V.

Dirk Maruhn, seines Zeichens Detektiv und von August Grünfelder damit beauftragt, Anno von Klingenfelds verschwundenem Schmuck nachzuspüren, dachte nicht zum ersten Mal, dass sein Beruf manchmal mehr an Selbstbeherrschung erforderte, als er glaubte aufbringen zu können. Dies war wieder so ein Tag. Er starrte die fette Bordellwirtin an, die sich ihm gegenüber wie ein gereiztes Huhn aufplusterte, und ließ deren Wortschwall kopfschüttelnd über sich ergehen. Dabei war ihr Mundwerk ebenso ordinär wie ihr rotes Rüschenkleid, dessen Ausschnitt die fleischigen Brüste kaum zu bändigen vermochte. »Entweder du machst einen richtigen Stich, damit eines meiner Mädels was verdienen kann, oder du verschwindest, bevor ich dir nachhelfe! Kerle, die nur gaffen und quatschen wollen, brauchen wir hier nicht!« Nach diesen Worten streckte sie Maruhn auffordernd die Hand hin.

Der Detektiv zog seine Börse und ließ ein Zehnmarkstück in seiner Hand aufblitzen. »Das ist für Sie, wenn Sie mir meine Fragen beantworten!«

Diese Summe würde er Grünfelder aufs Spesenkonto schreiben.

Die Puffmutter starrte die Münze an und sah sich dann kurz um. Da einige ihrer Mädchen nach getanem Werk wieder in den Empfangssalon kamen, befand sie, dass ihr eigenes Mitwirken im Augenblick nicht vonnöten war, und streckte die Hand nach dem Geldstück aus. »Was willst du wissen?«

»Ich suche ein junges Mädchen, das nach Berlin gegangen ist. Es heißt Adele Wollenweber.«

»Nie von ihr gehört«, antwortete die Frau und wand ihm die Münze aus der Hand.

»Sie wird auch Dela genannt«, fuhr Maruhn fort.

»Keine Ahnung! Und jetzt sag, ob du ein Mädel willst, sonst zieh Leine!«

Da Maruhn immer noch keine Anstalten machte zu gehen, wandte sich die Frau an ein paar junge Soldaten und wies mit der Hand auf den Detektiv. »Jungs, wollt ihr mir einen Gefallen tun und den Kerl mit nach draußen nehmen?«

»Gerne, Frau Fuchs. Na, was ist, wollen Sie gehen oder müssen wir nachhelfen!« Zwei Burschen kamen drohend auf Maruhn zu und hoben die Fäuste.

»Zurück, ihr Kanaillen! Bin Leutnant Seiner Majestät, des Kaisers und Königs von Preußen a.D. Wurde bei Sedan verwundet und ausgezeichnet. Werde mit euch wohl noch fertig!« Wie von selbst verfiel Maruhn in den schnarrenden Kasernenhofton, der bei preußischen Offizieren üblich war.

Sofort wichen die Soldaten zurück. »Verzeihung! Wollten Sie nicht behelligen, Herr Leutnant!«

»Will nicht so sein. Schwamm drüber! Und was Sie angeht, wissen Sie etwas über Adele Wollenweber oder nicht?«

Das Letzte galt der Bordellwirtin, die nun sichtlich eingeschüchtert war. Ihr Etablissement gehörte zu den schlichteren seiner Art, in dem meist nur kleine Angestellte und Soldaten verkehrten. Ein Feldwebel war schon selten, und sie konnte sich nicht erinnern, dass je ein leibhaftiger Leutnant – wenn auch außer Dienst – es betreten hatte.

»Also, ich habe von dieser Adele Wollenweber noch nie gehört«, sagte sie um einiges verbindlicher.

»Kennen Sie denn jemand, der es wissen könnte?«, bohrte Maruhn weiter.

»Vielleicht fragen Sie zwei Häuser weiter nach, außerdem vielleicht …« Die Frau nannte in schneller Folge mehrere Bordelle, die der Detektiv sich notierte. Zum Abarbeiten dieser Liste würde er etliche Tage benötigen. Dabei sprach die hiesige Puffmutter immer noch weiter. »Wenn diese Adele ein besonders hübsches Mädchen ist, kann sie auch in einem Edelbordell gelandet sein.«

»Und in welchem?«

Die Frau seufzte, denn so ein nobles Haus zu führen war auch einmal ihr Traum gewesen. Die Wirklichkeit jedoch sah anders aus. Nun musste sie zusehen, dass sie genug einfache Mädchen fand, die bereit waren, jedem Mann zu Diensten zu sein, der seine paar Mark Hurenlohn aufbringen konnte.

»Mit den Puffs für die höheren Herrschaften habe ich wenig zu schaffen. Ich kenne im Grunde nur einen, und den auch nur, weil ein guter Freund von mir die dortige Besitzerin geheiratet hat. Es wird Le Plaisir genannt und befindet sich in der Stallschreiberstraße. Die Hausnummer weiß ich nicht, aber Sie müssen nur darauf achten, vor welchem Haus die meisten Droschken und Fiaker halten und Herren aussteigen.«

»Danke!« Maruhn nickte der Frau kurz zu, deutete in Richtung der Soldaten einen militärischen Gruß an, und hinkte zur Tür.

Es war ein Jammer, dass Fridolin von Trettin ihm Adele Wollenweber nicht hatte beschreiben können. Seinen Überlegungen zufolge konnte das Mädchen nicht unansehnlich sein, sonst hätte kein Zuhälter sich die Mühe gemacht, sie in die Stadt zu locken. Die Eisenbahnzüge, die in Berlins Bahnhöfen hielten, spuckten genug junge Frauen aus, die dem Dasein als Magd entrinnen und hier ein neues Leben beginnen wollten. Nicht wenige davon fielen auf die Luden herein, die die Züge beinahe wie Wegelagerer abpassten. Für diese Kerle war es einfacher, sich dort zu bedienen, als zu riskieren, auf dem Land mit ein paar kräftigen Knechten aneinanderzugeraten.

»Also auf ins Le Plaisir!«, sagte Maruhn zu sich selbst, als er auf der Straße stand. Doch dann wurde ihm klar, dass es ihm dort wohl nichts nützen würde, den ehemaligen Kriegshelden hervorzukehren. Zudem schätzte er, dass er für Auskünfte mehr bezahlen musste als die zehn Mark, die er dieser Puffmutter gegeben hatte. Es war eine Zwickmühle. Solange er keine sichtbaren Erfolge aufzuweisen hatte, konnte er sein Spesenkonto bei Grünfelder nicht bedenkenlos überziehen. Aus diesem Grund humpelte er weiter zu dem nächsten Bordell und fragte nach der vermissten Frau. Auch dort wollte niemand Adele Wollenweber kennen.

Erneut erwog er, doch das Le Plaisir aufzusuchen, aber der Gedanke an die besseren Herrschaften und Offiziere, die dort ein und aus gingen, hielt ihn davon ab. Bevor er Männern über den Weg lief, denen das Schicksal einen besseren Weg beschert hatte als ihm, wollte er alle anderen Möglichkeiten ausschöpfen.

Nachdem er weitere vierzig Mark ausgegeben und dabei von zwei Frauen erfahren hatte, die eventuell Adele Wollenweber sein konnten, fühlte Maruhn sich müde und erschöpft und beschloss, die Suche am nächsten Tag weiterzuführen.

Er war nicht gerade in den besten Gegenden Berlins gelandet. Das bewiesen ihm die Männer, die sich in düsteren Hauseingängen und dunklen Ecken herumdrückten und die Huren überwachten, die ein Stück weiter auf jene Freier warteten, die betrunken oder gleichgültig genug waren, um für billigen Geschlechtsverkehr in einem Hinterhof oder einem dunklen Hausflur einen Tripper zu riskieren.

So weit würde Adele Wollenweber bestimmt noch nicht gesunken sein. Er wich daher einer mageren Frau aus, die auf ihn zukam und fragte, ob er nicht mit ihr Verkehr haben wolle.

»Danke, kein Bedarf«, antwortete er und beschleunigte seinen Schritt. Sein schleppender Gang fiel jedoch auf, und an der nächsten Hausecke schälten sich zwei wenig vertrauenerweckende Gestalten aus der Dunkelheit.

»He, Mann, wenn du nicht bumsen willst, dann brauchst du auch kein Geld. Also her mit der Kohle, sonst helfen wir nach!«

Zwei Messer blitzten auf und machten Maruhn klar, dass es den Kerlen ernst mit ihrer Drohung war. Rasch fasste er seinen Gehstock mit beiden Händen, zog am Griff und hielt einen Degen in der Rechten. Bevor der erste Angreifer sichs versah, schlug der Detektiv zu und verletzte den Kerl am Arm.

»Verdammt!«, schrie der Getroffene. »Der Kerl ist bewaffnet!«

»Und bereit, euch beide zur Hölle zu schicken, wenn ihr nicht auf der Stelle verschwindet!«, setzte Maruhn mit eisiger Stimme hinzu.

Während der Verletzte blutend zurückwich, überlegte sein Kumpan, ob er es nicht doch mit dem Versehrten aufnehmen sollte. Er sprang jedoch erschrocken zurück, als die Klinge wie eine Schlange auf ihn zuglitt. Sekunden später war er in der Dunkelheit des Häusergewirrs untergetaucht.

Auch der zweite Schurke hatte das Weite gesucht, und so ging der Detektiv aufatmend weiter zum nächsten Droschkenstand, an dem nur ein einziger Wagen stand. Der Kutscher schlief, wachte aber auf, als Maruhn mit dem Griff seines Stockdegens gegen die Seitenwand klopfte.

»Wo wollen der Herr hinjebracht werden?«, fragte er noch halb benommen.

»Nach Hause«, antwortete der Detektiv und nannte ihm die Adresse, während er in den Wagenkasten stieg und auf den Polstern Platz nahm.

Juliregen
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