalt den Rücken hinunter, und sie beschloss, in Zukunft noch sorgfältiger auf ihre Kinder achtzugeben.

Sie führte Nathalia in ihren Kaffeesalon, den sie mit den Barockmöbeln vom Speicher eingerichtet hatte, bat Nele, in der Küche Kaffee und Kuchen zu besorgen, und unterhielt sich angeregt mit ihrer Freundin, die sich offensichtlich ebenso gerne von den schrecklichen Berlin-Erlebnissen ablenken ließ wie sie. Unwillkürlich kamen sie auf jenen Dezembertag vor fast zwölf Jahren zu sprechen, an dem sie sich kennengelernt hatten.

Nathalia wischte sich ein paar Tränen aus den Augen, als sie an ihren Großvater dachte, der sie Lore anvertraut hatte, bevor er selbst auf der Deutschland umgekommen war.

»Ich hoffe, er ist zufrieden damit, was aus mir geworden ist«, sagte sie ungewohnt kleinlaut.

Lore nahm die Hände ihrer Freundin in die ihren und nickte. »Graf Retzmann wird stolz auf dich sein und sich oben im Himmel freuen, dass du dein Glück gefunden hast.«

»Das habe ich dir zu verdanken.« Nathalia umarmte Lore und schüttelte dann lachend den Kopf. »Als ich Jürgen das erste Mal auf der Straße getroffen und aus Mitleid mit nach Steenbrook genommen habe, hätte ich mir niemals träumen lassen, dass er einmal mein Mann werden würde. Erinnerst du dich noch daran?«

»Natürlich!«

Nathalia wollte etwas hinzufügen, doch da trat Fridolin ein, in der Hand ein eng beschriebenes Blatt. Seine Miene war sehr ernst.

»Ich hoffe, ihr verzeiht mir, wenn ich eure Unterhaltung störe. Doch der Postbote war eben da und hat diesen Brief gebracht. Er stammt von Malwine.«

»Dann will ich ihn erst gar nicht lesen«, wehrte Lore ab.

»Das solltest du aber! Das Schreiben ist bemerkenswert.«

»Was schreibt denn der alte Drachen?«, wollte Nathalia wissen.

»Sie bittet Lore und mich, nach Trettin zu kommen, weil sie sich mit uns aussprechen will, um Frieden mit uns zu schließen und ohne Gewissensbelastung in ein Stift eintreten zu können.«

»Glaubst du das?«, fragte Lore und nahm den Brief nun doch entgegen.

Malwine hatte tatsächlich von Aussprache und Frieden geschrieben, aber Lore erinnerten die Worte an den Wolf aus dem Märchen, der Kreide gefressen hatte. Sie brachte sie nicht mit jener Frau zusammen, die gemeinsam mit ihrem Mann den alten Herrn auf Trettin vom Gut verjagt und zu einem Leben in Armut und einem elenden, viel zu frühen Tod verurteilt hatte. Damals hatte Lore die Bitternis des Lebens voll ausschöpfen müssen, während Malwine und ihr Ehemann Ottokar wie ein dräuendes Verhängnis auf Trettin gesessen und ihren Großvater und sie mit ihrem Hass verfolgt hatten.

Diese Erinnerung und auch der Gedanke an die Gräber ihrer Eltern und Geschwister, an deren Tod Ottokar von Trettin Schuld trug, verhinderten, dass Lore auch nur eine Spur Mitleid empfand.

Mit einer abwehrenden Bewegung reichte sie Fridolin den Brief zurück. »Mir wäre es lieber, Malwine würde Trettin verlassen haben, bevor ich das erste Mal nach so langer Zeit hinfahre.«

Fridolin nickte. »Mir auch. Aber wenn Malwine ihre Taten wirklich bereut, sollten wir nicht so grausam sein, ihr unsere Verzeihung zu verweigern.«

»Sie schreibt, wir sollen die Kinder mitbringen, damit sie diese segnen kann. Das will ich ganz bestimmt nicht!«

Lores Stimme klirrte vor Abscheu. Doch ihr war klar, dass Fridolins Beweggründe stichhaltig waren und sie sich dieser Reise nicht entziehen konnte. »Also gut, fahren wir. Aber die Kinder werden in Berlin bleiben!«

»Das wäre mir auch lieber, doch es geht nicht«, wandte Fridolin ein. »Da die Nachbarn nicht in die Auseinandersetzungen zwischen uns, Malwine und deren Sohn eingeweiht sind, würden sie kein Verständnis dafür aufbringen, wenn wir den Wunsch der Witwe und trauernden Mutter schnöde abschlagen würden. Und nach allem, was ich über Trettin erfahren habe, sind wir auf die Unterstützung der Nachbarschaft dringend angewiesen!« Fridolin brachte noch weitere Gründe vor, bis Lore schließlich nachgab.

»Wann müssen wir fahren?«, fragte sie seufzend.

»Ich will es so rasch wie möglich hinter mich bringen. Du und die Kinder, ihr braucht nicht mehr als zwei, maximal drei Nächte auf Trettin zu verbringen, dann könnt ihr zurückkehren. Die restlichen Gespräche werde ich alleine mit Malwine führen.«

»Soll ich mitkommen?«, schaltete sich Nathalia in das Gespräch ein. »Zeit hätte ich, denn Jürgen ist zu seiner Mutter gereist, um deren Umzug nach Nehlen in die Wege zu leiten.«

»Ich weiß nicht, ob das gut ist. Malwine weiß schließlich, dass ihr Sohn umgekommen ist, als er dir folgen wollte«, wandte Lore ein.

Fridolin schüttelte ebenfalls den Kopf. »Mir wäre es lieber, du würdest hier oder in Berlin bleiben. Ich will nicht, dass Malwine durch deinen Anblick an Ottwalds Tod erinnert wird.«

»Ihr nehmt einfach zu viel Rücksicht auf diese rachsüchtige Giftnatter! Ich traue ihr um kein Haarbreit über den Weg. Seht euch lieber vor.« Nathalia sprach das aus, was ihre Freundin dachte.

Dann aber sagte sich Lore, dass die Frau, die gesellschaftlich völlig isoliert war, ihnen nichts mehr anhaben konnte. Zudem musste man im Leben nun einmal Kompromisse schließen und in manch sauren Apfel beißen.

Juliregen
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