VIII.
Das Abendessen hatte Nathalia wieder auf der Terrasse servieren lassen. Bunte Lampions sorgten für eine stimmungsvolle Atmosphäre, der sich selbst der sonst eher nüchterne Volkmar Zeeb nicht entziehen konnte. Er genoss den jungen Rheinwein, der zum Essen kredenzt wurde, und fand genug Zeit, um Fridolins Fragen zu beantworten. Auch redete er Nathalia zu, sich an der Konservenfabrik zu beteiligen.
»In den Städten werden immer mehr Lebensmittel benötigt. Frisch kann man die Sachen gar nicht mehr hinbringen. Da ist so eine Fabrik ideal! Ich sage Ihnen, die hat sich in weniger als fünf Jahren amortisiert«, erklärte er und sah zufrieden, dass Fridolin und auch Nathalia ihm zustimmten.
Lore legte ihr Besteck weg und sah ihren Mann an. »Notfalls verkaufe ich meinen Anteil am Modesalon an Mary, damit du investieren kannst.«
»Das wird nicht nötig sein!« Fridolin winkte heftig ab, denn er musste daran denken, dass es vor einigen Jahren zwischen Lore und ihm wegen des Modesalons zu einem schlimmen Streit gekommen war. Lore lag viel an dem Geschäft und ihrer Freundin Mary Penn, die offiziell die Inhaberin war. Keinesfalls sollte Lore deshalb ihren Traum seinem Erfolg opfern. Nur im äußersten Notfall würde er auf ihren Vorschlag eingehen.
»Was werdet ihr unternehmen, wenn ich morgen früh weg bin?«, fragte er, um das Gespräch in andere Bahnen zu lenken.
»Da fällt uns gewiss eine Menge ein«, antwortete Nathalia lachend. »Wir können ausfahren, in der nächsten Konditorei Tee trinken und Kuchen essen, Graf Nehlen besuchen oder einfach hierbleiben und den Herrgott einen lieben Mann sein lassen.«
Fridolin wusste, dass Nathalia es keine zwei Tage aushalten würde, ohne etwas zu unternehmen, daher lächelte er nur und sah dann auf die goldene Schweizer Uhr, die Grünfelder ihm anlässlich eines besonders lohnenden Geschäftsabschlusses geschenkt hatte. »Lange kann ich nicht mehr aufbleiben. Ich fahre morgen früh nach Klingenfeld und nehme das Gut in Augenschein. Danach kehre ich gleich nach Berlin zurück.«
»Ohne noch einmal hierherzukommen? Du weißt doch, wie neugierig ich bin«, wandte Lore ein.
Fridolin schüttelte bedauernd den Kopf. »Wenn ich das täte, würde ich einen ganzen Tag verlieren. Doch die Sache brennt mir unter den Nägeln. Ich muss Grünfelder und Dohnke so rasch wie möglich Bescheid geben. Es besteht die Gefahr, dass sonst die Versteigerung des Gutes beschlossen wird, und genau das wollen wir verhindern. Ich gehe also bald zu Bett.«
»Wenn du den Nachtisch noch abwartest, komme ich mit«, bot Lore an.
Fridolin musste lachen. »Keine Sorge, für den Nachtisch und ein Glas Wein habe ich noch Zeit. Hattet ihr noch Pläne für heute Abend?«
»Lore hätte gewiss genäht und ich ein wenig gelesen. Ich glaube, das werde ich auch tun. Und Sie, Herr Zeeb?«
Der Verwalter kratzte sich am Kinn. »Nun, ich glaube, ich werde das Kassenbuch nachtragen. Wenn man da nicht auf dem Laufenden bleibt, hat man leicht einen Fehler darin.«
»Ist das nicht Aufgabe des Inspektors?«, fragte Fridolin erstaunt.
Zeeb zwinkerte ihm grinsend zu. »Eigentlich schon. Aber der Gute hat eine Hoferbin kennengelernt und um Urlaub gebeten. Jetzt mache ich es, bis ein neuer Inspektor bestellt ist. Einen auf den Schwingen der Liebe schwebenden Mann lasse ich nicht mehr an die Bücher!«
Damit brachte er die anderen zum Lachen. Zeeb fiel in das Gelächter ein und verabschiedete sich. Lore, Nathalia und Fridolin blieben auf der Terrasse sitzen und blickten zu den Sternen hoch, die über ihnen am Firmament glitzerten.
»Das Leben ist schon eigenartig«, entfuhr es Fridolin.
»Weshalb?«, fragte Nathalia.
»Ich hätte mir damals, als Lores Großvater gestorben war und ich in Berlin förmlich von der Hand in den Mund leben musste, nie träumen lassen, einmal reicher zu sein als mein Vetter Ottokar auf Trettin. Doch jetzt sieht es ganz so aus, als würde genau dies eintreten.«
»Und das hast du aus eigener Kraft geschafft und nicht durch irgendwelche windigen Gerichtsentscheidungen!« Lore schüttelte es bei der Erinnerung an jene Tage, an denen ihr Großvater sein Gut an den Neffen verloren hatte. Damals hatte sie tatsächlich befürchtet, der alte Herr würde Ottokar von Trettin einfach über den Haufen schießen. Manchmal wünschte sie sich mittlerweile, er hätte es getan. Zwar wäre das Gut weiterhin im Besitz von Malwine und deren Söhnen geblieben, doch ihre Eltern und Geschwister würden noch leben.
Fridolin spürte, dass sich Lores Gedanken in der Vergangenheit verloren, und zog sie an sich. »Was hast du?«
»Nichts, nur … ich habe an Großvater gedacht und an das, was damals geschehen ist. Ottokar war ein zu leichter Tod beschieden, und Malwine hat noch lange nicht genug gebüßt!«
Der unterschwellige Wunsch nach Rache, den sie seit jenen Tagen im Jahre 1875 empfand, war nie vergangen. Auch wenn sie den Intrigen ihrer Verwandten auf Trettin entkommen und glücklich geworden war, hatten zu viele, die sie geliebt hatte, einen frühen, grausamen Tod gefunden.
»Wir sollten zu Bett gehen. Vielleicht lässt du dir von Nele ein paar Tropfen Laudanum in ein Glas Wasser abzählen, damit du leichter einschläfst«, schlug Fridolin vor.
Lore atmete tief durch und schüttelte den Kopf. »Das mit dem Bett lasse ich mir eingehen, aber ich werde meinen Kopf nicht mit diesem Zeug vergiften. Lieber liege ich die halbe Nacht wach!«
»Ich werde schon dafür sorgen, dass du das nicht musst«, raunte Fridolin ihr leise ins Ohr. Dann wandte er sich Nathalia zu und entschuldigte sich, dass Lore und er sich so früh zurückzogen.
»Es war ein anstrengender Tag für uns alle«, antwortete Nathalia mit einem verstehenden Lächeln. »Gute Nacht! Wir sehen uns sicher morgen beim Frühstück, oder willst du so früh aufbrechen, dass Lore und ich noch nicht aufgestanden sind?«
»Dann solltet ihr um sieben Uhr angekleidet sein. Um acht will ich zum Bahnhof fahren und die zwei Stationen bis Eystrup mit der Bahn zurücklegen. Dort werde ich mir einen Wagen mieten. Wenn ich das Gut besichtigt habe, fahre ich umgehend nach Berlin zurück und bringe die ganze Angelegenheit zu einem hoffentlich guten Ende. Doch nun gute Nacht!«
»Gute Nacht«, wünschte auch Lore und kehrte zusammen mit Fridolin ins Haus zurück.
Nathalia sah den beiden nach und spürte, wie etwas in ihr hochstieg, das ihr an und für sich fremd war, nämlich ein wenig Neid auf die Vertrautheit, die Lore und Fridolin miteinander verband. So stellte sie sich die Liebe vor. Doch bislang hatte sie noch keinen jungen Mann getroffen, der den Platz bei ihr würde einnehmen können, den Fridolin bei ihrer Freundin innehatte.
Nachdenklich blickte sie zu den Sternen hoch, sah auf einmal eine Sternschnuppe aufglühen und gleich darauf noch eine. Obwohl sie nicht abergläubisch war, wünschte sie sich, bald einem Mann zu begegnen, dem mehr an ihrem Herzen als an ihrem Geld lag. Dann lachte sie über sich selbst. Ein solcher junger Mann musste schon ein Heiliger sein, und die gab es heutzutage nicht mehr.
Auf dem Weg in ihr Schlafzimmer sahen Lore und Fridolin noch nach den Kindern, die friedlich in ihren Betten schliefen, während Fräulein Agathe, hinter einem Wandschirm sitzend, im Licht einer Petroleumlampe in einem Buch las.
Als das Ehepaar eintrat, blickte sie auf und legte lächelnd den Zeigefinger an den Mund. »Die beiden waren heute rechtschaffen müde. Der Tag war aber auch anstrengend für sie«, flüsterte sie.
Lore nickte und strich Doro und Wolfi sanft über die Stirn. Auf dem Flur wandte sie sich an das Kindermädchen, das ihr gefolgt war. »Unsere Schätzchen schlafen hier auf dem Land einfach besser als in der Stadt.«
»Hier sind sie auch mehr an der frischen Luft und können sich bewegen«, erklärte Fräulein Agathe. »Wolfi hat heute Freundschaft mit dem Hund des Verwalters geschlossen. Jetzt will er unbedingt einen eigenen Hund haben. Noch im Nachthemd wollte er zu Ihnen auf die Terrasse laufen, um Ihnen das zu sagen.« Das Kindermädchen zog etwas den Kopf ein, als hätte sie Angst, die Eltern könnten sie für den Wunsch des Jungen verantwortlich machen.
Fridolin nickte jedoch lächelnd. »Ich hätte nichts gegen einen Hund. Zu Klingenfeld soll nämlich auch eine Jagd gehören. Wer weiß, vielleicht werde ich sogar noch zum Waidmann.«
»Versuche nicht, alles auf einmal zu erreichen«, spöttelte Lore, obwohl sie nicht weniger als Fridolin Gefallen an der Vorstellung gefunden hatte, Gutsherrin auf Klingenfeld zu werden.
»Gute Nacht«, wünschte sie dem Kinderfräulein und wandte sich den eigenen Räumen zu. Fridolin folgte ihr und wollte aus Gewohnheit ins Badezimmer gehen, als sein Blick auf den Waschtisch mit der großen Porzellanschüssel fiel.
»Wenn es in Klingenfeld genauso aussieht, werden wir als Erstes ein richtiges Badezimmer einbauen lassen.«
»Und dürften bei der Nachbarschaft als skurril angesehen werden! Nein, mein Lieber, du wirst unser Geld schön brav in den Ausbau des Gutes und der Fabrik stecken. Erst wenn wir wieder besser dastehen, werden wir uns ein wenig Luxus gönnen.«
»Nathalia könnte sich das auch leisten. Aber ich fürchte, ich habe vorhin Nachttöpfe unter den Betten gesehen«, sagte Fridolin in künstlichem Entsetzen.
»Das ist immer noch besser, als im Nachthemd den dunklen Flur entlanglaufen und die Treppe ins Erdgeschoss hinabsteigen zu müssen, um den Abort aufzusuchen.« Zwar hätte auch Lore sich auf Steenbrook ein Badezimmer mit einem richtigen Spülklosett gewünscht, wie sie es in Berlin besaßen. Doch hier befanden sie sich auf dem Land, und die Menschen waren mit dem zufrieden, was seit Generationen üblich war.
Bei dem Gedanken kicherte sie leise, zog sich aus und wusch sich. Fridolin tätschelte ihre rechte Pobacke. »Glaubst du, dass wir vor dem Schlafen noch etwas anderes tun könnten?«
»Ich habe nichts dagegen, aber du könntest jetzt auch meine zweite Backe streicheln, sonst ist sie beleidigt!«
Fridolin tat Lore den Gefallen und musste sich anschließend zwingen, sich selbst die Zähne zu putzen und sich zu waschen. Endlich schlüpfte er zu Lore unter die Decke und kitzelte sie am Bauch.
Sie kicherte erneut und versuchte nun, ihn zu kitzeln. Nach einer Weile des Spielens wurden ihre Liebkosungen zielgerichteter, und schließlich glitt Fridolin zwischen ihre Schenkel. In den nächsten Minuten vergaßen sie sowohl Klingenfeld wie auch die Trettiner Verwandtschaft, und als sie eine Weile später Hand in Hand nebeneinanderlagen, fühlten sie sich mit sich und der Welt im Reinen.