XI.

Als Manfred Laabs sich dem Le Plaisir näherte, hatte sich seine Laune merklich gebessert. Er und Pielke würden die entführten Frauen noch einmal betäuben, aus dem Haus schaffen und an einen versteckten Ort verfrachten, der möglichst weit entfernt lag. Dort konnten die Weiber aufwachen und sich den Weg nach Hause suchen. Die Scham würde verhindern, dass sie jemandem von diesem Abenteuer erzählten, und damit war er aus dem Schneider.

Mit diesem Gedanken trat er zur Vordertür und zog am Klingelstrang. Es dauerte unverhältnismäßig lange, bis Anton öffnete. Dieser sah den Ehemann seiner Chefin an, sagte aber nichts, sondern trat nur beiseite, um ihn vorbeizulassen.

»Na, ist heute viel los?«, fragte Laabs mit gespielter Gelassenheit.

»Wie üblich«, antwortete Anton kühl. Auch ihm war bewusst, dass die Entführer Lore von Trettin und deren Freundinnen nicht ohne Laabs’ Unterstützung in dieses Haus hatten bringen können. Daher hätte er den Mann am liebsten auf der Stelle niedergeschlagen, aber ohne Hedes Anweisung wollte er nicht handgreiflich werden. Er sah Laabs hinterher, als dieser durch den Empfangssalon ging und dabei einige Gäste launig grüßte, dann folgte er ihm so lautlos wie ein Schatten.

Laabs ging an den Séparées vorbei, sah, wie eine Tür sich öffnete, und blickte für einen Augenblick in Dela Wollenwebers verächtlich verzogenes Gesicht. Das Mädchen hatte sich jedoch in der Gewalt und forderte eines der anderen Mädchen auf, eine neue Flasche Wein und weitere Leckereien für sich und Herrn von Grünfelder zu bringen.

Unwillkürlich ärgerte Laabs sich über die kleine Hure. Immerhin hatte Dela ihn einmal so glühend geliebt, dass sie bereit gewesen war, für ihn auf den Strich zu gehen. Nun tat sie so, als existiere er nicht mehr für sie.

»Verdammte Weiber!«, murmelte er, als er die Tür zum hinteren Treppenhaus aufsperrte und ins erste Stockwerk hinaufstieg.

Oben war alles ruhig. Dies erleichterte ihn, denn wie es aussah, war nichts von dem Geschehen im Obergeschoss in das untere Bordell gedrungen. Er ging zu dem Raum, den er dem Gutsherrn zur Verfügung gestellt hatte, öffnete die Tür und erwartete Rudi Pielke und den Fotografen sowie die beiden nackten Frauen zu sehen. Doch auf der Ottomane saß Hede, die sich bei seinem Anblick erhob und ihn mit einem Blick musterte, als wäre er das Ekelhafteste, das ihr je über den Weg gelaufen war.

»Du hast dir Zeit gelassen, nach Hause zu kommen«, sagte sie mit beherrschter Stimme. »Daher ist dir entgangen, dass die beiden Damen befreit worden sind. Dein Kumpan – Pielke heißt er wohl – hat das Weite gesucht. Das wird ihm allerdings nichts helfen, denn die Gendarmen sind ihm bereits auf den Fersen!«

Laabs zog es den Boden unter den Füßen weg. Wenn stimmte, was Hede sagte, musste einiges schiefgelaufen sein. Er wollte seine Beteiligung bereits abstreiten, aber Hedes zornerfüllter Blick verriet ihm, dass sie ihm keinen Glauben schenken würde.

»Es sollte doch nur ein Scherz sein«, sagte er kleinlaut.

Hede lachte bitter auf. »Für dich mögen Entführung, das Erstellen entehrender Bilder und versuchte Vergewaltigungen ein Scherz sein. Ich aber – und die überwiegende Mehrheit der Bürger – nenne so etwas ein Verbrechen!«

»Hede, versteh doch! Das wollte ich nicht. Ich …«

Laabs brach ab, denn auf Hedes Gesicht zeichnete sich nun bodenlose Verachtung ab.

»Bis jetzt habe ich dich für einen letztlich sympathischen Gauner gehalten. Doch nun sehe ich, dass du ein jämmerlicher Schwächling bist! Um unseres Sohnes willen bedauere ich nicht, dich geheiratet zu haben. Doch in Zukunft werden sich unsere Wege trennen.«

Es fiel Hede schwer, es auszusprechen, und sie spürte, wie ihr vor Enttäuschung Tränen in die Augen stiegen.

Ihr Mann hob in einer verzweifelten Geste die Hände. »Hede, ich schwöre dir, ich werde mich ändern! In Zukunft werde ich mich von Leuten wie Pielke fernhalten und dir der Mann und unserem Fritz der Vater sein, den du dir wünschst.«

»Dafür ist zu spät«, antwortete Hede so leise, dass Laabs sie nur mit Mühe verstand. »Sobald Pielke verhaftet wird – und das kann noch heute sein –, dürfte er auch deinen Namen nennen. Dann werden die Gendarmen kommen und dich festnehmen.«

Hede schüttelte es bei dieser Vorstellung, und sie starrte ihren Mann an, als wäre er ihr ärgster Feind. »Wenn das geschieht, wird unser Fritz mit dem Stigma aufwachsen müssen, der Sohn eines Zuchthäuslers zu sein!«

»Und was ist er jetzt? Der Sohn einer Hure!«, brach es aus Laabs heraus. Er trat auf Hede zu, um sie zu packen und so lange zu schütteln, bis sie ihm verzieh.

Da blickte er in die Mündung einer Pistole. »Er ist mein Sohn, und er soll unbelastet von den Sünden seines Vaters aufwachsen. Wäre Fritz nicht, würde ich keinen Finger für dich rühren, sondern zusehen, wie du verhaftet und verurteilt wirst. Doch dazu darf es nicht kommen.«

»Du hilfst mir also?« Laabs schöpfte Hoffnung, doch Hedes nächste Worte trafen ihn wie ein kalter Guss.

»Ich werde dir so viel Geld geben, dass du eine Zwischendeckspassage in die Neue Welt bezahlen und drüben die ersten Monate leben kannst. Als Gegenleistung erwarte ich von dir, dass du nie mehr zurückkommst und keinen Anspruch auf unseren Sohn erhebst. Letzteres wirst du mir schriftlich geben.« Mittlerweile hatte Hede sich wieder in der Gewalt, und ihre Stimme klang so kühl, als rede sie über ein gewöhnliches Geschäft.

Ihr Mann überlegte verzweifelt, wie er sich aus dieser üblen Klemme herauswinden konnte. Alles in ihm schrie, einfach davonzulaufen und ein paar Monate ins Land gehen zu lassen. Doch mit den paar Mark, die er in der Tasche hatte, würde er nicht weit kommen. Doch möglicherweise konnte er Hede überlisten, indem er das Geld von ihr nahm und vorerst nach Bayern oder Württemberg verschwand.

Noch während ihr Mann darüber nachsann, forderte Hede ihn auf, mit ihr nach unten zu kommen. Da sie nicht auf die Waffe verzichten wollte, legte sie einen Schal über den Arm, um die Pistole zu verbergen.

Laabs ging vor ihr her und bemühte sich, eine muntere Miene zu wahren. Lächelnd grüßte er ein paar der Mädchen und zog den Hut vor Rendlinger, der Hilma für den ganzen Abend geordert hatte und nun im Salon Champagner mit ihr trank. Der Industrielle beachtete ihn jedoch ebenso wenig wie das Mädchen.

Hede führte ihren Mann ins Büro, öffnete dort ihren Geldschrank und nahm ein Bündel Banknoten heraus. Als sie dieses auf den Tisch legte, zuckten ihre Lippen schmerzhaft.

»Ich kann mir denken, was dir durch den Kopf geht. Doch du wirst den Weg nach Amerika antreten. Daher werde ich dieses Geld auch nicht dir geben, sondern Anton. Er wird mit dir nach Hamburg fahren und die Passage für dich buchen. Das Geld erhältst du ein paar Minuten bevor das Schiff ablegt. Da die Polizei dich bereits suchen dürfte, soll Anton dir seinen Pass geben.«

»Das hast du dir alles fein ausgedacht«, entfuhr es Laabs. »Du hast alles, den Jungen, den Rang einer Ehefrau, das Le Plaisir, während ich …«

»Es hätte anders kommen können, doch das hast du dir selbst verbaut!« Hede nahm eine kleine Klingel und läutete.

Sofort kam eines der Mädchen herein. »Was wünschen Sie, Madame?«

»Schicke Anton zu mir!«

Spätestens in dem Augenblick wusste Manfred Laabs, dass ihm nichts anderes übrigbleiben würde, als auf die Forderungen seiner Frau einzugehen. Anton war Hede ergeben wie ein treuer Hund und würde ihm eher das Genick brechen und dafür ins Gefängnis gehen, als zuzulassen, dass seiner Herrin etwas zustieß. Mit verkniffener Miene musterte Laabs das Geldbündel und versuchte zu schätzen, wie viel es sein mochte. Wenn er sparsam damit umging, konnte er sich in Amerika vielleicht sogar an einem Gasthaus oder Bordell beteiligen. Sich als Farmer den Buckel krummzuarbeiten, hatte er keine Lust, und er wollte auch nicht für einen Hungerlohn in einer der Fabriken arbeiten. Um seine Chancen zu erhöhen, setzte er noch einmal seinen ganzen Charme ein.

»Leg doch bitte noch ein paar Scheine drauf. Denke an unseren Sohn! Du willst doch nicht, dass er einmal hören muss, sein Vater wäre drüben in Amerika verhungert.«

Seine Frau sah ihn kurz an, nahm ein zweites Geldbündel aus ihrem Safe und steckte es mit dem andern zusammen in eine Tasche. Noch während sie den Wandschrank wieder schloss, trat Anton ein.

»Sie wünschen Madame?«

»Anton, du wirst meinen Ehemann nach Hamburg begleiten und dort eine Zwischendeckspassage auf deinen Namen buchen. Ebenso wirst du Herrn Laabs deinen Ausweis geben, damit er damit in die Neue Welt reisen kann.«

»Vergiss nicht das Geld!«, mahnte Laabs seine Frau.

Ein spöttisches Lächeln umspielte Hedes Lippen, als sie weitersprach. »In diesem Beutel steckt eine größere Summe. Kauf davon die Fahrkarten nach Hamburg und die Passage auf dem Schiff. Den Rest übergibst du Herrn Laabs in dem Augenblick, in dem er an Bord geht. Aber achte darauf, dass er das Schiff nicht mehr verlässt!«

Das klang ganz nach einem Verbannungsurteil, dachte Anton erleichtert. Er war froh, dass seine Herrin die Konsequenzen gezogen hatte. Seit Hede Manfred Laabs geheiratet hatte, war er ihr Ungeist gewesen. Nun würde sie endlich wieder die werden können, die sie vorher gewesen war.

Anton salutierte, als wäre er ein Soldat und Hede sein vorgesetzter Offizier. »Madame können sich auf mich verlassen!« Dann wandte er sich an Laabs. »Kommen Sie!«

Dieser sah Hede an. »Willst du mir zum Abschied nichts sagen?«

»Geh mit Gott!«, antwortete sie und legte die Pistole auf den Tisch.

Zum Glück hatte sie das Ding nicht gebraucht, möglicherweise aber würde Anton sie einsetzen müssen. Daher schob sie ihm die Waffe samt der Tasche mit dem Geld zu. Zwar war sie sich sicher, dass ihr Getreuer auch so mit ihrem Mann fertig werden würde, doch sie wollte Manfred zeigen, dass es keinen anderen Weg für ihn gab, als ihr in allen Punkten zu gehorchen.

Anton nahm beides an sich, verstaute die Pistole in seiner Jackentasche und fasste Laabs am Arm. »Kommen Sie! Wir packen jetzt Ihren Koffer, fahren zum Bahnhof und nehmen den ersten Zug, der nach Hamburg fährt.«

Zunächst sah es so aus, als wolle Laabs sich widersetzen, doch dann senkte er den Kopf und ging mit ihm.

Hede sah den beiden nach, schloss die Tür und ließ ihren Tränen freien Lauf. Trotz seiner Fehler hatte sie ihren Mann geliebt, und es tat ihr weh, ihn so scheiden zu sehen.

Sie öffnete das kleine Hängeschränkchen, holte die Cognac-Karaffe und ein Glas heraus und goss sich ein. Als sie trank, bemerkte sie kaum mehr als eine gewisse Schärfe im Mund und wollte nachschenken. Dann zuckte sie zurück. Um ihres Sohnes willen durfte sie keinen Trost im Alkohol suchen. Energisch stellte sie die Flasche wieder in das Schränkchen und setzte sich an ihren Platz. Da klopfte es draußen, und auf ihr »Herein!« schlüpfte Hilma in den Raum.

»Madame, kann ich kurz mit Ihnen sprechen?«

»Jederzeit!« Hede musterte ihr Gegenüber und fand, dass sie selten ein schöneres Mädchen unter ihren Schützlingen gehabt hatte, aber auch kaum ein eigensinnigeres.

»Was gibt es?«

»Herr Rendlinger ist doch seit einigen Wochen mein Stammgast. Heute meinte er, es gefalle ihm nicht, mich länger mit anderen Männern teilen zu müssen. Auch sein Freund Grünfelder wünscht sich eine Freundin, die nur ihm zur Verfügung steht. Gemeinsam haben sie überlegt, ob sie Dela und mir nicht so viel Geld geben sollten, dass wir uns ein kleines, aber exklusives Bordell einrichten können. Auf das Ambiente und den Reiz, den ein solches ausstrahlt, wollen die Herren nämlich nicht verzichten. Sie, Madame, müssten uns dafür aus Ihren Diensten entlassen.«

Ein Gedanke schoss Hede durch den Kopf, und sie beugte sich interessiert vor. »Dela und du, ihr wollt also, um es derb auszudrücken, Puffmütter werden?«

»Den Herren wäre sehr daran gelegen, dass die beiden Chefinnen nur für sie reserviert wären«, erklärte Hilma mit leuchtenden Augen.

»Das ließe sich machen, aber auf andere Weise, als du denkst!«

Hede war schon länger klar, dass ihr nicht mehr viel am Le Plaisir lag. Lieber denn je würde sie das Bordell in andere Hände geben. Wenn Rendlinger und Grünfelder den beiden so viel Geld gaben, dass es ihr als Abstandssumme reichte, konnten Hilma und Dela das Le Plaisir übernehmen. Sie selbst war wohlhabend genug, um sich mit ihrem Sohn irgendwo in der Provinz ein Haus zu kaufen und dort ein bürgerliches Leben zu beginnen.

Juliregen
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