IX.

Am nächsten Morgen sah Fridolin Lore und Nathalia nur kurz, denn die beiden hatten tatsächlich verschlafen. Er neckte sie ein wenig, trank seinen Kaffee aus und machte sich reisefertig. Als er zur Tür hinaustrat, lag sein Gepäck bereits auf dem Wagen. Der Kutscher würde es am Bahnhof den Dienstmännern übergeben, die es in den Zug nach Berlin laden sollten.

Lore und Nathalia sahen vom Frühstückstisch aus seiner davonrollenden Kutsche nach, dann versetzte Nathalia Lore einen leichten Stoß. »Jetzt sind wir allein und können tun und lassen, was wir wollen!«

»Ich habe nicht vor, über die Stränge zu schlagen«, wies Lore sie sanft zurecht.

»Gelegentlich muss man das!« Nathalia zwinkerte ihr zu und befahl, Frühlingsmaid gegen zehn Uhr zu satteln, weil sie dann ausreiten wollte.

»Und was machst du? Du nähst doch hoffentlich nicht schon wieder?«, fragte sie Lore.

Genau das hatte ihre Freundin vor, behauptete aber, auf der Terrasse sitzen und lesen zu wollen.

Nathalia grinste. »Gib doch zu, du nähst!«

Dabei nahm sie sich vor, dafür zu sorgen, dass ihre Freundin genug Bewegung bekam, und griff sich ein Brötchen, das sie dick mit Butter bestrich und anschließend mit einer großen Scheibe Schinken belegte.

Unterdessen genoss Fridolin die Fahrt in dem offenen, wenn auch recht unmodischen Wagen, der, von zwei großen schwarzen Pferden gezogen, in flottem Tempo Richtung Verden fuhr, und freute sich darauf, bald auf Klingenfeld zu sein.

Am Bahnhof reichte er dem Kutscher und den Dienstleuten je eine halbe Mark und fuhr mit dem Zug nach Eystrup. Dort sah er sich vergeblich nach einer Droschke um. Ein zuvorkommender Bahnbeamter schickte einen Jungen los, den Wagen des Wirts zu holen, der sich mit dem Geschäft ein kleines Zubrot verdiente.

Dankbar forderte Fridolin kurz darauf den Wirtsknecht auf dem Kutschbock auf, ihn zum Klingenfelder Gutshof zu fahren. Da kaum Verkehr herrschte und das Zweiergespann den Weg fast von selbst fand, drehte der Wirtsknecht sich immer wieder zu seinem Fahrgast um. »Sie kommen wohl aus Berlin, was?«

Fridolin bejahte die Frage, da er dem Gespräch mit einem Einheimischen nicht abgeneigt war.

»Sind wohl wegen dem Baron Anno hier! Da werden Sie aber Pech haben. Der hat sich schon seit zwei Wochen nicht mehr blicken lassen. Hat zu viele Schulden, heißt es. Auch bei Ihnen?«

Das war Fridolin dann doch etwas zu persönlich. »Ich bin im Auftrag eines Bankhauses hier.«

»Ach, da werden Sie keine Freude haben. Das Gut war mal ertragreich, aber das ist lange her. Hat nichts mehr machen lassen, der Baron Anno. Da war der Vater ein ganz anderes Kaliber. Wollte eine Fabrik bauen, und viele Leute hier haben gehofft, dort Arbeit zu finden. Hat sich aber übernommen, der alte Baron, und diese bucklige Welt schließlich mit einer Kugel im Kopf verlassen. Der hätte sich nicht so mit den Nachbarn streiten sollen! Das war sein Untergang. Der junge Baron ist keiner von hier, auch wenn er auf Klingenfeld geboren worden ist. Das ist ein Städter, sage ich Ihnen, einer von denen, die das Gesicht verziehen, wenn sie ehrlichen Mist riechen. Ich sage Ihnen …«

Fridolin ließ den Kutscher reden und ermunterte ihn zwischendurch sogar mit kurzen Bemerkungen. Es war ihm wichtig, was die einfachen Leute von Klingenfeld und dem letzten Herrn des Gutes hielten. Besonders angesehen war Baron Anno offensichtlich nicht, das konnte er den Ausführungen des Knechts unschwer entnehmen.

»… war auch zu sehr hinter den Weibern her, und zwar nicht nur hinter Mägden, sondern auch hinter ehrsamen Bauerntöchtern. Und seine Freunde erst, die zu Besuch kamen! Die taten direkt so, als wären wir Wilde, die nicht lesen und schreiben können«, berichtete der Mann weiter.

In Fridolin formte sich ein nicht gerade schmeichelhaftes Charakterbild des jungen Barons. Auch dessen Berliner Freunde schienen keine lauteren Menschen gewesen zu sein. Er musste an den angeblichen Zuhälter denken, der eines der hiesigen Mädchen in die Stadt gelockt haben sollte.

»War da nicht mal eine Sache mit einer Magd, die mit nach Berlin gegangen ist?«, fragte er beiläufig.

Der Kutscher spie angewidert aus und schüttelte den Kopf. »Sie meinen Dela, dieses dumme Ding! Hätte den Hinner haben können, den Vorarbeiter auf dem Gut! Aber ein Knecht hat ihr nicht gepasst. Die ist schließlich mit einem der Kerle nach Berlin gegangen, weil sie sich eingebildet hat, dort was Besseres zu finden. Letztes Weihnachten war sie noch einmal bei ihren Leuten. Hat zwar nichts gesagt, die dumme Pute, aber man hat ihr angemerkt, als was sie arbeitet. Dabei haben ihr schon vorher alle prophezeit, dass sie in einem Sündenbabel endet.«

Fridolin wollte den Mann nach dem Familiennamen des Mädchens fragen, doch sie hatten den Gutshof bereits erreicht, und der Kutscher fuhr vor dem Herrenhaus vor.

»So, da sind wir!«

Fridolin nickte angespannt, stieg aus und bat ihn zu warten.

»Ist Ihr Geld«, antwortete der Kutscher und lenkte sein Gespann unter das Vordach der Remise, damit die Gäule nicht in der prallen Sonne stehen mussten.

Fridolin sah sich um und fand den Zustand der Gebäude sowie der meisten Felder und Wiesen nicht so schlimm wie befürchtet. Wie auf Steenbrook bildeten große, reetgedeckte Hallenhäuser aus Klinkersteinen die Wirtschaftsgebäude, während das zweistöckige Herrenhaus aus mit grünem Fachwerk abgesetzten Klinkern bestand und mit Ziegeln gedeckt war. Die meisten Fensterläden waren geschlossen und gaben dem Bau eine abweisende Note. Dennoch gefiel Fridolin das stattliche Anwesen.

Allerdings herrschte nichts von jener Betriebsamkeit, die er von Steenbrook her gewohnt war, und auf den Weiden war kein Vieh zu sehen. Im ersten Augenblick befürchtete er, sich im Tag geirrt zu haben. Doch es war gewiss nicht Sonntag. Lore und er waren am Donnerstag nach Steenbrook gekommen und am Tag darauf in Nehlen gewesen. Also musste Sonnabend sein, und an dem Tag wurde auf Bauernhöfen und Landgütern gearbeitet.

Mit ungewohntem Herzklopfen stieg er die Freitreppe zum Hauptgebäude hoch, das noch von der großen Zeit derer von Klingenfeld kündete, und schlug den Türklopfer an. Es dauerte, bis er innen schlurfende Schritte vernahm.

»Wer ist da?«, fragte eine Frau missmutig.

»Mein Name ist Trettin. Ich komme vom Bankhaus Grünfelder aus Berlin«, antwortete Fridolin mit lauter Stimme.

Die Tür schwang auf, und eine ältere Magd stierte ihn aus kurzsichtigen Augen an. »Wenn Sie Baron Anno suchen, der ist seit zwei Wochen nicht mehr hier gewesen!«

»Ich möchte den Verwalter sprechen«, erklärte Fridolin kurz angebunden.

»Der ist da drüben!« Die Magd wies auf ein kleineres Gebäude, das etwa hundert Meter entfernt lag, und schlug die Tür wieder zu.

Kopfschüttelnd wandte Fridolin sich ab. Hier musste wirklich jemand mit eisernem Besen kehren. Einige Augenblicke zweifelte er daran, dass er fähig war, sich so durchzusetzen, wie dieses Gut es erforderte. Dann schüttelte er seine Zweifel ab, ging zum Verwalterhäuschen hinüber und klopfte.

Auch hier dauerte es, bis jemand aufmachte. Diesmal war es ein Mann seines Alters, der einen halben Kopf größer und einiges breiter war als er. Das breitflächige Gesicht des Verwalters war gerötet, die blonden Haare hingen ihm wirr ins Gesicht, und die Augen wirkten verschleiert. Vor allem aber strömte er einen so starken Alkoholdunst aus, dass es Fridolin übel wurde.

»Was wollen Sie?«, fragte der Mann mit schwerer Zunge.

»Mein Name ist Trettin. Ich komme vom Berliner Bankhaus Grünfelder. Dieser Besitz wurde uns als Pfand übereignet. Daher will ich nachsehen, mit welchem Wert er zu schätzen ist.«

Der Verwalter verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Du wirst hier überhaupt nichts schätzen, Federkielschwinger! Los, verschwinde! Sonst mache ich dir Beine.«

»Ich glaube, Sie verkennen die Lage. Mein Bankhaus hat einen einlösbaren Titel auf dieses Gut. Es ist meine Pflicht, hier nach dem Rechten zu sehen.« Fridolin dachte nicht daran, zu weichen, und funkelte den Verwalter zornig an. Dabei kam ihm der Ausspruch Graf Nehlens in den Sinn, dass er als Erstes diesen Mann davonjagen solle. Nach dem Auftreten des Kerls war er kurz davor, es jetzt und auf der Stelle zu tun.

Der Verwalter drohte Fridolin mit der Faust. »Mach, dass du fortkommst, und lass dich hier nicht mehr blicken!«

Da Fridolin keine Anstalten machte, dem Folge zu leisten, verschwand er im Haus und kehrte mit einer Jagdflinte zurück.

»Wird’s bald!«, herrschte er seinen Besucher an und richtete die Waffe auf ihn.

Fridolin begriff, dass er im Augenblick nichts erreichen konnte, und kehrte dem Mann voller Zorn den Rücken. Betrunken, wie der Kerl war, traute er ihm zu, auf ihn zu schießen. Doch ungeschoren, das schwor es sich, sollte der Verwalter nicht davonkommen. Um etwas gegen ihn unternehmen zu können, benötigte er jedoch einen vollstreckbaren Titel und ein paar Gendarmen, die dem Kerl zeigen würden, wo der Zimmermann die Tür gemacht hatte.

»Das war aber ein kurzer Besuch«, empfing ihn der Kutscher, der alles mit angehört hatte, mit einem breiten Grinsen.

»Der Mann ist völlig betrunken – und das am helllichten Tag! Wo sind eigentlich die Knechte und Mägde, die zu so einem Gut gehören?«, fragte Fridolin grimmig.

»Die haben fast alle den Dienst aufgesagt, weil sie keinen Lohn mehr erhalten haben. Da auch das meiste Vieh verkauft ist, hat der Herr Verwalter genügend Zeit für seinen Schnaps.« Der Kutscher streckte die Hand aus, um Fridolin in den Wagen zu helfen, doch der missachtete die Geste und stieg ein.

»Bringen Sie mich zum Bahnhof zurück!«, befahl er und legte sich auf dem Weg dorthin die Worte zurecht, mit denen er Grünfelder und Dohnke von seiner Reise berichten wollte. Erst kurz vor dem Bahnhof erinnerte er sich wieder an das Bauernmädchen, das von einem Freund des jungen Barons nach Berlin gelockt worden war, und fragte den Kutscher nach dem Namen.

»Ich sagte schon, sie heißt Dela. Getauft wurde sie auf den Namen Adele. Ein recht neumodischer Name, wenn Sie mich fragen. Normal heißen die Mädchen hier so, wie bereits die Großmütter genannt wurden. Die Eltern hätten auch ihr einen solchen Namen geben sollen. So aber hatte sie von Anfang an das Gefühl, dass sie etwas Besonderes sein müsse.«

Da der Bahnhof immer näher kam, bremste Fridolin die Ausführungen des Wirtsknechts. »Ist ja alles gut und schön, aber können Sie mir den Familiennamen dieser Adele nennen?«

»Wozu brauchen Sie denn den?«, fragte der Mann verwundert.

Der Wagen stand bereits, also stieg Fridolin aus und blieb neben dem Kutschbock stehen. »Ich will wissen, was es mit dem jungen Klingenfeld und dessen Freunden auf sich hat. Immerhin hat der Baron das Gut auf den Hund kommen lassen und damit auch die Bank geschädigt, die den Kredit für eine florierende Landwirtschaft mit intakten Gebäuden, Geräten und Viehbestand gegeben hat.«

»Deswegen wollen Sie Baron Anno nicht davonkommen lassen!« Für einen Moment kämpfte der Kutscher mit sich, ob er Fridolin helfen sollte, einem Einheimischen Schwierigkeiten zu machen, sagte sich dann aber, dass Anno von Klingenfeld sich nie um die Leute hier gekümmert und ihnen stets seine Berliner Freunde vorgezogen hatte.

»Sie heißt Adele Wollenweber, ist ein hübsches Mädchen und müsste jetzt achtzehn Jahre alt sein. Eine Schande, was aus ihr geworden ist.«

»Danke schön!« Fridolin reichte dem Kutscher ein Zweimarkstück und sah, wie sich dessen Augen beim Anblick der Münze weiteten.

»Aber das ist doch viel zu viel!«

»Sie haben es sich verdient«, antwortete Fridolin und hoffte, dass er sich mit dieser Aussage nicht irrte.

Juliregen
cover.html
haupttitel.html
chapter1.html
chapter2.html
chapter3.html
chapter4.html
chapter5.html
chapter6.html
chapter7.html
chapter8.html
chapter9.html
chapter10.html
chapter11.html
chapter12.html
chapter13.html
chapter14.html
chapter15.html
chapter16.html
chapter17.html
chapter18.html
chapter19.html
chapter20.html
chapter21.html
chapter22.html
chapter23.html
chapter24.html
chapter25.html
chapter26.html
chapter27.html
chapter28.html
chapter29.html
chapter30.html
chapter31.html
chapter32.html
chapter33.html
chapter34.html
chapter35.html
chapter36.html
chapter37.html
chapter38.html
chapter39.html
chapter40.html
chapter41.html
chapter42.html
chapter43.html
chapter44.html
chapter45.html
chapter46.html
chapter47.html
chapter48.html
chapter49.html
chapter50.html
chapter51.html
chapter52.html
chapter53.html
chapter54.html
chapter55.html
chapter56.html
chapter57.html
chapter58.html
chapter59.html
chapter60.html
chapter61.html
chapter62.html
chapter63.html
chapter64.html
chapter65.html
chapter66.html
chapter67.html
chapter68.html
chapter69.html
chapter70.html
chapter71.html
chapter72.html
chapter73.html
chapter74.html
chapter75.html
chapter76.html
chapter77.html
chapter78.html
chapter79.html
chapter80.html
chapter81.html
chapter82.html
chapter83.html
chapter84.html
chapter85.html
chapter86.html
chapter87.html
chapter88.html
chapter89.html
chapter90.html
chapter91.html
chapter92.html
chapter93.html
chapter94.html
chapter95.html
chapter96.html
chapter97.html
chapter98.html
chapter99.html
chapter100.html
chapter101.html
chapter102.html
chapter103.html
chapter104.html
chapter105.html
chapter106.html
chapter107.html
chapter108.html
chapter109.html
chapter110.html
chapter111.html
chapter112.html
chapter113.html
chapter114.html
chapter115.html
chapter116.html
chapter117.html
chapter118.html
chapter119.html
chapter120.html
chapter121.html
chapter122.html
chapter123.html
chapter124.html
chapter125.html
chapter126.html
chapter127.html
chapter128.html
chapter129.html
chapter130.html
chapter131.html
chapter132.html
info_autor.html
info_buch.html
impressum.html
hinweise.html