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Spuren der Vergangenheit
»Und du bist dir wirklich sicher, dass ich dich
beim Gehen nicht stützen soll?«, fragte Esther in einer Mischung
aus Sorge und Belustigung, während Adam über den Vorhof ihres
Hotels humpelte.
»Ja, bin ich mir. Nur für den Fall, dass du es
genau wissen willst: Mein männlicher Stolz ist ohnehin angegriffen,
weil ich mich von dir habe kutschieren lassen müssen. Also lass es
gut sein.«
»Dann ist es wohl nicht sonderlich weit her mit
deinem Stolz.«
Als er abrupt anhielt und mit aufgesetzt
beleidigter Miene die Hand nach dem Autoschlüssel ausstreckte,
lachte Esther lediglich.
»Nun sei nicht so empfindlich.Außerdem musst du
zugeben, dass mir der Wagen sehr gut steht. Jedenfalls besser als
dir mit deiner blutenden Nase.«
»Es hört überhaupt nicht wieder auf«, sagte Adam
vergnügt. Ein Blick ins Taschentuch zeigte Spuren frischen Blutes,
zwar nur noch sehr schwach, aber immerhin.
»Ich verstehe nicht, warum es nicht heilt. Das
sollte es doch, oder?«
»Je weniger Dämonenwerk, desto besser.«
Erst als sie die Lobby betraten und Mrs Calvinston
auf sie zustürmte, wünschte Adam sich, die Blutung möge nun doch
endlich stoppen.
Mrs Calvinston war eine üppige Dame in den
Fünfzigern, mit einem Hang zu Schmetterlingsbrillengestellen
gepaart mit wild gemusterten Blusen, so dass Adam allein vom
Hinsehen schwindelig wurde. Außerdem war sie eine gute Seele, und
deshalb schlug sie jetzt auch die Hände zusammen und blickte so
entsetzt drein, als wäre sie eben Zeugin eines schrecklichen
Unglücks geworden.
»Um Himmels willen, was ist Ihnen denn zugestoßen?
Ich werde sofort einen Arzt anrufen!«
»Auf keinen Fall.« Um seinen Worten ausreichend
Nachdruck zu verleihen, nahm Adam das blutige Taschentuch von der
Nase - ein Fehler. Beim Anblick seiner geschundenen Nase schrie Mrs
Calvinston auf.
Beherzt schob Esther sich zwischen ihn und die arme
Frau, legte ihr eine Hand auf die Schulter und versperrte ihr
gekonnt den Blick auf Adam. »Es sieht wirklich sehr viel schlimmer
aus, als es ist. Mein Liebster hat eben herausgefunden, dass Ihre
Hügel hier nicht nur malerisch, sondern manchmal auch tückisch
sind. Aufgeschrammte Hände, einen geprellten Rücken und Nasenbluten
vor Schreck - mehr ist es nicht.Wenn er erst einmal das Blut und
den Dreck abgewaschen hat, wird er wieder wie neu aussehen.«
Mrs Calvinston zog schniefend Luft ein, ganz so,
als sei sie noch lange nicht bereit, ihre Sorge aufzugeben. »Man
könnte fast meinen, dass Sie vom Pech verfolgt sind, seit Sie mein
Haus betreten haben. Gestern Ihr Knöchel und heute …« Sie deutete
an Esther vorbei auf Adam, der sich seiner zerrissenen Hose und dem
mit roten Schlieren übersäten Hemd mehr als bewusst war. Vielleicht
hätte er den Kragen seines ramponierten Mantels lieber hochstellen
sollen, um das Schlimmste zu verbergen.
»Das tut mir so entsetzlich leid«, fuhr Mrs
Calvinston mit bebender Stimme fort. »Ein junges Paar wie Sie
verdient ausschließlich
schöne Tage, damit Sie glückliche Erinnerungen für schlechte
Zeiten haben, die unweigerlich kommen werden. Das macht mich
ausgesprochen traurig.«
Erneut schniefte Mrs Calvinston, und dieses Mal sah
Esther Adam ratlos an, während sie der älteren Dame die Schulter
tätschelte. In seiner Hilflosigkeit schlug Adam nun doch noch den
Mantelkragen hoch, dann deutete er auf das Taschentuch. »Sehen Sie,
die Blutung hat schon aufgehört.«
Leider half der Anblick des blutigen Stoffstücks
nicht wirklich weiter. Mrs Calvinston machte vielmehr den Eindruck,
als würde sie Esther gleich kondolieren. »Ich möchte Ihnen gern
etwas Gutes tun, sozusagen als Wiedergutmachung für all die Unbill,
die Ihnen beiden widerfahren ist.«
»Das ist wirklich lieb von Ihnen, aber …« Weiter
kam Esther nicht.
»Warum machen Sie Esther nicht noch ein paar von
Ihren fantastischen Pfannkuchen? Wegen meines Unfalls sind wir
nämlich gar nicht zum Essen gekommen.«
»Sie armes Ding! Ich werde mich sofort um Sie
kümmern. Pfannkuchen, und vom Auflauf ist auch noch etwas übrig.
Außer Ihnen habe ich ja gerade nur einen neuen Gast im Haus. Kommen
Sie ins Kaminzimmer, dort ist es so schön gemütlich. Ja, kommen
Sie.«
Adams Strategie ging hervorragend auf. Mrs
Calvinston zupfte bereits entschlossen an Esthers Ellbogen, die
sich jedoch nicht ohne weiteres von Adam trennen wollte.
»Soll ich nicht erst einmal mit dir aufs Zimmer
kommen und mir deine Verletzungen anschauen?«
»Verletzungen?« Adam stieß ein Lachen aus,
woraufhin sogleich sein geprellter Rippenbogen schmerzte. »Nein,
lass nur. Die blauen Flecken an meinem Hintern schaue ich mir
lieber allein an. Außerdem bringt mich das schlechte Gewissen jedes
Mal halb um, wenn dein Magen knurrt, als würde er sich
aus Verzweiflung gleich selbst verschlingen. Also, lass dich
ausgiebig bemuttern, und dann, wenn wir beide einigermaßen
wiederhergestellt sind, kannst du ja nachkommen und mich
verarzten.«
Zu seiner Genugtuung zog Esther die Augenbrauen
hoch, während Mrs Calvinston ein Kichern hören ließ. Dann sah er
zu, dass er mit so viel Würde, wie ihm mit seinen schmerzenden
Gliedern möglich war, die Treppe hochkam.
Nie im Leben hätte Adam damit gerechnet, dass er
sich eines Tages am Duschvorhang auf die Zehenspitzen hochziehen
würde, um einen Blick auf seine blanke Kehrseite im Spiegel zu
werfen. Aber die Mühe war es wert, denn die tiefrote, an manchen
Stellen bereits ins Lila gehende Landkarte, die sich auf seinem
unteren Rücken abzeichnete, war etwas, was er eigentlich niemals zu
sehen gedacht hätte: Überbleibsel von Verletzungen, da der Dämon
sie nicht sofort heilte.
Im Laufe der Zeit hatte Adam nämlich jede Menge
Prellungen einstecken müssen, aber zu diesem Geflecht aus Blut
unter der Haut war es nie gekommen. Dafür war der Dämon stets zu
präsent gewesen, und er hasste jede Spur von vergangenen
Ereignissen.
Mit der gleichen Hingabe studierte Adam die tiefen
Kerben in seinen Handballen und betastete die Beule an seinem
Hinterkopf, die mittlerweile auf das Ausmaß eines Hühnereis
angewachsen war und scheußlich pochte.
Nur widerwillig stellte er seine Untersuchungen
ein, weil der Gestank des geronnenen Blutes auf seiner Haut in
seiner allmählich wieder funktionierenden Nase brannte. Kaum stand
er unter der Brause, hörte er die Zimmertür aufgehen. Esthers
Schritte, von denen er genau wusste, wie bei jedem einzelnen die
Hüfte auf eine Weise mitschwang, die ihn um den Verstand brachte,
hallten über den Holzboden. Hastig griff er nach der
Seife, als ihm bewusst wurde, wie viel Zeit er mit seiner
Begeisterung für die Zeugnisse des Sturzes verschwendet hatte.
Während er sich das Haar wusch, wurde es verdächtig still im
Zimmer, und seine Fantasie begann, ihm Möglichkeiten auszuspinnen,
woran das wohl liegen mochte. Eine sich auf dem Bett räkelnde
Esther gewann den Wettbewerb der Tagträume.
Mit einem entschlossenen Griff stellte Adam das
Wasser ab und verschwendete keine Zeit damit, sich abzutrocknen,
sondern schlang sich das Handtuch kurzerhand um die Hüften.
Zu seiner Enttäuschung fand er das Zimmer leer vor.
Irritiert blickte er sich um, plötzlich von dem Verdacht
heimgesucht, dass etwas nicht stimmte.
Esthers Duft lag in der Luft, durchmischt von einer
scharfen Note. Das ist Panik, schoss es Adam durch den Kopf.
Vermutlich noch von ihrer Reaktion auf seinen Sturz. Nein, ganz
frisch, raunte ihm sein Instinkt zu, doch er wollte es nicht
glauben. Wahrscheinlich hat sie etwas unten im Esszimmer
liegenlassen und wird gleich wieder zurückkommen. Gut gelaunt, mit
einer Geschichte über Mrs Calvinstons Kochkünste auf Lager. Das
Schicksal würde ihnen bestimmt noch Stöcke zwischen die Beine
werfen, aber doch nicht jetzt schon, verdammt.
Sieht so aus, als wäre der Frühling deiner
Menschlichkeit gerade beendet worden, flüsterte der Dämon, als
verrate er gerade ein Geheimnis.
»Blödsinn!« Adam konnte nicht anderes, er musste
brüllen.
In diesem Moment fiel sein Blick auf einen Zettel
auf der Tagesdecke des Bettes, abgerissen von einem Notizblock. Er
wagte es nicht, ihn anzufassen, sondern sah lediglich auf ihn
hinab, während er zu atmen aufhörte, als wäre ihm das Leben
schlagartig entwichen.
Nur ein eilig hingeschriebener Satz, doch er
brannte sich Adam ein.
Es ist es wert gewesen, aber jetzt ist es
vorbei.
Esther
PS: Wegen des Wagens tut es mir
leid. Entschuldige.
Während die Worte als vielstimmiges Echo durch
sein Inneres hallten, hörte er draußen seinen Wagen starten. Mit
einem Sprung war er beim Fenster, aber er sah nur noch, wie der
Jaguar um die Ecke bog.
Wie von Sinnen jagte er die Treppe hinunter, um in
der Lobby beinahe mit Mrs Calvinston zusammenzustoßen, die eine
Blumenvase in den Händen hielt. Fluchend wich Adam der Frau aus,
die vor Überraschung nach Luft schnappte, und packte sie schnell am
Ellbogen, bevor sie noch ihr Gleichgewicht verlor und
stürzte.
»Ich will wissen, warum Esther weggefahren ist«,
herrschte er sie an.
Mrs Calvinston blinzelte ihn verständnislos durch
ihre Brille hindurch an. »Ich habe auch einen Wagen starten gehört
… War das etwa Ihre Frau? Ich dachte, es wäre der andere Gast.«
Noch einmal flackerten ihre Lider, dann wurde ihr anscheinend
bewusst, in welchem Aufzug Adam vor ihr stand. »Haben Sie die
Kleine vielleicht erschreckt? Junge Ehefrauen brauchen immer eine
Zeit, bevor sie …«
»Reden Sie keinen Unsinn. Sagen Sie mir lieber, was
genau passiert ist, nachdem ich aufs Zimmer gegangen bin.«
Allerdings prallte sein scharfer Ton an Mrs
Calvinston ab, deren gesamte Aufmerksamkeit auf seine Körpermitte
gerichtet war. »Ihr Handtuch rutscht«, ließ sie ihn atemlos wissen,
woraufhin Adam ein frustriertes Stöhnen ausstieß.
»Es ist absolut überflüssig, die gute Frau
weiterhin zu bedrängen«, ertönte eine männliche Stimme von der
Lobby her. Adam hatte noch nicht einmal den Blick gehoben, als ihm
seine Sinne bereits zuspielten, wer dort stand: Adalbert. Wie
hatte ihm sein Geruch vorhin nur entgehen können? Seine blutende
Nase, das musste es gewesen sein.
»Siehst du, so ist es besser, konzentrier dich auf
mich«, fuhr Adalbert fort, als habe er einen knurrenden Hund vor
sich, den er von seinem Opfer ablenken wollte. »So ist es richtig,
und weißt du, warum? Weil ich dir nicht nur weiterhelfen kann,
sondern es auch will. Verstehst du? Ich werde dir helfen, dir
erklären, warum dein Spielzeug sich ganz plötzlich aus dem Staub
gemacht hat. Und noch mehr als das. Aber erst, wenn du mir in einem
normalen Aufzug gegenüberstehst. Zieh dich an, Adam, du bist doch
kein Tier, auch wenn du dich wie eins benimmst. Ich warte draußen
bei meinem Wagen auf dich, ein Stück die Einfahrt runter.«
Ehe Adalbert auch nur mit der Wimper zucken konnte,
hatte Adam ihn bereits an der Kehle gepackt. »Für solche Spielchen
habe ich keine Zeit und erst recht keine Geduld.Also raus mit der
Sprache.«
»Draußen«, brachte Adalbert mühsam hervor, dem es
trotz seiner Größe und kräftigen Armen nicht gelang, Adams Griff
abzuschütteln.
Mit einem Grollen gab Adam schließlich nach, weil
Mrs Calvinston in seinem Rücken zu wimmern begann. »Falls ich dich
dort nicht antreffen sollte, kannst du dich darauf gefasst machen,
dass es deine Spur sein wird, auf die ich mich zu allererst setzen
werde. Hast du das verstanden?«
Adalbert nickte, sich missmutig die Kehle
massierend.
Obwohl er die ersten beiden Treppen schon
hinaufgehetzt war, blieb Adam plötzlich stehen. »Tut mir leid, dass
ich Sie in so eine unangenehme Lage gebracht habe«, sagte er an Mrs
Calvinston gewandt.
»Nun ja«, entgegnete sie, wobei sie ihre
Schmetterlingsbrille zurechtrückte. »Ihr Anblick macht zumindest
einiges wieder wett.«