Prolog
Feuergeburt
Adam.
Eben war da nur Leere gewesen. Jetzt zerschnitt
diese Stimme die Stille. Sie dröhnte, als habe man eine
Bronzeglocke in einem zu kleinen Raum geschlagen, so dass die Wände
bebten. Allmählich verklang ihr Echo. Stille breitete sich erneut
aus, angenehm und betäubend.
Adam.
Da war sie wieder, diese lästige Stimme.
Widerwillen regte sich, wo eben noch kein einziges Gefühl vorhanden
gewesen war. Gefolgt von Wut. Dann verblassten die Empfindungen,
und die Leere kehrte zurück. Ein süßes Nichts, das alles
auslöschte.
Adam, wach auf.
Die Leere hob endgültig ihren Schleier und zeigte
eine Welt, die aus einem blutroten Himmel und dieser aufdringlichen
Stimme bestand. Keins von beiden war gut, auch nicht die sich
langsam aufdrängende Vermutung, gefangen zu sein. Das alles sollte
aufhören. Sofort.
Adam, wach endlich …
»Nein!«
Das Wort war heraus, ehe er überhaupt eine
Vorstellung davon hatte, Kehle und Mund zu besitzen, die sie
hervorbringen konnten. Nun war es zu spät. Seine eigene tiefe,
seltsam raue Stimme hallte ihm in den Ohren und brachte den Beweis,
dass
er tatsächlich eingesperrt war: in einem Körper. Und der Weg
zurück in die Leere war verwehrt.
Ein verzweifelter Schrei kam über seine Lippen,
die er mit einem Mal spürte, so wie er jeden einzelnen Teil seines
Körpers spürte. Sein Brustkorb stand in Flammen, während sein Herz
mit jedem Schlag Lava durch seine Venen jagte.
Er brannte lichterloh.
Qualvoll riss er die Augen in dem festen Glauben
auf, nichts als ein Flammenmeer zu erblicken. Stattdessen sah er in
den Himmel, eingerahmt von zwei Häusergiebeln. Morgenrot schimmerte
in der Ferne, unerreichbar. Um ihn herum war alles Grau in Grau und
Schwarz.
Aber woher stammte dieser unerträglich glühende
Schmerz?
Mit einer Hand, die seinem Willen kaum gehorchte,
griff er sich an die Brust, spürte Stoff, der klebrig und schwer
war, und zerrte ihn beiseite. Seine tauben Fingerspitzen wanderten
über kühle Haut.
Das konnte unmöglich sein. Seine Haut konnte
nicht kalt sein, er brannte doch!
Obwohl ihm vor Anstrengung Funken vor den Augen
aufstoben, zwang er seinen Kopf ein Stück nach oben, um auf seine
freigelegte Brust zu starren, die wider Erwarten nicht in Flammen
stand. Nicht einmal ein Glühen, nur das feine Heben und Senken war
im diesigen Licht der Gasse auszumachen. Voller Unglauben grub er
seine Fingernägel ins Fleisch, dort, wo er sein Herz schlagen und
Feuer versprühen fühlte. Eine feine Spur dunklen Bluts drang
hervor, während die aufgerissene Haut sich mit einem Kribbeln
bereits wieder zusammenzog. Als er das Blut beiseitewischte, waren
die Kratzspuren nicht mehr als rasch verblassende Linien.
Keine Schändung meines Tempels, wenn ich
bitten darf.
Da war sie wieder, diese spöttisch klingende
Stimme, die sich wie Säure zu ihm durchfraß.Wem gehörte sie
bloß?
Stöhnend presste er die Hände auf die Ohren,
konnte kaum dem Bedürfnis widerstehen, den Kopf auf den Boden zu
schlagen. Es war nicht ausreichend Platz für sie beide vorhanden,
verflucht. Jeden Augenblick würde sein Schädel regelrecht bersten,
so groß war der Druck. Doch noch größer war seine Abneigung gegen
den Quälgeist, der ihn gerufen hatte, um ihn in diesen gepeinigten
Körper zu zwingen und zu verhöhnen.
Erst beim zweiten Versuch gelang es ihm, sich auf
die Seite zu drehen, so dass sein Gesicht auf nassem, rauem
Pflasterstein zum Ruhen kam. Er lag in einer Gasse, wie etwas
Weggeworfenes. Es war ihm gleich, er würde einfach hier liegen
bleiben. Darauf warten, dass es vorbeiging. Am besten alles.
Es ging auch vorbei, zumindest das bestialische
Brennen. Nachdem es gewaltsam in jeden Winkel seines Körpers
eingedrungen war, erlosch es nun langsam. Zurück blieb das
unbestimmte Gefühl, gebrandmarkt worden zu sein. Als sei jede
einzelne Zelle mit einer eigenen Markierung versehen worden, die
den neuen Besitzer dieses auf dem nackten Boden in einer
Hinterhofgasse liegenden Leibs auszeichnete.
Obwohl die Schmerzen sich endlich verflüchtigt
hatten, blieb er reglos liegen, vor Erschöpfung außerstande, auch
nur eine der Haarsträhnen, die an seiner Stirn klebten,
fortzuwischen. Sehnsüchtig wartete er auf den Schlaf.Was danach
kam, war ihm gleichgültig. Aber der Schlaf wollte nicht kommen.
Stattdessen stieg eine prickelnde Energie auf, die darauf drängte,
in Bewegung umgesetzt zu werden. Sein Geist mochte sich nach einer
Auszeit sehnen, aber seine Glieder pulsierten vor Tatendrang.
Bewusst langsam zog er die Luft tief ein … und
musste sich jäh, beinahe wie elektrisiert, aufsetzen.
In seiner Hand hielt er ein Einstecktuch.
Cremefarben an jenen Stellen, die nicht mit dem nassen
Pflasterstein in Berührung gekommen oder von dunkelroten, fast
braunen Schlieren
befleckt waren. In einer Ecke zeigten sich die Initialen LS, in
Blau gestickt. Was ihn allerdings wirklich an diesem kleinen
Stoffeck faszinierte, war der überwältigende Geruch, der von ihm
ausging. Unmöglich, dachte er, während er das seidene Rechteck
zwischen seinen Fingern spannte. Nichts auf der Welt kann derartig
intensiv und vielschichtig riechen.
Und doch verriet ihm der Stoff lauter Geheimnisse
über seinen Besitzer, denn das Tuch gehörte zweifelsfrei jemand
anderem - das war das Erste, was ihm sein Geruchssinn zutrug. Das
Blut, das die dunklen, klebrigen Spuren hinterlassen hatte, war
nicht sein eigenes. Genauso wenig wie das Blut, mit dem seine Weste
und sein Hemd an der Brust durchtränkt waren. Als habe er zu gierig
getrunken … Angewidert verdrängte er dieses Bild und konzentrierte
sich auf das, was seine Sinne ihm zuflüsterten. Es war eindeutig
ein männlicher Geruch, eine Mischung aus feuchtem Stoff und einem
nach Leder riechenden Aftershave.Außerdem nahm er frischen Schweiß
wahr, der ganz unvermittelt hervorgebrochen war, als hätte der
Besitzer eine enorme Anstrengung unternommen. Wer immer dieses Tuch
verloren hat, er war erregt gewesen … in so mancherlei
Hinsicht.
Dieser Gedanke war verwirrend, aber bevor er ihm
nachgehen konnte, bemerkte er noch eine andere, kaum vorhandene,
fast verborgene Spur. Etwas, das wie frisch geriebener Muskat in
der Nase brannte, sich ansonsten allerdings jeden Vergleich verbot.
Ein fremder Geruch, den es auf dieser Welt nicht geben sollte.
Trotzdem erkannte er den Geruch wieder. Denn seine Haut verströmte
ihn ebenfalls, wenn auch in einer anders gefärbten Note.
Obwohl seine Beine nicht im Geringsten zitterten,
richtete er sich langsam auf, da er der pulsierenden Kraft in
seinen Gliedern nicht über den Weg traute. In den Händen hielt er
das blutbesudelte Tuch, das für ihn wie ein aufgeschlagenes Buch
war, eng bedruckt mit allen möglichen Informationen. Unablässig
raunte der in der Seide gefangene Duft ihm Hinweise zu, so auch
über die Geschehnisse, die sich in der schmalen Seitengasse
abgespielt hatten. Nur wollte es ihm einfach nicht gelingen, all
das in einen Zusammenhang zu stellen. Wie auch? Er begriff ja kaum,
wie ihm geschah.
Mit einem Mal schlugen seine überempfindlichen
Sinne an und wischten jeden Gedanken beiseite: Eine Spur des
Mannes, dem das Einstecktuch gehörte, lag noch in der Luft.
Allerdings wurde sie mit jeder Sekunde schwächer. Er musste sich
beeilen, ihr zu folgen, damit sie ihn zu demjenigen führte, der ihn
bewusstlos in dieser Gasse zurückgelassen hatte. Nur mit Mühe
beherrschte er den Drang, loszustürmen. Denn wer sagte eigentlich,
dass er wie ein Tier einer Spur nachjagen wollte, um am Ende einem
Mann gegenüberzustehen, mit dessen Blut er beschmiert war?
Weil er dir etwas über das erzählen kann, was
du jetzt bist.
Diese Stimme war also immer noch da.
»Ich brauche niemanden, der mir etwas über mich
erzählt«, erwiderte er flüsternd, während er das Tuch in seiner
Manteltasche verschwinden ließ. Leider ließ sich das Verlangen, der
Fährte hinterherzujagen, nicht genauso einfach verstecken. »Ich
brauche niemanden.«
Vollkommen unvermittelt bohrte sich ein tiefer
Schmerz in seinen Leib. Ein Stöhnen unterdrückend, taumelte er
gegen die dreckige Häuserwand, die Arme schützend um den Körper
geschlungen. Doch gegen diese Pein, die aus seinem Inneren heraus
entstanden war, konnte er nichts ausrichten.
Langsam, viel zu langsam ließ der Aufruhr in
seinem Inneren wieder nach.
Wenn du niemanden brauchst, der dir erklärt,
wer du bist - wer bist du dann?
»Adam …« Die Antwort klang zögerlich und verriet,
dass er sich da keineswegs sicher war. Doch es musste sein Name
sein,
weil es das Einzige war, was ihm geblieben war. Das Einzige, woran
er sich erinnerte.
Ich habe dir den Namen gegeben und dich
gerufen, denn du gehörst mir.
»Ich bin kein Hund, dem man einen Namen gibt,
damit er auf einen hört.«
Ach nein? Dann verrat doch endlich einmal, wer
du bist.
»Niemand, der dir gehört«, sagte Adam leise, und
es klang wie ein Versprechen. Nicht einmal das höhnische Lachen der
Stimme vermochte es in seiner Verbindlichkeit zu mindern. »Nein,
dir gehöre ich nicht.«