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Tief wie ein Gefühl
Das verwitterte Schild hätte ihnen eigentlich
verraten müssen, dass das Ausflugslokal schon vor längerer Zeit
seine Pforten geschlossen hatte. Ehrlich gesagt, war sich Adam
sogar ganz sicher gewesen, denn seine Sinne hatten ihm nur alte
menschliche Spuren gezeigt.Trotzdem hatte er zustimmend genickt,
als Esther vorschlug, dem holprigen Weg auf der Suche nach einem
Lokal zu folgen.
Denn obgleich es eigensüchtig war, verspürte Adam
nur wenig Lust, die gemeinsame Zeit inmitten von Fremden zu
verbringen, die laut lachten und ihre Gabeln voll Steakfetzen beim
Reden durch die Luft schwenkten. Ein Ort, der nur ihnen beiden
gehörte, war da eindeutig mehr nach seinem Geschmack, auch wenn er
Esther damit um ihr Lunch brachte. Nicht, dass sie dringend schon
wieder etwas in den Magen bekommen musste. Schließlich hatte sie am
Morgen, als es ihr endlich gelungen war, seinen Armen zu entkommen,
ganz unladylike das halbe Frühstücksbüfett leergegessen. Er hatte
mit mühsam beherrschten Gesichtszügen nur einen Kaffee
heruntergebracht, wobei ihn die Hotelbesitzerin Mrs Calvinston die
ganze Zeit mit enttäuschter Miene im Auge behalten hatte.Vermutlich
empfand sie es als Kränkung, wenn jemand ihrem mit viel Liebe
zubereiteten Frühstück widerstehen konnte. Also hatte er einige
Gabeln Rührei heruntergewürgt, was ihm noch immer nachhing. Eine
weitere Mahlzeit würde er so schnell jedenfalls nicht
verwinden.
Esthers Gespür für edel heruntergekommene Orte war
wirklich sensationell. Wie die meisten Lokale, die in der Nähe der
Küstenstraße zum Verweilen einluden, war auch dieses aus Holz
erbaut. Mittlerweile war es grau und spröde, wodurch es sich
perfekt in die Hügellandschaft mit ihren Nadelbäumen und Sträuchern
einfügte. Skeptisch beäugte Adam die Terrasse, unter der der Abhang
steil abfiel und in einem schmalen Streifen Sandstrand endete, weil
die Brüstung an einigen Stellen eingebrochen war. Doch Esther
winkte nur ab.
»Das Holz wird uns schon tragen, und wenn nicht,
können wir uns wenigstens damit trösten, dass die Aussicht einen
Absturz wert war.«
Womit sie zweifellos Recht hatte. Die Bucht unter
ihnen beschrieb einen schön geschwungenen Bogen, der in einigen
aufragenden Felsspitzen endete. Zwischen zwei Felszinnen ergoss
sich ein Wasserfall, eigentlich nicht mehr als ein Rinnsal.
Allerdings schlug das Wasser mit solcher Kraft auf den Sandstrand
auf, dass sein Brausen auf der Terrasse zu hören war.
»Ich kann mir gut vorstellen, dass nur wenige
Menschen von diesem Wasserfall wissen. Schon mit dem anbrechenden
Frühjahr dürfte der Wasserlauf austrocknen«, sagte Esther, die in
ihrer Begeisterung etwas ausstrahlte, das Adam deutlich mehr
fesselte als jedes Naturwunder der Welt.
In diesem Moment knurrte Esthers Magen, und sie
legte sich die Hand auf den Bauch. Eigentlich hätte Adam sich eine
Bemerkung verkniffen, aber ihn lockte ihre leicht verschämte
Reaktion. »Nicht, dass ich mich mit solchen Dingen besonders gut
auskennen würde, aber ich hätte darauf getippt, dass dir das üppige
Frühstück noch bis zur Kehle hochsteht.«
Esthers Wangen verfärbten sich rot. »Hältst du mich
nun für maßlos?«
»Wegen deines Appetits auf Pfannkuchen mit
Ahornsirup
ganz bestimmt nicht - höchstens für den anderen Appetit, den du
während der letzten Nacht gezeigt hast.«
Kaum hatte Adam den Satz zu Ende gebracht, da
deutete Esther bereits auf das morsche Geländer. »Sei besser
vorsichtig mit deinen Frechheiten, ansonsten komme ich noch auf
dumme Ideen und verpasse dir einen Schubs.«
»Das war doch als Kompliment gemeint«, erklärte
Adam voll verletztem Stolz. Allerdings hielt er das Spiel nur
einige Sekunden lang durch, dann legte er Esther mit einem breiten
Lächeln den Arm um die Schultern, und sie gingen zu einer der
Sitzbänke hinüber.
Eine leichte Dunstdecke lag gleichmäßig
ausgebreitet über dem Himmel und milderte die ansonsten so kräftige
Berührung der Sonne. Der Wind war zwar frisch, aber das Gebäude in
ihrem Rücken bremste seinen Schwung, was Adam jedoch nicht daran
hinderte, Esther schützend an seine Seite zu ziehen. Ohne Zögern
schmiegte sie sich an ihn, und fast glaubte er, er würde eindösen,
so beruhigend klang das Meeresrauschen zu ihnen hinauf. Er hätte
nichts dagegen gehabt, seine Gedanken streiften zu der letzten
Nacht ab und was sie für ihn bedeutete.
»Was hältst du davon, wenn wir heute Nachmittag
nach einem Buchladen suchen?«, fragte er unvermittelt. »Versteh das
jetzt bitte nicht falsch, aber ich habe seit siebzig Jahren kein
Buch mehr angerührt. In einer Geschichte zu versinken, erschien mir
zutiefst menschlich. Also genau das, was ich um jeden Preis von mir
fernhalten wollte. Bis jetzt.«
Esther schmiegte sich noch enger in seine Umarmung.
»Nach welcher Art Roman steht dir denn der Sinn?«
Adam zögerte. »Das kann ich dir nicht sagen. Ich
werde mich wohl ausprobieren müssen.«
»Ich kann dir ein paar Tipps geben, wenn du
möchtest. Mit Romanen kenne ich mich nämlich ein wenig aus.«
»Gern«, sagte Adam, während sich ein wohliger
Schauer auf seinem Rücken ausbreitete.
Noch nie war er so nahe bei sich gewesen, als sei
Esther das Heilmittel, an das er nie geglaubt hatte und das er nun
wie durch ein Wunder in den Händen hielt. Nur ganz gleich, wie
perfekt dieser Moment war, er konnte die Ahnung nicht abstreifen,
dass ihm das Geschenk nur für kurze Dauer vergönnt war.Wenn ihn die
letzten Jahrzehnte eins gelehrt hatten, dann, dass es ihm - anders
als einem normalen Mann - verwehrt war, seines Glückes Schmied zu
sein. In diesem Augenblick mochte es vielleicht den Anschein haben,
als würde es ihm gelingen, das Steuerrad für immer in seine Gewalt
zu bringen. Der Dämon ließ sich für eine Weile in die Tiefen seines
Inneren verbannen, aber eines Tages würde er einen Weg finden, um
seinen Herrschaftsanspruch erneut unter Beweis zu stellen. Was,
wenn Esther sich in diesem Moment dann ebenfalls ohne Argwohn an
seine Seite lehnte?
Unwillkürlich musste Adam an den Mann denken, aus
dessen Obhut er Esther gerissen hatte. Dieser Hayden hatte auf den
ersten Blick alle Eigenschaften eines gestandenen Mannes
aufgewiesen. Obwohl er sich dagegen wehrte, zwängte sich ihm eine
Vorstellung auf, wie Esthers Zukunft wohl ausgesehen hätte, wenn er
nicht auf der Bildfläche erschienen wäre, um alles
durcheinanderzubringen. Eine ruhige Zukunft voller Vertrauen und
jener stillen Art von Liebe, die Adam vermutlich nicht einmal zu
geben fähig gewesen wäre, wenn kein Dämon in ihm lauerte. Im Lauf
der Zeit hatte er genug Menschen nachgestellt, so dass ihm oft
schon ein Blick reichte, um zu wissen, mit welcher Sorte er es zu
tun hatte. In Haydens Augen hatte er eine Festigkeit entdeckt, die
er niemals zustande brächte. Dafür war er schlicht zu impulsiv.
Diese Erkenntnis versetzte ihm einen unerwartet heftigen Stich, und
sogleich spürte er eine Regung des Dämons, wie eine Katze, die sich
unter einem Stapel Decken freikämpfen wollte.
Hastig vergrub er sein Gesicht in Esthers
Winterfeuerhaar, woraufhin sie ein Seufzen ausstieß, als habe auch
sie sich nach einer liebevollen Geste gesehnt, damit sie ebenfalls
unangenehmen Gedankengespinsten entkommen konnte. Was waren sie
doch für zwei Getriebene …
»Weißt du eigentlich, wie besonders du bist?«,
fragte sie ihn leise, als solle nicht einmal der Wind ihre Worte
einfangen können.
»In welcher Hinsicht?« Zu gern wollte er der
Unterhaltung etwas Leichtes geben, doch eine amüsante Bemerkung kam
ihm einfach nicht über die Zunge. Esthers Hand griff nach seinem
Mantelrevers und hielt sich daran fest, als befürchte sie
ansonsten, den Halt zu verlieren.
»Vielleicht sollte ich es andersherum
anfangen:Anders’ Gabe ist eigentlich unwiderstehlich. Ansonsten
wäre er nicht in der Lage, so viele von eurer Art zu einem
friedlichen Zusammenleben zu bewegen. Allein die Gestalten, die
seit meiner Zeit als seine Dienerin zu ihm gekommen sind … Es sind
ja nicht bloß die Wohlgeratenen, die du auf der Party kennengelernt
hast. Seine Vorzeigeexemplare, wenn er einem Neuankömmling
vorführen will, was ihn erwartet. Es gibt ja auch solche, deren
Gabe sie den Verstand gekostet hat oder denen von ihrer
Menschlichkeit nur ihre Abartigkeit geblieben ist. Indem er ihren
Dämon berührt, nimmt er ihnen ihren Eigenwillen. Und plötzlich ist
ein Zusammenleben möglich. Nur bei dir scheint es nicht
funktioniert zu haben.«
»Anders meinte, es würde sicherlich einige Male
brauchen, um den Dämon so weit zu stärken, dass er meine
menschlichen Überreste tilgen kann.«
»Ja, das hat er gesagt, aber ich bin mir da nicht
so sicher.«
Adam machte Anstalten, Esther ins Gesicht zu sehen,
doch sie klammerte sich nur fester an ihn. »Du bist lange Anders’
Dienerin gewesen, und selbst wenn du es nicht aus Überzeugung
warst, fällt es dir sicherlich schwer, über seine Geheimnisse zu
sprechen. Also quäl dich nicht damit. Von allen Sorgen dürfte
Anders unsere kleinste sein. Schließlich ist er ohnehin davon
ausgegangen, über kurz oder lang auf deine Dienste verzichten zu
müssen.«
»So einfach ist es leider nicht, auch wenn ich mir
das wünsche.«
»Warum?« Sein Ton fiel harscher als beabsichtigt
aus, und Esther zuckte zusammen. Aber allein die Vorstellung, dass
sich eine weitere bedrohliche Wolke am Horizont auftat, reizte
seine Nerven. Sofort streichelte er Esther über den Rücken und
fügte hinzu: »Anders ist nur einer unter vielen, ganz gleich, wie
spektakulär seine Gabe ausfallen mag. Du brauchst dir seinetwegen
keine Sorgen zu machen. Gut, er hat meinen Dämon ein Mal gestärkt -
das war’s.«
»Genau darüber zerbreche ich mir ja den
Kopf.«
»Herrgott, es war doch nur ein einziges Mal!«
Nun richtete Esther sich doch auf und sah ihm
geradewegs in die Augen. Die Sorge, die er in ihnen sah, löste
einen Anflug von Wut in ihm aus: Wut auf die verdammten Umstände,
die ihnen schon jetzt den Boden unter den Füßen wegzogen,Wut auf
den Schatten, den der Dämon warf, ganz gleich, wie tief er ihn
hinabgestoßen haben mochte, Wut auf seine Unfähigkeit, die Zeit zum
Stillstand zu bringen.
»Das ist es ja gerade: Anders hat dich nur ein
einziges Mal berührt. Weil du es ihm erlaubt hast, aber danach
nicht mehr. Niemand anders würde es ablehnen … könnte es ablehnen.
Begreifst du? Anders’ Gabe macht den Dämon süchtig. Anders mag ein
guter Herrscher sein, weil sich ihm niemand entziehen kann. Das
heißt: bis vor kurzem. Dich hat es ja allem Anschein nach nicht
allzu viel Kraft gekostet, dich von ihm abzuwenden.«
»Wenn auch, was kümmert es Anders? Ich habe meinen
Job
erledigt und seine Stadt verlassen. Kann sein, dass daraus keine
Freundschaft mehr wird, nachdem ich ihm kurzerhand seine Dienerin
entführt habe, aber ich begreife nicht, warum dich das
beunruhigt.«
Adam sah noch, wie Esthers Mundwinkel zuckten, dann
legte sie eine Hand über den Mund. Als sie sie fortnahm, war ein
feines Lächeln da.
»Vermutlich hast du Recht, und ich bin eine elende
Schwarzseherin, die uns diesen wunderbaren Tag verdirbt. Wenn ich
dich schon nicht küsse, dann sollte ich wenigstens darüber
sprechen, wie glücklich ich bin.«
»Sieh an, du bist also glücklich. Und ich habe
schon befürchtet, du würdest nur nach einer eleganten Möglichkeit
suchen, mir zu entkommen.« Erst als das Lächeln auf Esthers Gesicht
breiter und leuchtender wurde, erlaubte Adam es sich, ebenfalls zu
entspannen. »Ich würde gern mehr darüber hören, wie sehr du mir
verfallen bist. Dann komme ich mir nicht länger wie ein alberner
Idiot vor, weil ich nichts anderes als dich in meinem Kopf
habe.«
»Solange du darüber noch deine Scherze machen
kannst, kann es wohl nicht so wild sein«, entgegnete Esther, wobei
sie eine Schnute zog, als sei sie ernsthaft gekränkt.
»Was erwartest du denn als Liebesbeweis? Dass ich
mein Glück aus voller Brust herausbrülle oder zu steppen
anfange?«
»Dafür scheint es bei dir ja nicht auszureichen.«
Adam wollte sie lachend an sich ziehen, aber sie entwich ihm. »Was
soll ein Mädchen von einem Kerl halten, der seine Liebe nur mit
Worten beteuert?«
»Es kam mir letzte Nacht nicht so vor, als hätte
ich sie dir lediglich mit Worten unter Beweis gestellt.«
Diesen Hinweis hätte er sich besser gespart, denn
Esther gab ihm kurzerhand einen Schlag vor die Brust und tänzelte
dann weg, den Zeigefinger anklagend auf ihn gerichtet. »Als ob ein
Mann seine Liebe jemals im Bett bewiesen hätte, du ungehobelter
Schuft.«
Adam amüsierte sich bestens und wollte bereits zu
einer besonders anzüglichen Entgegnung ansetzen, als Esther einen
weiteren Schritt zurücktrat und plötzlich im Sonnenlicht stand. Ihr
Haar flammte auf, und das Licht brachte ihre helle Haut zum
Leuchten. Sie war der Inbegriff all dessen, wonach er sich sehnte.
Alles, wofür es sich zu leben lohnte.
Getrieben von dem Verlangen, sie an sich zu reißen,
streckte er den Arm vor. Esther erschrak über die unerwartete
Schnelligkeit seiner Bewegung und stieß gegen das Geländer. Adam
konnte hören, wie das morsche Holz barst, und im selben Moment
bekam er ihren Arm zu fassen und riss sie nach vorn. Allerdings
ließ ihn diese Bewegung vorwärtsstolpern, und im nächsten
Augenblick brach er durch die Brüstung und fiel.
Der Aufprall auf den steinigen Abhang war hart,
doch schlimmer war die Rutschpartie durch Geröll und Gestrüpp,
bevor es ihm gelang, sich an einem Strauch festzuhalten.
Keuchend drehte er sich auf den Bauch und musste
schallend lachen, als in seinem Geist ein Film von seinem Sturz
ablief.Was war er doch bloß für ein Held! Als Esthers besorgtes
Gesicht über dem Rand der Terrasse auftauchte, wurde es mit dem
Gelächter nur schlimmer, obwohl langsam ein schmerzhaftes Pochen in
seiner gesamten Kehrseite einsetzte. Erst der Geschmack von Blut,
der sich auf seinen Lippen ausbreitete, brachte ihn zur Räson.
Seine Nase hatte zu bluten angefangen, und der bittersüße Geschmack
drohte den Dämon zu wecken.
Brauchst du Hilfe? Du musst nur darum
bitten, flüsterte seine Stimme aus weiter Ferne. Ruf mich,
dann helfe ich dir. Ansonsten darfst du dieses Mal selbst zusehen,
wie du mit deinen Verletzungen fertigwirst. Also, sagst du brav
Bitte?
Lieber würde ich mir die Zunge eigenhändig
rausschneiden und sie auf Nimmerwiedersehen ins Meer werfen, dachte
Adam entschlossen. Dann richtete er den Blick fest auf Esther und
machte sich daran, den Hang hinaufzuklettern. Dabei kümmerte er
sich nicht darum, dass seine Nägel einrissen und der Schmerz sich
mit den vielen anderen verband, die ihn plagten, ohne dass sie dank
des Dämons von einer warmen Welle hinfortgetragen wurden. Genau so
will ich das haben, dachte Adam. So kann es für immer
bleiben.