VI.

Rodegard von Philippstein war in dem festen Glauben auf dieses Gut gekommen, eine halbe Ruine anzutreffen, in der Lore ebenso verzweifelt wie vergeblich versuchte, sich häuslich einzurichten. Da sie nicht das erhoffte Chaos vorfand, äußerste sie sich herablassend über die unmodischen Barockmöbel und kritisierte die bereits eingerichteten Zimmer aufs boshafteste, so dass Jürgen immer mehr die Schultern hängen ließ. Auch von Bukow und von Gademer nutzten jede Gelegenheit, die Arbeit ihres Vetters schlechtzumachen. Jeder von ihnen hätte das Herrenhaus natürlich völlig anderes eingerichtet, ohne jedoch sagen zu können, woher er die entsprechenden Möbel genommen hätte.

Obwohl Lore sich zunehmend über dieses Gerede ärgerte, hielt sie den Mund und bedeutete Nathalia, sich ebenfalls aller Widerworte zu enthalten.

»Oh, ich sage schon nichts«, flüsterte ihre Freundin mit einem Lächeln, das nur ein Fremder als freundlich bezeichnet hätte. »Ich bedauere lediglich, dass in den Betten wirklich keine Wanzen sind und ich auch nicht weiß, wo ich welche auftreiben könnte. Es wäre für die beiden Philippsteinerinnen und Graf Nehlens aufgeblasene Neffen gerade die richtige Strafe, eine Nacht in deren Gesellschaft zu verbringen.«

Die Tatsache, dass Nathalia auch über Leutnant Bukow herzog, hätte Lore beruhigen können, denn dieser war wahrlich kein Mann, den sie sich für ihre Freundin wünschte. Da sie Nathalia und deren fatale Vorliebe für unpassende Scherze kannte, war sie jedoch eher besorgt und hätte die Gäste am liebsten noch am selben Tag verabschiedet. Dazu aber war es bereits zu spät, denn sie hätten Nehlen erst in der Dunkelheit erreicht. Daher schärfte sie Nathalia ein, sich aller Bosheiten zu enthalten, die ihr durch den Kopf gehen mochten.

Nathalia seufzte. »Also gut! Dir zuliebe halte ich Waffenstillstand, obwohl Rodegard und ihre Gottlobine ein Regiment blutgieriger Wanzen verdient hätten, und die beiden Herren ebenfalls. Doch nun komm! Graf Nehlen will auch den Rest des Hauses besichtigen, und ich möchte doch hören, was unsere lieben Gäste dazu sagen. Irgendwann kommt ganz sicher die Gelegenheit, ihnen ihre Gemeinheiten zurückzuzahlen.«

Diesen Tag fürchtete Lore fast noch mehr als den heutigen, doch sie wusste, dass sie Nathalia nicht davon würde abhalten können, Rache zu üben. Im Grunde juckte es auch sie in den Fingern, es der impertinenten Rodegard zu zeigen. Doch dafür brauchte sie dringend Möbel, die dem Zeitgeist entsprachen, und vor allem einen vollständig ausgestatteten Ballsaal und eine Einrichtung für den großen Speisesaal, in dem mehr als ein halbes Hundert Gäste verköstigt werden konnten.

»Sehr bäuerlich«, kommentierte Rodegard von Philippstein eben die beiden Betten, die ihrer Tochter und ihr zugedacht waren.

»Wir sind ja auch auf dem Land, liebste Mama. Hier mag dieser Stil passen«, warf Gottlobine säuselnd ein.

»Ich liebe das Land«, antwortete ihre Mutter mit einem berechnenden Seitenblick auf Graf Nehlen, um sich dann erneut Lore zuzuwenden. »Vielleicht werden wir ja bald Nachbarinnen. Meine Gottlobine liebt Nehlen und wünscht sich nichts mehr, als dem Erben unseres lieben Verwandten ihre Hand reichen zu können.«

Kaum hatte sie es gesagt, stellten Gademer und Bukow sich neben dem Mädchen in Positur.

Graf Nehlen musterte beide und schüttelte unmerklich den Kopf. Gottlobine allein hätte er vielleicht noch hingenommen, doch der Gedanke, auch deren Mutter und die Schwestern am Hals zu haben, jagte ihm Schauder über den Rücken. Er enthielt sich jedoch jeglichen Kommentars, betrachtete die bereits eingerichteten Zimmer und machte sich seine eigenen Gedanken. Faul waren Lore, Nathalia und sein Neffe Jürgen wahrlich nicht gewesen, und sie hatten aus den beschränken Möglichkeiten das Beste gemacht. Nun aber glitten Nehlens Überlegungen in eine andere Richtung, und er gab einen ärgerlichen Laut von sich.

»Was ist mit Ihnen, liebster Onkel?«, fragte Gademer sofort.

»Wegen unseres hastigen Ausflugs hierher habe ich etwas Wichtiges zu Hause vergessen.«

Leutnant Bukow schätzte die Zeit ab, die ihm bis zum Einbruch der Dunkelheit noch blieb, und deutete einen militärischen Gruß an. »Stehe bereit, um nach Nehlen zu reiten und es zu holen, liebster Oheim!«

»Das ist nichts, was man einfach mitnehmen kann.« Nehlen schüttelte den Kopf, denn er kannte den Leutnant mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass dieser seinen Gaul halb zuschanden reiten würde. »Es geht auch nicht, denn ebenso wie Edgar hast du dich den Damen Philippstein als Kavalier angeboten. Es wäre unhöflich von dir, ihnen deine Gesellschaft zu entziehen.«

»Damit ist es auch mir unmöglich, Ihnen diesen Gefallen zu erweisen, lieber Onkel«, erklärte Gademer sichtlich erleichtert.

»So ist es«, konstatierte Nehlen und sah Jürgen auffordernd an. »So bleibt die Sache wohl an dir hängen!«

»Was soll ich tun, Onkel?«

»Es geht um einen Hirsch in meinem Forst. Das Tier wurde mir als krank gemeldet und müsste dringend geschossen werden. Es kommt jeden Abend bei Dämmerung an den kleinen See. Du kannst den Hirsch nicht verkennen, denn seine linke Geweihstange ist nicht vollständig ausgebildet. Schieß das verkrüppelte Tier und bring es zum Gut. Hast du verstanden?«

»Ja, aber … ich …« Jürgen wollte sagen, dass er noch nie auf ein lebendes Wesen gezielt und es getötet hatte, doch die höhnischen Blicke seiner Vettern ließen diese Worte nicht über seine Lippen kommen. »Wenn es Ihr Wunsch ist, Onkel, werde ich umgehend aufbrechen.«

»Bis dieser Sonntagsreiter Nehlen erreicht, ist die Nacht hereingebrochen und der Hirsch längst wieder im Forst verschwunden«, spottete von Bukow.

Gademer hatte eine ähnlich bissige Bemerkung auf den Lippen, sagte sich jedoch, dass dieses Thema den Damen Philippstein nicht gefallen dürfte, und führte diese in den nächsten Raum, der gänzlich leer war.

Frau Rodegard sah sich um und musste lachen. »Ich bin ja gespannt, ob das Vermögen der Trettins ausreicht, dieses Haus je vollständig einrichten zu lassen. Man hört ja, Graf Fridolin besäße nicht einmal genug Geld, um die Schulden zu bezahlen, die noch auf dem Gut lasten.«

Lore sagte nichts dazu, schwor sich aber, alles zu tun, um Frau von Philippstein so bald wie möglich der Lüge zeihen zu können.

Jürgen achtete nicht auf das Geschwätz, sondern trat auf Lore zu und bat, sich verabschieden zu dürfen. »Verzeihen Sie, Frau Gräfin, aber ich kann mich dem Willen meines Onkels nicht entziehen!«

»Selbstverständlich gebe ich Ihnen Urlaub, bis Sie wieder in der Lage sind, uns zu helfen.« Da sie sich immer noch über Rodegard von Philippstein ärgerte, entging ihr der verzweifelte Unterton in der Stimme des jungen Mannes.

Nathalia aber bemerkte seinen inneren Aufruhr und dachte sich ihren Teil. Jürgen war weder ein strammer Reiter, noch hatte er sich bisher als Waidmann ausgezeichnet. Da Graf Nehlen dies ebenfalls wusste, ärgerte sie sich über den alten Herrn. Bei diesem Auftrag musste Jürgen zwangsläufig scheitern und würde hinterher dem Spott seiner Vettern und der beiden Damen Philippstein ausgeliefert sein.

Mit zusammengebissenen Zähnen sah sie zu, wie Jürgen aus dem Haus trat, seinen Wallach satteln ließ und sich recht kraftvoll auf ihn schwang. Obwohl er bereits um einiges besser ritt als zu Beginn ihrer Bekanntschaft, würde er sich schwertun, rechtzeitig nach Nehlen zu gelangen, um sich dort eine Jagdflinte geben zu lassen.

Während Lore ihre Gäste weiter durch das Herrenhaus führte und Rodegard von Philippstein im Geiste mindestens einmal pro Raum erwürgte, schweiften Nathalias Gedanken immer wieder ab. Sie sah Jürgen vor sich, der schneller über das Land ritt, als er eigentlich verantworten konnte, um eine Aufgabe zu erfüllen, für die er im Grunde vollkommen ungeeignet war. Im Gegensatz zu ihm würden von Gademer und Leutnant Bukow auf jeden Fall rechtzeitig nach Nehlen kommen und den kranken Hirsch erlegen, ohne dabei mit der Wimper zu zucken.

Das Geräusch eines heranrollenden Wagens unterbrach Nathalias Überlegungen. Sie eilte an ein Fenster, blickte hinaus und sah unten eine große Kutsche stehen, der soeben Dorothea Simmern entschwebte.

»Lore, wir bekommen weiteren Besuch«, sagte sie und merkte erst dann, dass sie allein im Zimmer stand.

Sie eilte den Stimmen nach und unterbrach Rodegard von Philippsteins Vortrag über eines der Gästezimmer, das in deren Augen längst hätte eingerichtet werden müssen.

»Liebste Lore, eben ist Dorothea Simmern vorgefahren. Wollen wir sie nicht begrüßen?«

Lore zuckte zusammen. »Dorothea, sagst du? Bei Gott, wir haben kein einziges Bett mehr für sie frei.«

»Du willst sie doch hoffentlich nicht wieder wegschicken?«

»Natürlich nicht! Nur kommt sie heute äußerst ungelegen. Wir werden sehen müssen, wie wir sie unterbringen. Ach, ich weiß es. Sie wird mit dir zusammen im Barockbett schlafen. Ich ziehe mich in eine der Gesindekammern zurück, in der noch ein Bett steht.«

»Ja, mit einem durchgelegenen Strohsack.« Nathalia seufzte, denn sie würde Lore von diesem Plan nicht abbringen können. Oder gab es doch eine Möglichkeit?

»Halt, Frau Gräfin! Du wirst heute mit Dorothea das Bett teilen. Ich reite nach Steenbrook zurück und sehe zu, dass die Schlafzimmer, die ich dir versprochen habe, morgen gebracht werden.«

Lore schüttelte heftig den Kopf. »Dafür ist es zu spät. Du würdest heute nicht mehr bis Steenbrook gelangen. Außerdem kannst du nicht allein reiten!«

»Wir sind hier nicht in der Stadt, wo eine Dame selbstverständlich von einem Kavalier oder Reitknecht begleitet werden muss. Außerdem kann ich unterwegs auf Nehlen übernachten.«

»Ich weiß nicht …«, begann Lore, wurde aber von Nathalia unterbrochen.

»Du weißt sehr wohl, dass es sein muss. Wir brauchen mehr Betten! Denke nur an Fridolin. Er ist zwar nach Bremen gefahren, um mit Onkel Thomas zu sprechen. Aber sobald er zurück ist, brauche ich hier ein eigenes Zimmer und damit auch ein Bett. Und dann gibt es ja auch noch Konrad! Sollte Onkel Thomas ebenfalls kommen, müssten diese Besucher wirklich im Heu schlafen.«

Lore fielen zehn Gründe ein, die gegen Nathalias Plan sprachen, aber keiner, der handfest genug gewesen wäre, die junge Dame von einem Ritt in die Dämmerung abzuhalten. »Also gut«, sagte sie zuletzt zerknirscht. »Du wirst aber wohl noch die Höflichkeit haben, Dorothea zu begrüßen.«

»Sobald ich mich umgezogen habe!« Mit diesen Worten entschwand Nathalia und ließ Lore mit ihren Gästen allein.

Rodegard von Philippstein warf ihr einen indignierten Blick nach. »Die Komtess Retzmann hat ein sehr spontanes Wesen. So etwas mögen die Herren nicht.«

»Nein, die wollen so eine Transuse wie deine Tochter, bei der man am Morgen schon weiß, was sie beim Abendessen erzählen wird«, durchfuhr es Lore, und für einen Augenblick befürchtete sie, diese Bemerkung laut ausgesprochen zu haben.

Da Frau Rodegard noch immer in die Richtung sah, in die Nathalia verschwunden war, war dies wohl nicht der Fall gewesen. Doch dann sah sie Graf Nehlen amüsiert lächeln und eine Geste machen, als wolle er ihr applaudieren.

Lore hatte jedoch an anderes zu denken als an die boshafte Dame oder den alten Herrn. »Ich bedauere, die Hausführung für den Augenblick unterbrechen zu müssen, doch es ist ein weiterer lieber Gast erschienen, den ich nicht auf dem Hof stehen lassen will.«

Während ihr Graf Nehlen beipflichtete, zeigte Rodegard von Philippstein mit einem Schnauben, was sie von einer Frau bürgerlichen Standes wie Dorothea Simmern hielt, mochte deren Ehemann auch einer der wichtigsten Repräsentanten des Norddeutschen Lloyds und äußerst vermögend sein.

Juliregen
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