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Fassadenbau
Die Rückfahrt war eine einzige Qual gewesen,
obwohl Esther jeden Gedanken und jedes Gefühl in sich absterben
ließ. Nichtsdestotrotz hatte sie nicht verhindern können, dass
immer wieder Hoffnung in ihr aufstieg. Die Idee, dass es nur der
richtigen Geste oder des passenden Wortes bedurfte, um Adams
Abwehrhaltung zu durchbrechen, war einfach zu verführerisch. Nur
hatte sie keineswegs vor, eine solche Dummheit zu begehen. Sie
hatte sich ohnehin schon absurder verhalten, als sie je von sich
erwartet hätte. Also murmelte sie lediglich eine Abschiedsfloskel,
als er vor ihrem Apartmenthaus anhielt, und zwang sich, dem grauen
Wagen auf keinen Fall hinterherzublicken, als der sich in den
Feierabendverkehr einfädelte.
Beim Betreten der Diele legte sich eine Ahnung von
Schnee auf ihr Gesicht - oder vielleicht bildete sie sich das auch
bloß ein.
Ein letzter Abschiedsgruß von Adam.
Tränen brannten in ihren Augen, doch Esther drängte
sie erfolgreich zurück. Sie war ausgesprochen geübt darin, sich am
Riemen zu reißen. Ihr hitziges Temperament hatte sie mit ihrer
Vergangenheit abgestreift, und sie würde auf keinen Fall zulassen,
dass es ihr jetzt das Herz brach. Die Vergangenheit hatte sie
schließlich gelehrt, dass es nichts Sinnloseres gab, als um etwas
zu weinen, das unweigerlich für immer verloren war. Das machte den
Schmerz nur noch schlimmer. So stand sie wie
erstarrt da und kämpfte dagegen an, nicht in tausend Stücke zu
zerfallen.
Nachdem sich ihr Herzschlag wieder normalisiert
hatte, warf sie einen Blick auf das Telefon, und sogleich fraßen
sich wieder Risse in die Fassade einer kühlen Frau. Anders würde
heraushören, dass etwas nicht stimmte.Vielleicht würde er erst
einmal keine Fragen stellen, sie jedoch auffordern, gleich zu ihm
zu kommen. Wenn sie ihm dann gegenüberstand, könnte sie das
Geheimnis um Nias Leiche zwar bewahren - daran hegte sie keinen
Zweifel -, aber sie würde ihm offenbaren, dass Adam sie verletzt
hatte. Und Anders würde sehr rasch seine Schlüsse ziehen. Allein,
dass sie zu solch starken Gefühlen diesem Mann gegenüber imstande
war, verriet etwas über sie, das sie ihn nicht wissen lassen
wollte. Nein, sie musste Anders anrufen und ihn mit einer Ausrede
abspeisen.
Mit zitternden Fingern wählte sie die Nummer, unter
der Anders jederzeit erreichbar war, wenn er sich gerade in seinem
Haus aufhielt - was er tagsüber meistens tat. Bereits nach dem
zweiten Klingeln hob er ab, und Esther zuckte zusammen, denn sie
hatte sich noch eine kurze Galgenfrist erhofft.
»Nun, meine Liebe«, begrüßte er sie geradewegs.
»Hat unser Freund Sie so schnell aus seinen Diensten entlassen,
oder hat er sie noch gar nicht in Anspruch genommen?«
Mit Mühe zwang Esther ein Lächeln in ihr Gesicht.
Auch wenn Anders sie nicht sehen konnte, half es ihr. »Ich bin
bereits wieder entlassen.Allerdings kann ich das wohl weniger
meinen Diensten zuschreiben als der Tatsache, dass Ihr Mann
eindeutig besser im Jagen ist als sein Ruf. Er ist gerade auf dem
Weg zu Ihnen, um Ihnen das Ergebnis zu präsentieren.«
»Adam ist also fündig geworden?« Im Hintergrund
konnte Esther einen leisen Aufschrei hören. Vermutlich war Rischka
ebenfalls überrascht von der schnellen Wendung.Anders lachte.
»Damit habe ich wirklich nicht so bald gerechnet.
Das ist ja fast beleidigend.«
Esther nahm ihren ganzen Mut zusammen. »Brauchen
Sie mich heute noch? Ansonsten würde ich jetzt gern Hayden
besuchen, wir haben nämlich etwas Wichtiges zu besprechen.«
»Ah, daher weht der Wind. Ich habe mich schon
gefragt, ob Adam etwas getan haben könnte, das Sie so
durcheinandergebracht hat. Er scheint nämlich ein Talent dafür zu
besitzen.«
Wohlweislich ging Esther nicht auf dieses Thema
ein. »Hayden und ich haben sehr unterschiedliche Vorstellungen von
unseren Flitterwochen. Ich habe mir fest vorgenommen, dieses Thema
heute zu klären.«
»Wollen Sie mir etwa durch die Blume sagen, dass
ich mich nach einer neuen Dienerin umsehen muss? Nun, zumindest
haben Sie sich einen günstigen Zeitpunkt dafür ausgesucht. Denn
wenn Adam unseren Bösewicht gefunden haben sollte, kann mir nichts
mehr die Laune verderben.«
»Sie brauchen mich heute also nicht mehr?«
»Brauchen? Immerzu. Aber gehen Sie ruhig zu Ihrem
Hayden und sagen Sie ihm, dass ich künftig bei seinem
Anwaltshonorar eine Minderung als Ausgleich für die
Unannehmlichkeiten erwarte, die er mir mit seinen Heiratsabsichten
aufbürdet.«
»Gern«, sagte Esther unverbindlich, bevor sie sich
verabschiedete.
Damit war es entschieden, Adam gehörte der
Vergangenheit an.
Mit immer noch zitternden Händen zog sie ihre
zerrissenen Seidenstrümpfe aus und betrachtete ihre wunden Füße,
als gehörten sie einer anderen. Selbst als das heiße Wasser der
Dusche auf ihren Nacken prasselte, nahm sie weder die Hitze noch
die Berührung wahr. Der Kajalstift zog wie von selbst eine feine
schwarze Linie auf ihr Lid, das frische Kleid passte zu den
Schuhen, ohne dass sie auch nur einen Gedanken daran verschwenden
musste. Sie funktionierte, so wie sie es gelernt hatte. Sie schob
ihre Verletzung und die zerbrochenen Wünsche, die sie nicht einmal
im Geheimen eingestanden hatte, weit von sich. Es musste ihr
einfach ein weiteres Mal gelingen, ein Stück Vergangenheit hinter
sich zu lassen. Schließlich konnte es unmöglich schlimmer sein als
das letzte Mal. Und das Mal davor. In dieser Disziplin war sie eine
wahre Meisterin.
Ehe sie das Apartment verließ, um Hayden in der
Kanzlei aufzusuchen, stieß sie im Vorbeigehen mit Absicht den
Parfümflakon um. Goldene Essenz ergoss sich auf dem Holz.Wenn sie
später zurückkehrte, sollte nicht einmal mehr eine Ahnung von
Schnee in der Luft liegen.