27
Spuren der Vergangenheit
»Und du bist dir wirklich sicher, dass ich dich beim Gehen nicht stützen soll?«, fragte Esther in einer Mischung aus Sorge und Belustigung, während Adam über den Vorhof ihres Hotels humpelte.
»Ja, bin ich mir. Nur für den Fall, dass du es genau wissen willst: Mein männlicher Stolz ist ohnehin angegriffen, weil ich mich von dir habe kutschieren lassen müssen. Also lass es gut sein.«
»Dann ist es wohl nicht sonderlich weit her mit deinem Stolz.«
Als er abrupt anhielt und mit aufgesetzt beleidigter Miene die Hand nach dem Autoschlüssel ausstreckte, lachte Esther lediglich.
»Nun sei nicht so empfindlich.Außerdem musst du zugeben, dass mir der Wagen sehr gut steht. Jedenfalls besser als dir mit deiner blutenden Nase.«
»Es hört überhaupt nicht wieder auf«, sagte Adam vergnügt. Ein Blick ins Taschentuch zeigte Spuren frischen Blutes, zwar nur noch sehr schwach, aber immerhin.
»Ich verstehe nicht, warum es nicht heilt. Das sollte es doch, oder?«
»Je weniger Dämonenwerk, desto besser.«
Erst als sie die Lobby betraten und Mrs Calvinston auf sie zustürmte, wünschte Adam sich, die Blutung möge nun doch endlich stoppen.
Mrs Calvinston war eine üppige Dame in den Fünfzigern, mit einem Hang zu Schmetterlingsbrillengestellen gepaart mit wild gemusterten Blusen, so dass Adam allein vom Hinsehen schwindelig wurde. Außerdem war sie eine gute Seele, und deshalb schlug sie jetzt auch die Hände zusammen und blickte so entsetzt drein, als wäre sie eben Zeugin eines schrecklichen Unglücks geworden.
»Um Himmels willen, was ist Ihnen denn zugestoßen? Ich werde sofort einen Arzt anrufen!«
»Auf keinen Fall.« Um seinen Worten ausreichend Nachdruck zu verleihen, nahm Adam das blutige Taschentuch von der Nase - ein Fehler. Beim Anblick seiner geschundenen Nase schrie Mrs Calvinston auf.
Beherzt schob Esther sich zwischen ihn und die arme Frau, legte ihr eine Hand auf die Schulter und versperrte ihr gekonnt den Blick auf Adam. »Es sieht wirklich sehr viel schlimmer aus, als es ist. Mein Liebster hat eben herausgefunden, dass Ihre Hügel hier nicht nur malerisch, sondern manchmal auch tückisch sind. Aufgeschrammte Hände, einen geprellten Rücken und Nasenbluten vor Schreck - mehr ist es nicht.Wenn er erst einmal das Blut und den Dreck abgewaschen hat, wird er wieder wie neu aussehen.«
Mrs Calvinston zog schniefend Luft ein, ganz so, als sei sie noch lange nicht bereit, ihre Sorge aufzugeben. »Man könnte fast meinen, dass Sie vom Pech verfolgt sind, seit Sie mein Haus betreten haben. Gestern Ihr Knöchel und heute …« Sie deutete an Esther vorbei auf Adam, der sich seiner zerrissenen Hose und dem mit roten Schlieren übersäten Hemd mehr als bewusst war. Vielleicht hätte er den Kragen seines ramponierten Mantels lieber hochstellen sollen, um das Schlimmste zu verbergen.
»Das tut mir so entsetzlich leid«, fuhr Mrs Calvinston mit bebender Stimme fort. »Ein junges Paar wie Sie verdient ausschließlich schöne Tage, damit Sie glückliche Erinnerungen für schlechte Zeiten haben, die unweigerlich kommen werden. Das macht mich ausgesprochen traurig.«
Erneut schniefte Mrs Calvinston, und dieses Mal sah Esther Adam ratlos an, während sie der älteren Dame die Schulter tätschelte. In seiner Hilflosigkeit schlug Adam nun doch noch den Mantelkragen hoch, dann deutete er auf das Taschentuch. »Sehen Sie, die Blutung hat schon aufgehört.«
Leider half der Anblick des blutigen Stoffstücks nicht wirklich weiter. Mrs Calvinston machte vielmehr den Eindruck, als würde sie Esther gleich kondolieren. »Ich möchte Ihnen gern etwas Gutes tun, sozusagen als Wiedergutmachung für all die Unbill, die Ihnen beiden widerfahren ist.«
»Das ist wirklich lieb von Ihnen, aber …« Weiter kam Esther nicht.
»Warum machen Sie Esther nicht noch ein paar von Ihren fantastischen Pfannkuchen? Wegen meines Unfalls sind wir nämlich gar nicht zum Essen gekommen.«
»Sie armes Ding! Ich werde mich sofort um Sie kümmern. Pfannkuchen, und vom Auflauf ist auch noch etwas übrig. Außer Ihnen habe ich ja gerade nur einen neuen Gast im Haus. Kommen Sie ins Kaminzimmer, dort ist es so schön gemütlich. Ja, kommen Sie.«
Adams Strategie ging hervorragend auf. Mrs Calvinston zupfte bereits entschlossen an Esthers Ellbogen, die sich jedoch nicht ohne weiteres von Adam trennen wollte.
»Soll ich nicht erst einmal mit dir aufs Zimmer kommen und mir deine Verletzungen anschauen?«
»Verletzungen?« Adam stieß ein Lachen aus, woraufhin sogleich sein geprellter Rippenbogen schmerzte. »Nein, lass nur. Die blauen Flecken an meinem Hintern schaue ich mir lieber allein an. Außerdem bringt mich das schlechte Gewissen jedes Mal halb um, wenn dein Magen knurrt, als würde er sich aus Verzweiflung gleich selbst verschlingen. Also, lass dich ausgiebig bemuttern, und dann, wenn wir beide einigermaßen wiederhergestellt sind, kannst du ja nachkommen und mich verarzten.«
Zu seiner Genugtuung zog Esther die Augenbrauen hoch, während Mrs Calvinston ein Kichern hören ließ. Dann sah er zu, dass er mit so viel Würde, wie ihm mit seinen schmerzenden Gliedern möglich war, die Treppe hochkam.
 
Nie im Leben hätte Adam damit gerechnet, dass er sich eines Tages am Duschvorhang auf die Zehenspitzen hochziehen würde, um einen Blick auf seine blanke Kehrseite im Spiegel zu werfen. Aber die Mühe war es wert, denn die tiefrote, an manchen Stellen bereits ins Lila gehende Landkarte, die sich auf seinem unteren Rücken abzeichnete, war etwas, was er eigentlich niemals zu sehen gedacht hätte: Überbleibsel von Verletzungen, da der Dämon sie nicht sofort heilte.
Im Laufe der Zeit hatte Adam nämlich jede Menge Prellungen einstecken müssen, aber zu diesem Geflecht aus Blut unter der Haut war es nie gekommen. Dafür war der Dämon stets zu präsent gewesen, und er hasste jede Spur von vergangenen Ereignissen.
Mit der gleichen Hingabe studierte Adam die tiefen Kerben in seinen Handballen und betastete die Beule an seinem Hinterkopf, die mittlerweile auf das Ausmaß eines Hühnereis angewachsen war und scheußlich pochte.
Nur widerwillig stellte er seine Untersuchungen ein, weil der Gestank des geronnenen Blutes auf seiner Haut in seiner allmählich wieder funktionierenden Nase brannte. Kaum stand er unter der Brause, hörte er die Zimmertür aufgehen. Esthers Schritte, von denen er genau wusste, wie bei jedem einzelnen die Hüfte auf eine Weise mitschwang, die ihn um den Verstand brachte, hallten über den Holzboden. Hastig griff er nach der Seife, als ihm bewusst wurde, wie viel Zeit er mit seiner Begeisterung für die Zeugnisse des Sturzes verschwendet hatte. Während er sich das Haar wusch, wurde es verdächtig still im Zimmer, und seine Fantasie begann, ihm Möglichkeiten auszuspinnen, woran das wohl liegen mochte. Eine sich auf dem Bett räkelnde Esther gewann den Wettbewerb der Tagträume.
Mit einem entschlossenen Griff stellte Adam das Wasser ab und verschwendete keine Zeit damit, sich abzutrocknen, sondern schlang sich das Handtuch kurzerhand um die Hüften.
Zu seiner Enttäuschung fand er das Zimmer leer vor. Irritiert blickte er sich um, plötzlich von dem Verdacht heimgesucht, dass etwas nicht stimmte.
Esthers Duft lag in der Luft, durchmischt von einer scharfen Note. Das ist Panik, schoss es Adam durch den Kopf. Vermutlich noch von ihrer Reaktion auf seinen Sturz. Nein, ganz frisch, raunte ihm sein Instinkt zu, doch er wollte es nicht glauben. Wahrscheinlich hat sie etwas unten im Esszimmer liegenlassen und wird gleich wieder zurückkommen. Gut gelaunt, mit einer Geschichte über Mrs Calvinstons Kochkünste auf Lager. Das Schicksal würde ihnen bestimmt noch Stöcke zwischen die Beine werfen, aber doch nicht jetzt schon, verdammt.
Sieht so aus, als wäre der Frühling deiner Menschlichkeit gerade beendet worden, flüsterte der Dämon, als verrate er gerade ein Geheimnis.
»Blödsinn!« Adam konnte nicht anderes, er musste brüllen.
In diesem Moment fiel sein Blick auf einen Zettel auf der Tagesdecke des Bettes, abgerissen von einem Notizblock. Er wagte es nicht, ihn anzufassen, sondern sah lediglich auf ihn hinab, während er zu atmen aufhörte, als wäre ihm das Leben schlagartig entwichen.
Nur ein eilig hingeschriebener Satz, doch er brannte sich Adam ein.
Es ist es wert gewesen, aber jetzt ist es vorbei.
Esther
PS: Wegen des Wagens tut es mir leid. Entschuldige.
Während die Worte als vielstimmiges Echo durch sein Inneres hallten, hörte er draußen seinen Wagen starten. Mit einem Sprung war er beim Fenster, aber er sah nur noch, wie der Jaguar um die Ecke bog.
Wie von Sinnen jagte er die Treppe hinunter, um in der Lobby beinahe mit Mrs Calvinston zusammenzustoßen, die eine Blumenvase in den Händen hielt. Fluchend wich Adam der Frau aus, die vor Überraschung nach Luft schnappte, und packte sie schnell am Ellbogen, bevor sie noch ihr Gleichgewicht verlor und stürzte.
»Ich will wissen, warum Esther weggefahren ist«, herrschte er sie an.
Mrs Calvinston blinzelte ihn verständnislos durch ihre Brille hindurch an. »Ich habe auch einen Wagen starten gehört … War das etwa Ihre Frau? Ich dachte, es wäre der andere Gast.« Noch einmal flackerten ihre Lider, dann wurde ihr anscheinend bewusst, in welchem Aufzug Adam vor ihr stand. »Haben Sie die Kleine vielleicht erschreckt? Junge Ehefrauen brauchen immer eine Zeit, bevor sie …«
»Reden Sie keinen Unsinn. Sagen Sie mir lieber, was genau passiert ist, nachdem ich aufs Zimmer gegangen bin.«
Allerdings prallte sein scharfer Ton an Mrs Calvinston ab, deren gesamte Aufmerksamkeit auf seine Körpermitte gerichtet war. »Ihr Handtuch rutscht«, ließ sie ihn atemlos wissen, woraufhin Adam ein frustriertes Stöhnen ausstieß.
»Es ist absolut überflüssig, die gute Frau weiterhin zu bedrängen«, ertönte eine männliche Stimme von der Lobby her. Adam hatte noch nicht einmal den Blick gehoben, als ihm seine Sinne bereits zuspielten, wer dort stand: Adalbert. Wie hatte ihm sein Geruch vorhin nur entgehen können? Seine blutende Nase, das musste es gewesen sein.
»Siehst du, so ist es besser, konzentrier dich auf mich«, fuhr Adalbert fort, als habe er einen knurrenden Hund vor sich, den er von seinem Opfer ablenken wollte. »So ist es richtig, und weißt du, warum? Weil ich dir nicht nur weiterhelfen kann, sondern es auch will. Verstehst du? Ich werde dir helfen, dir erklären, warum dein Spielzeug sich ganz plötzlich aus dem Staub gemacht hat. Und noch mehr als das. Aber erst, wenn du mir in einem normalen Aufzug gegenüberstehst. Zieh dich an, Adam, du bist doch kein Tier, auch wenn du dich wie eins benimmst. Ich warte draußen bei meinem Wagen auf dich, ein Stück die Einfahrt runter.«
Ehe Adalbert auch nur mit der Wimper zucken konnte, hatte Adam ihn bereits an der Kehle gepackt. »Für solche Spielchen habe ich keine Zeit und erst recht keine Geduld.Also raus mit der Sprache.«
»Draußen«, brachte Adalbert mühsam hervor, dem es trotz seiner Größe und kräftigen Armen nicht gelang, Adams Griff abzuschütteln.
Mit einem Grollen gab Adam schließlich nach, weil Mrs Calvinston in seinem Rücken zu wimmern begann. »Falls ich dich dort nicht antreffen sollte, kannst du dich darauf gefasst machen, dass es deine Spur sein wird, auf die ich mich zu allererst setzen werde. Hast du das verstanden?«
Adalbert nickte, sich missmutig die Kehle massierend.
Obwohl er die ersten beiden Treppen schon hinaufgehetzt war, blieb Adam plötzlich stehen. »Tut mir leid, dass ich Sie in so eine unangenehme Lage gebracht habe«, sagte er an Mrs Calvinston gewandt.
»Nun ja«, entgegnete sie, wobei sie ihre Schmetterlingsbrille zurechtrückte. »Ihr Anblick macht zumindest einiges wieder wett.«
Nachtglanz - Heitmann, T: Nachtglanz
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