III.

Ottwald von Trettin ahnte nicht, dass ein Lauscher unter einem der Fenster seine Ohren spitzte, um kein Wort zu verpassen. Zwar begriff Dirk Maruhn noch nicht, was da drinnen gespielt wurde, aber ihm war klar, dass es ein perfides Spiel war. Er hatte den Kutscher mit der Droschke zurückkommen sehen und die Passagiere beim Aussteigen beobachtet. Alle drei Damen zählten zur höheren Gesellschaftsschicht, waren vielleicht sogar von Adel. Der junge Mann in ihrer Begleitung machte hingegen den Eindruck eines weltfremden Künstlers. Nun fragte der Detektiv sich, warum diese Leute ins Le Plaisir geschafft werden sollten. Er hatte Hede Laabs kennengelernt und nicht den Eindruck gewonnen, als würde sie sich an unsauberen Geschäften beteiligen.

Ein Geräusch lenkte seine Aufmerksamkeit auf die Einfahrt. Dort entdeckte er den Ehemann der Puffmutter, der mit zufriedenem Gesichtsausdruck aus dem Haus trat und mithalf, drei reglose Gestalten in einen geschlossenen Wagen zu heben, vor den der gleiche Gaul gespannt war, der die offene Droschke gezogen hatte. Laabs bestieg mit dem Gutsherrn und der älteren Dame das Gefährt.

»Fahr du schon mal los!«, rief Pielke seinem Kumpan zu. »Wir gehen zur nächsten Hauptstraße und kommen mit dem Pferdeomnibus nach.«

»Beeilt euch aber! Wir wissen nicht, wie lange das Betäubungsmittel wirkt. Ich will nicht, dass die Weiber in meinem Wagen aufwachen und zu kreischen anfangen«, drängte der Kutscher.

»Dann sollten wir sie fesseln und knebeln«, schlug Malwine vor.

Ihr Sohn schüttelte den Kopf. »Bei all den Staus auf den Straßen muss der Wagen zu oft stehen bleiben. Wenn dann jemand durch das Fenster im Schlag schaut, sieht er die Frauen gebunden liegen und verständigt womöglich die Gendarmerie. So aber wirken die drei, als wären sie nach einem längeren Spaziergang eingeschlafen.«

»Das Mittel ist so bemessen, dass die Betäubung die halbe Nacht anhält. Also machen Sie sich keine Sorgen!«, beteuerte Laabs.

Maruhn beobachtete den Kastenwagen, bis dieser vom Hof verschwunden war, und wollte sogleich zu seiner eigenen Droschke zurückkehren, um dem Zuhälter und dessen Begleitern zu folgen. Doch sein Fuß stockte, als ihm der junge Mann einfiel, der die drei entführten Damen begleitet hatte. Er beobachtete, wie Pielke und einer der beiden anderen Männer sich auf den Weg machten. Also blieb nur noch jener übrig, den der Detektiv für einen Einsteigdieb hielt. Mit dem glaubte er, im Notfall fertig zu werden.

Maruhn probierte aus, ob sich der Stockdegen rasch ziehen ließ, und wollte schon um die Ecke in den Hof gehen, als Maxe mit einer Schubkarre aus der Einfahrt kam, deren Inhalt mit einer Plane bedeckt war. Obwohl die Karre offensichtlich schwer beladen war, schob der Mann sie mit einem fröhlichen Pfeifen die Straße entlang und bog ein Stück weiter vorne ab.

Ohne zu zögern, hinkte Maruhn hinter ihm her. Nicht lange, da verließ Maxe die Straße und wählte einen holprigen Waldweg, der nach wenigen hundert Metern vor einem großen Loch endete, das fast zur Gänze mit Abfall gefüllt war. Dort kippte er die Schubkarre um, und Maruhn sah, wie der junge Begleiter der entführten Frauen in das Schuttloch fiel.

»Die Schurken haben ihn umgebracht«, sagte der Detektiv zu sich selbst und überlegte, ob er den Kerl mit der Schubkarre festnehmen sollte. Doch wenn er das tat, würde er es sich selbst unmöglich machen, etwas zugunsten der drei Damen zu unternehmen. Deshalb zog er sich zunächst in den Wald zurück und sah aus der Deckung der Bäume heraus zu, wie sich der Dieb mit der leeren Schubkarre auf den Heimweg machte.

Kaum war Maxe außer Sicht, eilte Maruhn zur Müllkippe und sah hinab. Der junge Mann lag zwei Meter tiefer auf ein paar alten Säcken. Ächzend kletterte der Detektiv nach unten und presste die Finger auf den Hals des Mannes, um zu fühlen, ob noch Leben in ihm war. Als er das langsame, aber stete Pochen der Halsschlagader spürte, atmete er auf. Kurz entschlossen hob er den Bewusstlosen an und zerrte ihn nach oben. Er konnte ihn jedoch nicht weitertragen, denn nach dieser kurzen Anstrengung keuchte er bereits wie ein defekter Blasebalg. Daher legte er den jungen Mann auf die Erde und musterte ihn.

Die Schufte hatten ihr Opfer bis auf die Unterhose ausgezogen und einfach auf den Müll geworfen. Dort wäre er entweder umgekommen oder von dem nächsten Gendarmen wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses festgenommen worden. In beiden Fällen hätte er nichts für seine Begleiterinnen tun können.

Da die Schurken unterwegs ins Le Plaisir waren, wollte Maruhn ihnen folgen, um das Schlimmste zu verhindern. Doch er konnte den Betäubten nicht neben der Müllkippe liegen lassen. Zunächst einmal musste er dafür sorgen, dass das Gift aus dem Magen des Mannes herauskam. Daher wälzte er ihn auf den Bauch, hob den Kopf und steckte ihm einen Finger in den Hals. Es war nicht ungefährlich, einen Bewusstlosen zum Erbrechen zu bringen, und Maruhn achtete sorgfältig darauf, dass der junge Mann nicht am eigenen Erbrochenen erstickte.

Nach einer Weile verebbten Jürgens Krämpfe, und er begann sich zu regen. Obwohl Maruhn ihm mehrere Ohrfeigen versetzte, wachte er jedoch nicht auf.

»Ich werde den Kutscher meiner Droschke zu Hilfe holen müssen«, sagte sich Maruhn und humpelte los, so schnell er konnte. So weit wie an diesem Tag war er schon lange nicht mehr gegangen, und er spürte den Schmerz in seinem Bein als ein dumpfes Pochen. Mit zusammengebissenen Zähnen lief er weiter und sah nach einiger Zeit erleichtert, dass die Droschke noch an derselben Stelle stand.

»Kommen Sie! Ich brauche Ihre Unterstützung!«, rief er dem Kutscher zu.

Dieser ließ ihn einsteigen, trieb sein Gespann an und wendete an der ersten Stelle, an der es möglich war. Dabei rümpfte er die Nase. »Besonders gut riechen Sie gerade nicht! Ich werde die Polster hinterher säubern müssen.«

»Das bezahle ich Ihnen«, versprach Maruhn und bat ihn schließlich, vor dem Waldweg zu halten. »Wir müssen dort hinein und einen Bewusstlosen herausholen. Anschließend fahren Sie mich ins Le Plaisir.«

»Was und wo ist das?«, fragte der Kutscher.

»Das werden Sie schon sehen. Und jetzt binden Sie Ihre verdammten Gäule an. Wir sind nicht zum Plaudern hier!« Maruhn wurde laut und eilte zur Müllkippe zurück. Der Fahrer folgte ihm und starrte kurz darauf erschrocken auf Jürgen. »Was ist mit dem?«

»Betäubt und ausgeraubt! Helfen Sie mir, ihn zum Wagen zu bringen.«

»Der riecht aber auch nicht besonders. Und mit einem fast nackten Mann fahre ich nicht durch Berlin!«

Verärgert fuhr Maruhn ihn an. »Sie haben doch gewiss eine Decke, in die wir diesen armen Kerl einhüllen können. Setzen Sie sich endlich in Bewegung.«

Der Kutscher schnaubte kurz, bückte sich und fasste Jürgen unter den Schultern, während Maruhn ihn an den Beinen packte. Gemeinsam schleppten sie den Bewusstlosen zur Droschke und wickelten ihn in eine Decke.

»Die ersetzen Sie mir aber!«, erklärte der Kutscher, als er wieder auf dem Bock Platz nahm.

»Von mir aus«, brummte Maruhn, der in Gedanken bereits im Le Plaisir war.

Juliregen
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