XII.

Lore ahnte nicht, dass in Berlin finstere Pläne gegen sie und Fridolin geschmiedet wurden, und genoss den Aufenthalt auf Steenbrook in vollen Zügen. Unter Nathalias Aufsicht lernte sie reiten, wurde von Drewes darin unterrichtet, den kleinen Einspänner zu fahren, und erfreute sich an den gemeinsamen Spaziergängen durch die Natur. Meist war auch Fräulein Agathe mit den Kindern mit von der Partie. Da das Kindermädchen genug damit zu tun hatte, die umtriebige Doro zu bändigen, kümmerte Lore sich selbst um ihren Sohn. Mit seinen vier Jahren konnte Wolfi bereits stramm marschieren und musste oft genug eingefangen werden, wenn er in Gefahr geriet, in einen Graben zu fallen, oder sich unvorsichtigerweise einem Wespennest näherte.

An diesem Tag hatte ihn eine Wespe gestochen, und er zerfloss in Tränen. Lore nahm ihn auf den Arm und versuchte ihn zu trösten. »Komm, mein Kleiner, wir gehen jetzt nach Hause. Dort legen wir ein wenig essigsaure Tonerde auf den Stich, und dann schauen wir, was Gertrud Gutes in ihrer Küche hat. Sie wollte doch einen Pudding kochen, aber den gibt es nur für tapfere Jungs.«

Wolfi schniefte und sah sie mit feuchten Augen an. »Ich bin tapfer. Aber es tut so weh! Diese Wespe war ganz böse. Sie darf doch keine Leute stechen.«

Nathalia musste lachen. »So darfst du das nicht sehen. Es liegt in der Natur einer Wespe zu stechen, wenn man ihr oder ihrem Nest zu sehr auf den Pelz rückt.«

»Haben Wespen Pelze?«, fragte der Junge interessiert. »Da muss man aber sehr viele Wespen fangen, um aus ihren Fellen einen Pelzmantel zu machen!«

»Mindestens zehntausend«, erklärte Nathalia lachend.

Nun fand Lore es an der Zeit einzugreifen. »Bitte, setze Wolfi keine Flausen in den Kopf. Nicht, dass er auf die Idee kommt, ein Wespenjäger zu werden, um mir oder dir einen Pelzmantel zu verschaffen!«

Nathalia konnte nicht mehr aufhören zu lachen. »Oh Gott, was wäre das für ein Liebesdienst! Kein Sohn könnte mehr für seine Mutter tun. Aber du hast recht. Wir sollten Wolfi klarmachen, dass sich keine von uns einen Wespenpelzmantel wünscht. Außerdem sind die Ferien viel zu kurz, um so viele Wespen zu fangen.«

»Ich habe nächstes Jahr doch auch Ferien«, wandte der Junge ein, der sich durchaus mit dem Gedanken anfreunden konnte, ein großer Wespenjäger zu werden.

Es kostete die Frauen einiges an Überredung, ihn von diesem Vorhaben abzubringen. Ein Gutes hatte die Sache jedoch, denn während des Gesprächs hatte er den Stich und die Schmerzen vergessen.

Als sie zum Gut zurückkamen und die Köchin tatsächlich Pudding gekocht hatte, war für Wolfi die Welt wieder vollkommen in Ordnung. Während er begeistert löffelte, blickte Nathalia nachdenklich zum Fenster hinaus. »Was hältst du davon, wenn wir morgen früh einen Ausflug nach Klingenfeld machen und uns das Gut ansehen? Wir müssten sehr früh aufbrechen, könnten aber sowohl auf dem Hinweg wie auch zurück auf Nehlen haltmachen und uns erfrischen.«

Auch Lore hatte sich schon darüber Gedanken gemacht, wie sie es anstellen konnte, sich das Gut anzusehen, das bald in ihren und Fridolins Besitz übergehen würde. Der Gedanke, die Fahrt in Nehlen zu unterbrechen, missfiel ihr jedoch. Nathalia und sie waren ein weiteres Mal dort gewesen, und dabei hatte sie sich ein endgültiges Urteil über Leutnant von Bukow und dessen Vetter von Gademer bilden können. Beide lagen in einem heftigen Wettstreit um die Gunst des alten Grafen und machten Gottlobine von Philippstein heftig den Hof. Gleichzeitig war den Herren anzumerken, dass ihnen Nathalias Vermögen als Ersatz für das entgangene Erbe gerade recht käme. Das hatte sie ihrer Freundin auch gesagt, aber nur ein Lachen geerntet.

Da Nathalia die Ehe mehr wie ein Geschäft anzusehen schien, bei dem die Partner von vorneherein ihre Aufgaben und Pflichten bestimmten, interessierte es sie wenig, wer einmal ihr Gatte sein würde, Hauptsache, er ordnete sich ihrem Willen unter. Lore aber kannte die Menschen besser und sah Streit und Hader voraus. Eine solche Beziehung würde für ihre Freundin in einer großen Enttäuschung enden.

»Also, hast du Lust?«, fragte Nathalia nach, die Lores Schweigen leid wurde.

»Nun, wieso nicht. Aber wir müssen nicht den Wagen nehmen, sondern könnten die zwei Stationen mit dem Zug fahren und uns dort eine Droschke mieten.«

Nathalia schüttelte heftig den Kopf. »Liebes, wir sind hier auf dem Land. Da fährt man doch nicht mit der Eisenbahn, wenn man die Strecke mit dem eigenen Wagen bewältigen kann. Außerdem ist es eine gute Gelegenheit für dich zu üben, denn einen Teil des Weges wirst du die Zügel führen.«

Wie meist gab Lore nach. »Also gut! Aber ich fahre nur, wenn Drewes mitkommt.«

»Das ist doch selbstverständlich«, antwortete Nathalia lächelnd.

Wolfi sah von seinem Pudding auf. »Will auch mit!«

Lore überlegte kurz und schüttelte dann den Kopf. »Es tut mir leid, mein Kleiner, aber die Fahrt ist zu lang für dich und Doro. Ihr würdet euch unterwegs langweilen.«

»Und dabei furchtbar quengeln und uns auf die Nerven gehen«, setzte Nathalia leise hinzu.

Lore vernahm es trotzdem und bedachte ihre Freundin mit einem tadelnden Blick. Allerdings machte Nathalia ihren Ausspruch sofort wieder gut, indem sie Wolfi versprach, ihm beim nächsten gemeinsamen Ausflug beim Konditor einen besonders großen Windbeutel zu kaufen. Unterdessen hatte Fräulein Agathe die kleine Doro ebenfalls mit Pudding gefüttert und wischte ihr nun den verschmierten Mund ab.

Lore sah sich lächelnd um und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Wir beide haben wahrlich ein schönes Leben, Nathalia, findest du nicht auch?«

Juliregen
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