IV.

Ottwald von Trettin hatte sich umgezogen und betrat die Räume seiner Mutter. Auch diese trug nun trockene Kleider, war aber noch nicht dazu gekommen, sich die Haare richten zu lassen. Jetzt starrte sie mit verbissener Miene durch das Fenster auf die Scheune, deren verkohlte Balken im hellen Sonnenschein feucht glänzten. Ihre Gedanken galten jedoch nicht dem Unglück, sondern der alten Frau, die mit ihren Beschimpfungen die Wunden der Vergangenheit wieder aufgerissen hatte.

»Miene muss weg!«, erklärte sie kategorisch.

»Wie stellst du dir das vor? Das Jagdhaus von Doktor Mütze gehört nicht zu Trettin, und dieser Schleicher hat ihr das Wohnrecht dort bis zu ihrem Tod zugesichert. Wie wir erfahren mussten, ist das sogar beim Notar in Heiligenbeil hinterlegt.« Ottwald von Trettin blickte seine Mutter fragend an. »Soll ich sie für dich erschießen, so wie Vater es mit seinem Kutscher vorgehabt hatte?«

»Ich wollte, er hätte es getan. Doch nicht einmal dazu war er Manns genug!« Malwine schnaubte, goss sich ein Glas Likör ein und trank es in einem Zug leer. »Irgendwie werde ich diesem Miststück den Mund stopfen, und wenn ich ihr eigenhändig das Genick brechen muss!«, fügte sie hinzu, als sie das Glas wieder auf das Intarsien-Tischchen stellte.

»Wir haben derzeit wahrlich andere Sorgen als diese verrückte Alte.« Ottwald von Trettin holte sich ebenfalls ein Glas aus dem Schrank.

Während er es füllte, schüttelte seine Mutter stöhnend den Kopf. »Es ist verflucht ärgerlich, dass die Scheuer niedergebrannt ist. Wir hätten doch dem Vorschlag des Vertreters der Berlinischen Feuer-Versicherungs-Anstalt folgen und die Versicherungssumme erhöhen sollen. So können wir von Glück sagen, wenn das Geld für eine neue reicht. Das verbrannte Heu wirst du nur dann ersetzen können, wenn du einen Teil des Viehs verkaufst.«

Ottwald von Trettin trank sein Glas leer, bevor er antwortete. »Es tut mir leid, Mama, aber wir werden kein Geld von der Versicherung bekommen!«

Seine Worte trafen seine Mutter wie ein Schlag. »Was sagst du da?«

»Ich habe vergessen, die Versicherungsprämie zu zahlen.« Es fiel Ottwald von Trettin nicht leicht, dies zuzugeben, doch er wagte nicht, sein Geständnis hinauszuzögern. Erfuhr seine Mutter es von anderer Seite, war es noch weitaus schlimmer.

Malwine war so entsetzt, dass sie keine Kraft für einen Wutausbruch aufbrachte. »Aber wie konntest du nur … Du hattest dir das Geld dafür doch extra aus der Kasse genommen!«

Ihr Sohn lachte bitter auf. »Ich wollte die Summe ja einzahlen, aber dann musste ich dringend nach Königsberg und habe das Geld für diese Fahrt verwendet. Danach habe ich nicht mehr daran gedacht.«

Das war gelogen. Nachdem so viele Jahre lang nichts auf dem Gut passiert war, hatte Ottwald von Trettin geglaubt, er könnte sich das Geld für die Versicherung sparen und es für seine eigenen Bedürfnisse ausgeben.

Malwine ahnte dies und funkelte ihren Sohn, außer sich vor Zorn, an. »Du hast das Geld verlumpt!«

»So würde ich es nicht nennen. Ich habe es gebraucht, um standesgemäß auftreten zu können. In dem Hotel, in dem ich übernachten musste, befand sich eine junge Dame, die ich gerne zur Ehefrau gewonnen hätte«, antwortete Ottwald von Trettin gelassen.

»Was hat diese Dame ausgezeichnet, Schönheit oder …«

»Geld!«, unterbrach der junge Mann seine Mutter. »Sie ist eine schwerreiche Erbin, aber leider verlobt. Als ich das erfahren habe, war der Champagner bereits getrunken.«

Malwine konnte sich denken, dass es nicht bei Champagner geblieben war. Wahrscheinlich hatte ihr Sohn die junge Dame in die teuersten Restaurants von Königsberg eingeladen und auch sonst noch einiges an Geld ausgegeben. In der Hinsicht war er das genaue Gegenteil ihres ermordeten Ehemanns, zu dessen hervorstechendsten Charaktereigenschaften eine kräftige Portion Geiz gezählt hatte. Doch das war im Augenblick nicht wichtig.

»Wovon willst du dann eine neue Scheuer errichten lassen und Heu kaufen, damit unser Vieh über den Winter kommt?«, fragte sie mit eisiger Stimme.

Ihr Sohn verzog das Gesicht. »Ich habe keine Ahnung. Ich wäre schon froh gewesen, wenn wir heuer die Zinsen hätten zahlen können, die auf uns lasten. Jetzt kann ich nicht einmal mehr das!«

»Dann musst du mit deinen Bankiers reden, damit sie dir die Zinsen stunden und einen neuen Kredit geben.«

Ottwald von Trettin stieß ein höhnisches Lachen aus. »Die Herren Bankiers empfangen mich nicht einmal mehr, sondern lassen sich verleugnen, wenn ich erscheine. Wir sind nicht mehr kreditwürdig, meine liebe Mama.«

»Aber du musst doch etwas tun!«

»Ich hatte die Hoffnung, dieses Jahr überstehen und im nächsten einen der Kredite ablösen zu können. Aber das ist jetzt nicht mehr möglich. Wir sind am Ende, liebe Mama! Wenn wir nicht wollen, dass Trettin unter den Hammer kommt, muss ich nach Berlin fahren und Onkel Fridolin um Geld bitten. Da ein Zusammenbruch des Gutes auch seinen Namen beschädigen würde, wird ihm nichts anderes übrigbleiben, als mich zu unterstützen.«

»Du wirst nicht zu diesem Lumpen fahren!«, brach es aus Malwine heraus. »Dieser verfluchte Fridolin und seine Frau Lore sind ganz allein an unserem Unglück schuld. Ich wollte, sie wären tot.«

»Das herbeizuführen, hast du schon einmal vergeblich versucht«, antwortete ihr Sohn ungerührt. »Heute bin ich froh, dass dein Plan gescheitert ist. Einen Toten könnte ich nämlich nicht mehr um Geld angehen.«

Malwine fuhr zornig auf. »Du wirst Fridolin um gar nichts angehen! All das, was er erreicht hat und jetzt ist, hat er dem Geld zu verdanken, das sein verfluchter Onkel unserem Gut entzogen und seiner Enkelin zugesteckt hat. Wir werden ihn anzeigen und fordern, uns diesen Betrag mit Zins und Zinseszinsen zurückzugeben. Danach steht unser Gut wieder herrlich und in Freuden da! Du wirst sofort morgen nach Königsberg zu unserem Anwalt reisen und …«

»Meine liebe Mama, Hirngespinsten zu folgen ist der sicherste Weg in den Untergang. Wenn wir Fridolin und dessen Ehefrau verklagen, erinnern diese sich gewiss daran, dass die im Familiengesetz derer von Trettin festgeschriebene Mitgift für die Tochter beziehungsweise in diesem Fall die Enkelin des Majoratsherrn beim Wechsel des Gutes auf einen anderen Zweig der Familie niemals ausbezahlt worden ist. Wenn Fridolin diese Summe mit Zins und Zinseszinsen von uns fordert, können wir ihm gleich das ganze Gut schenken. Uns bliebe dann nämlich gar nichts mehr.«

Malwine war den Ausführungen ihres Sohnes mit wachsender Erregung gefolgt. Ihr Hass auf Fridolin und Lore hatte in den letzten Jahren sogar ihre Träume beherrscht. Nun brachte sie der Gedanke, dass es ihren Verwandten sogar möglich wäre, sie mit einem Federstrich vom Gut zu verjagen, derart in Rage, dass sie die Likörflasche packte und gegen die Wand schleuderte. Die Flasche zerplatzte klirrend, und der dickflüssige Likör spritzte durch den halben Raum.

Ottwald von Trettin bekam ebenfalls ein paar Tropfen ab und entfernte diese mit seinem Taschentuch. »Du solltest dich nicht so echauffieren, meine liebe Mama, sondern besser daran denken, wie wir in diese Situation geraten konnten.«

»Wie anders als durch das Geld, das der alte Trettin dem Gut gestohlen und seiner Enkelin zugesteckt hat!«, blaffte Malwine ihn an.

»Contenance, meine liebe Mama! Mit deinen Wutanfällen konntest du vielleicht Papa beeindrucken, aber an mich sind sie verschwendet. Ich habe die Bücher des Gutes genau studiert. Lores Großvater Wolfhard Nikolaus von Trettin hat vielleicht nicht alles getan, um das Gut auf der Höhe zu halten, aber keinesfalls jene Märchensummen der Kasse entnommen, die du dir in deiner Phantasie vorstellst. Als mein Vater das Gut übernahm, war es in einem stabilen Zustand, und das hätte auch so bleiben können, wenn du nicht unseren Inspektor dazu gebracht hättest, die Bücher zu fälschen und dir den größten Teil der unterschlagenen Summen zu überlassen. Damit hast du vor einigen Jahren in Berlin die große Dame gespielt und auch deinem damaligen Liebhaber einiges an Geld zugesteckt.«

Malwine empfand die Anklage ihres Sohnes als so unverschämt, dass sie mit der Hand ausholte, um ihm eine Ohrfeige zu geben. Doch Ottwald entzog sich mit einer geschickten Bewegung und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Das ist die Wahrheit, meine liebe Mama! Immer, wenn Onkel Fridolin Maßnahmen angeordnet hat, die die Ertragsfähigkeit des Gutes erhöhen sollten, hat der Inspektor auf deine Veranlassung hin nur einen Teil davon ausführen lassen und das restliche Geld unterschlagen. Du wirst einsehen, dass mir dies als Nachfolger meines Vaters als Gutsherr auf Trettin äußerst missfallen muss.«

»Du tust ja gerade so, als wäre nur ich allein an unserer beschämenden Situation schuld!«, rief Malwine empört. »Dabei vergisst du, dass du ebenfalls kräftig die Hand aufgehalten hast, weil dir das Taschengeld, das Fridolin dir zugebilligt hat, zu gering war. Seitdem du das Gut selbst führst, hast du ebenfalls nicht gerade sparsam gelebt.«

»Ich hätte es mir leisten können, wenn du das Gut nicht um eine große Summe gebracht hättest«, antwortete ihr Sohn ungerührt. »Daher wirst du erlauben müssen, dass ich Onkel Fridolin um Geld angehe. Um die Reinheit des eigenen Namens zu wahren, wird er sich meiner Forderung beugen müssen.« Ottwald von Trettin lächelte so zufrieden, als hätte er die niedergebrannte Scheune schon vergessen.

Ihn reizte nicht nur das Geld seines Verwandten, der in Berlin lebte und ein reicher Bankier geworden war, sondern auch die Reise dorthin. Gegen die Reichshauptstadt war Königsberg nur ein Provinznest, und er ging davon aus, dass Berlin weitaus größere Chancen bot, eine reiche Erbin für sich zu gewinnen.

Malwine begriff, dass sie ihren Sohn nicht umstimmen konnte, und packte die chinesische Vase, die seit mehreren Generationen ein wertvolles Besitztum derer von Trettin darstellte, und zerschmetterte auch diese.

»Das solltest du in Zukunft lassen, meine liebe Mama«, ermahnte ihr Sohn sie. »Diese Vase hätten wir gut verkaufen können. Wir werden ohnehin einiges veräußern müssen, damit ich das Reisegeld für Berlin zusammenbekomme. Als ein Trettin auf Trettin kann ich dort nicht wie ein Bäuerlein vom Land auftreten.«

Juliregen
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