VII.

Lore verabschiedete den letzten Gast und sah sich in dem leeren Saal um, der immer noch von Kerzen in ein goldenes Licht getaucht wurde. Das Parkett glänzte ebenfalls golden, und die fein gemusterte Tapete warf den Schein der Flammen sanft zurück. An Möbeln gab es nur einige bequeme Sessel für die Großmütter, die ihren Enkelinnen beim Tanzen zusehen wollten. Für Gäste, die nicht tanzten, standen drei weitere Räume zur Verfügung. In dem kleinsten konnten die Herren Zigarre rauchen und Cognac trinken, der nächste stand den Damen zur Verfügung, die sich bei leichtem Wein unterhalten wollten, und im dritten waren all jene Leckerbissen gereicht worden, die Lore von den führenden Feinkostgeschäften Berlins hatte besorgen lassen.

»Bist du nicht zufrieden mit dem heutigen Abend?«, fragte Nathalia angesichts der nachdenklichen Miene ihrer Freundin und Mentorin.

Mit einer beruhigenden Geste wandte Lore sich zu ihr um. »Oh doch! Es war ein schönes Fest.«

Dabei betrachtete sie das Mädchen mit forschendem Blick. Während sie selbst für eine Frau hochgewachsen war, reichte Nathalia ihr gerade bis zum Kinn und wirkte in ihrem weißen Abendkleid wie eine Elfe. Lore wusste jedoch nur zu gut, dass in der teuren Seide mehr ein Kobold als ein Elflein steckte.

»Und du? Hast du dich amüsiert?«, fragte sie.

»Es geht. Die meisten Leute sind stocklangweilig, ungeheuer von sich eingenommen und strohdumm.«

Nathalias Urteil mochte hart sein, doch Lore war klar, dass mindestens einer dieser Punkte auf jeden ihrer Gäste zutraf. Bei einigen sogar alle drei. Sie kicherte und wies auf einen der beiden Kronleuchter, die den Saal erhellten. »Wir werden bald eine elektrische Beleuchtung brauchen, sonst halten unsere Gäste uns noch für altmodisch, und das will in Berlin heutzutage niemand mehr sein.«

»Ich mag Kerzen viel lieber als diese komischen Glühlampen«, antwortete Nathalia naserümpfend.

»Es geht nicht darum, was uns gefällt, sondern was in Mode ist.«

»Pah! Ich halte mich hier an Seine Majestät, König Wilhelm. Der hat für solch modernen Schnickschnack auch nichts übrig. Lässt er sich die Wanne eigentlich immer noch aus dem Hotel de Rome kommen, wenn er baden will?« Nathalia lachte, denn an ein eigenes Badezimmer gewöhnt, kam ihr eine solche Haltung archaisch vor.

Lore gluckste leise bei der Vorstellung, die kaiserliche Badewanne würde unter militärischem Geleit vom Hotel zum Palast und wieder zurückgebracht werden, wischte diesen Gedanken jedoch beiseite, da es Wichtigeres zu besprechen gab. Obwohl sie wusste, dass ihre junge Freundin auf Belehrungen äußerst widerspenstig reagieren konnte, war ihr die Angelegenheit zu wichtig, um darauf Rücksicht nehmen zu können.

»Ich hoffe, du denkst nicht ernsthaft daran, Leutnant von Bukow zu ermutigen. Er wäre dir kein guter Mann.«

Nathalia antwortete mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Ich würde ihn mir schon erziehen! Zudem gedenke ich noch lange nicht, in den Hafen der Ehe einzulaufen.«

»Nati, du vergreifst dich im Ton«, mahnte Lore ihre junge Freundin.

»Das muss an der Erziehung liegen, die Tante Dorothea und du mir habt angedeihen lassen. In Bremen war ich meistens von Seebären umgeben und hier von Militärs, die nicht weniger aufschneiden.« Nathalia lachte, entdeckte dann in einer Ecke einen Diener, der noch frische Gläser und eine Flasche Champagner auf einem Tablett trug, und winkte ihn zu sich heran.

»Ich glaube, das haben wir beide verdient«, sagte sie zu Lore, während sie zwei Gläser eingießen ließ und eines davon weiterreichte.

»Salut, wie Tante Lianne sagen würde!« Damit stieß Nathalia mit Lore an und schlürfte genussvoll den Champagner.

»Sag bloß, dir schmeckt das Zeug?«, fragte Lore, die alkoholischen Getränken noch nie etwas hatte abgewinnen können.

»Es geht, aber ich kann hier ja schlecht einen doppelten Rum kippen, wie es sich für eine Reederin eigentlich gehört.«

Lore überlegte nicht zum ersten Mal, wie sie Nathalias Übermut bremsen konnte, denn allmählich wurde ihr das Fräulein zu keck. Daher setzte sie eine ernste Miene auf und fixierte ihren Schützling mit einem scharfen Blick. »Ich muss sagen, du enttäuschst mich, Nathalia, und Tante Dorothea gewiss nicht minder. Immerhin bist du eine junge Dame von bald neunzehn Jahren. In deinem Alter war ich schon fast drei Jahre verheiratet.«

»Ich hätte auch mit sechzehn geheiratet, aber du hast mich ja davon abgehalten«, antwortete Nathalia in gespielter Empörung.

Zuerst begriff Lore nicht, was ihre Freundin meinte, musste dann aber lachen. »Oh Gott, musst du wieder damit anfangen? Der Mann war mehr als dreimal so alt wie du, Jahrmarktsschausteller und – wie ich erfahren hatte – bereits verheiratet.«

»Aber er sah sehr gut aus und hatte Muskeln wie ein griechischer Gott!«

»Da ich noch keinen griechischen Gott gesehen habe, kann ich das nicht beurteilen. Auf jeden Fall war dieser Jahrmarktsringer kein geeigneter Ehemann für dich.« Lore wollte noch mehr sagen, merkte dann aber, dass ihr Schützling sie nur zum Narren gehalten hatte, und schüttelte den Kopf.

»Bei dir ist wirklich Hopfen und Malz verloren. Dabei haben Dorothea und ich alle Mühe darauf verwandt, dich in eine wohlerzogene junge Dame zu verwandeln. Wenn ich daran denke, wie oft ich in die Schweiz fahren musste, um die Direktorinnen der Internate davon abzubringen, dich umgehend von der Schule zu verweisen.«

»Ich erinnere mich auch noch gut daran«, erklärte Nathalia lachend. »Einem dieser Drachen hast du an den Kopf geworfen, dass er besser Feldwebel in der preußischen Armee hätte werden sollen, als kleine Mädchen zu erziehen, und bei einer Zweiten dachte ich im ersten Moment, du würdest ihr den Rohrstock abnehmen und ihr die Schläge heimzahlen, die sie mir verpasst hat. Schade, dabei hätte ich gerne zugesehen. Und die Dritte …«

Lore schnaubte und versetzte Nathalia einen Klaps. »Tu nicht so, als wärst du stets nur die verfolgte Unschuld gewesen. Jemand eine tote Ratte unter die Bettdecke zu stecken, ist äußerst ungehörig!«

»Aber es hat Spaß gemacht«, antwortete Nathalia mit blitzenden Augen. »Wie gerne würde ich es wieder tun. Zur Not tut es auch ein Frosch. Du magst doch Frösche, oder?«

»Nicht in meinem Bett!« Lore überkam das Gefühl, Windmühlen zu predigen. Daher richtete sie ihre Gedanken auf etwas anderes und winkte ihre Mamsell zu sich.

»Sie können jetzt aufräumen und die Möbel wieder hereinbringen, Frau Knoppke. Unser nächstes Fest wird Gott sei Dank erst im Herbst stattfinden.«

»Gnädige Frau können sich auf mich verlassen. Wenn Sie morgen …«

»Heute, Jutta! Es ist schon Mitternacht vorbei«, korrigierte Nathalia die Frau lachend.

»Es ist ungehörig, die Mamsell mit dem Vornamen anzusprechen«, wies Lore ihren Schützling zurecht.

»Jutta gefällt mir aber besser als Frau Knoppke. Außerdem habe ich sie bereits früher so genannt«, antwortete Nathalia, sah dann aber selbst, dass sie den Bogen nicht überspannen durfte, und hakte sich bei Lore unter.

»Sehen wir noch nach den Kleinen?« Nathalia wusste aus Erfahrung, dass der Hinweis auf Lores Kinder ihre ältere Freundin versöhnlich stimmen würde, und so war es auch diesmal.

»Frau Knoppke, ich verlasse mich ganz auf Sie!« Lore nickte ihrer Mamsell zu und ließ sich von Nathalia mitziehen. »Es wird Zeit, ins Bett zu gehen. Aber wir sollten tatsächlich zuerst nachsehen, ob bei den Kindern alles in Ordnung ist.«

Sie verließen die Repräsentationsräume der Villa und stiegen die Treppe zum nächsten Stockwerk hoch. Lore ging an den eigenen Räumen vorbei, blieb vor der Tür des Kinderzimmers stehen und lauschte.

»Drinnen ist alles ruhig.« Sie öffnete vorsichtig die Tür und blickte hinein.

In dem großen Raum standen mehrere Schränke und Kommoden, die nicht allein für die Kleinen gedacht waren. Die Kinder lagen in zwei Himmelbetten, die etwa zwei Meter auseinander standen. Im Schein des durch die Tür fallenden Lichts konnte Lore sehen, dass sowohl der vierjährige Wolfhard wie auch die zweijährige Dorothea süß und selig schliefen.

Erleichtert schloss Lore die Tür und nickte Nathalia zu. »Wolfi und Doro weilen im Traumland.«

»Das tun wir beide in Kürze ebenfalls«, erklärte Nathalia. »Wo ist eigentlich Fridolin? Ich habe ihn zuletzt nicht mehr gesehen.«

»Grünfelder und Dohnke wollten ihn noch sprechen. Wer weiß, welche Geschäfte die beiden ihm diesmal unterbreiten.« Lore ärgerte sich noch immer, dass die Kompagnons ihres Mannes diesen auch nachts in Beschlag nahmen, hatte sie doch gehofft, sich mit Fridolin ein wenig über den Festabend und die Gäste unterhalten zu können. Doch wie es aussah, ließen seine Geschäftspartner ihn nicht aus den Klauen.

Kaum hatte sie diesen Gedanken gefasst, vernahm sie Emil von Dohnkes Stimme an der Tür des Rauchzimmers aufklingen. »Dann sind wir uns ja einig, Graf Trettin! Ich wünsche Ihnen eine gute Reise und hoffe, Sie treffen alles so an, wie es Ihren Vorstellungen entspricht. Ihre Entscheidung können Sie uns telegrafisch mitteilen. Jetzt aber wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mir Ihren Wagen zur Verfügung stellen könnten, denn mein Schwiegervater will heute Nacht seiner eigenen Wege gehen.«

Wohl ins Le Plaisir, dachte Lore. Sie hatte sich gelegentlich mit Hede Pfefferkorn – oder Laabs, wie diese seit ihrer Heirat hieß – getroffen. Dies war zwar für eine Dame ihres Standes ausgesprochen ungehörig, doch sie mochte Hede, seit diese ihr einmal in höchster Not beigestanden hatte. Von ihr hatte sie auch erfahren, dass August von Grünfelder ihr Etablissement in regelmäßigen Abständen aufsuchte, um dort das zu finden, was seine Ehefrau ihm nicht mehr zu geben bereit war.

Juliregen
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