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Esther
Der Vormittag ging wie im Flug vorbei. Esther
verbrachte ihn auf ihrem handtuchgroßen Balkon, die frisch
lackierten Fußnägel gegen das Geländer gestemmt, während sie ein
Buch auf den Knien balancierte. Eigentlich war es zu kühl, um
lediglich im Bademantel draußen zu sitzen, doch es verlieh ihr ein
Gefühl von Muße und Freiheit.
Es kam selten vor, dass Anders ihr freie Zeit
zugestand, einfach, weil er sie gern in seiner Nähe wusste. Deshalb
war es der größte Luxus, herumzutrödeln und einen Liebesroman zu
lesen, der im glamourösen Nizza spielte. Beim Lesen träumte Esther
sich auf die Promenade und flanierte an einladenden Restaurants und
sommerlich gekleideten Gästen vorbei, während im Hafen Segelboote
in der Sonne glänzten.
Nicht, dass ihr Leben, seit sie in Anders’ Dienst
getreten wäre, etwa unglamourös gewesen wäre: Er liebte schöne
Dinge und interessante Gesellschaft. Als seine Assistentin konnte
sie daran teilhaben. Doch selbst wenn Esther mittendrin war,
elegant eingekleidet am Rodeo Drive und mit der Autorität ihres
Chefs ausgestattet, so war sie noch lange nicht ein echter
Bestandteil des außergewöhnlichen Lebens, das Anders führte. Und
sie sehnte sich im Gegensatz zu den anderen Dienern, die sie
kennengelernt hatte, auch keineswegs danach, es zu werden.
Schließlich hatte sie nicht nur die schillernden Seiten des Dämons
zu sehen bekommen. So wie auf der Party gestern Abend,
die noch recht gemäßigt ausgegangen war. Obwohl sie lieber nicht
genau wissen wollte, was einige Gäste im Anschluss für Vergnügungen
unternommen hatten.
Erneut wanderten ihre Gedanken gegen ihren Willen
zu dem Mann, für den Anders das Barbecue veranstaltet hatte. Adam …
Sie hatte ihn beobachtet, wie er zu Anders’ Gefährtin
hinübergeschlendert war. Dabei hatte ihn ein mehr als verstörendes
Flair umgeben: düster, fast bedrohlich. Über diese Ausstrahlung
hatten auch die betörend schönen Gesichtszüge und das aufgesetzte
Lächeln nicht hinwegtäuschen können. Und doch war es ihr nur mit
Mühe gelungen, sich von ihm abzuwenden, obwohl Anders nach ihrer
Aufmerksamkeit verlangt hatte. Beinahe glaubte Esther, wieder das
Klavierspiel zu hören, das aus dem Wohnzimmer zu ihr durchgedrungen
war. Sie hatte sich nicht umdrehen müssen, um zu erahnen, wer am
Klavier saß. Die Intensität des Spiels hatte perfekt zu diesem Adam
gepasst. Mit der gleichen Intensität hatte er später auch Anders in
seine Arme geschlossen.
Nun, genau so war die Welt des Dämons. Wenn man als
Sterbliche in ihr verkehrte, durfte man nicht überrascht sein, dass
nichts jemals so war, wie es auf den ersten Blick erschien. Diese
Erkenntnis war sehr schnell in Esther gereift. Aber warum sollte
auch ausgerechnet die Dämonenwelt einfacher zu durchschauen sein
als die menschliche? Wundervoll wurde es immer nur dann, wenn man
einen Buchdeckel aufschlug und in das Leben von Fremden
eintauchte.
So gesehen, hatte Esther genau das getan, als sie
vor drei Jahren mit ihrem halb leeren Koffer in Los Angeles
angekommen war: Sie war in das Leben einer fremden Frau
eingetaucht, mit einem Perfektionismus, der selbst sie überrascht
hatte. Allerdings war ihr auch nichts anderes übriggeblieben, denn
die Vergangenheit hatte ihr eine Pistole auf die Brust gesetzt und
ihr zugeraunt, dass sie nur noch diese eine Chance bekam.
Esther hatte sie ergriffen, obwohl sie bis heute,
wenn sie abends im Bett lag und wieder einmal nicht einschlafen
konnte, immer noch die Berührung der Mündung auf ihrer vor Angst
nassgeschwitzten Haut zu spüren glaubte. Als wäre sie keineswegs
entkommen und der innere Frieden, den sie wie die Luft zum Atmen
brauchte, noch lange nicht erreicht.
Wie ertappt bemerkte Esther, dass ihre Fingernägel
Kerben in das Papier der Buchseiten gegraben hatten. Sogleich
bemühte sie sich um ein Lächeln, auch wenn keiner sie sah. Es
gehörte zu ihren Techniken, die nach außen hin sichtbare Anspannung
abzuschütteln. Anders mochte ihr diese Seite ihrer Persönlichkeit
nachsehen, aber ansonsten konnte sie sich solche Brüche in ihrem
stets so perfekten Bild nicht erlauben. Schließlich glaubte
jedermann fest an jene Esther mit der gewöhnlichen, ja, geradezu
langweiligen Vergangenheit, die erst hier im sonnigen Kalifornien
von einer unspektakulären Knospe zu einer prachtvollen Blüte
aufgegangen war: ein makelloses Auftreten, aber auch einen Tick zu
kühl, um das Blut der Männer in Wallung zu bringen. Genau die
richtige Mischung, wenn man in dieser Stadt überleben wollte.
Dass einer Blüte noch eine andere Eigenschaft - die
der Zerbrechlichkeit - innewohnte, bedachte Esther lieber nicht.
Zerbrechlichkeit konnte sie sich nicht leisten, denn sie hatte sich
bereits in einem früheren Leben schon einmal neu zusammengesetzt,
nachdem sie zerbrochen war. Ein weiteres Mal würde ihr das gewiss
nicht gelingen.
Nun begannen die Küsse der klaren Januarluft doch
Spuren auf ihrer Haut zu hinterlassen. Esther stand auf, legte das
Buch auf den Stuhl und blickte in den Garten, auf den ihr Apartment
hinausging. Größtenteils wurde er von einem rasenumrundeten Pool
eingenommen, in dem einige welke Blätter vom Nachbargrundstück
schwammen. Der blau getünchte Grund wies aufgeplatzte Stellen auf,
und auch der Beckenrand war mit unzähligen
Sprüngen übersät. Eigentlich ein deprimierender Anblick, aber
Esther liebte ihn. So wie sie das ganze Viertel von West Hollywood
liebte.
In Gesprächen neigte sie zwar zur Zurückhaltung,
denn wer wenig erzählte, konnte nichts Falsches sagen - oder sich
gar verraten.Allerdings schwärmte sie bei jeder sich bietenden
Gelegenheit vom Charme der Gegend, deren beste Zeit vorüber war.
Dass bei ihrem kleinen Apartment darüber hinaus auch nur wenige
Kosten anfielen, erwähnte sie dabei natürlich nicht. Anders
entlohnte sie zwar sehr gut für ihre Dienste.Vermutlich zu gut,
hätte die eine oder andere Bekannte hinter vorgehaltener Hand
getuschelt, wenn sie jemals einen Blick auf ihren Gehaltsschein
geworfen hätte. Aber sie war nicht gerade sparsam - ihre Garderobe
war der beste Beweis dafür. Und so blieb am Ende des Monats nichts
übrig, obwohl die schönen Kleider das allein nicht erklärten.
Esther vermied es, jemandem darüber Rechenschaft ablegen zu
müssen.Was sie mit ihrem Geld machte, war ganz allein ihre
Angelegenheit … vorerst jedenfalls noch. Sobald es mit ihrem
Verlobten Hayden ernster wurde, müsste sie selbst diese letzte
Verbindung zu ihrem früheren Leben kappen, auch wenn ihr der
Gedanke bereits jetzt schlaflose Nächte bereitete.
Während Esther sich die mit Gänsehaut überzogenen
Oberarme rieb, kehrte sie ins Apartment zurück, das eigentlich
nichts anderes als ein gut geschnittener Raum war, in dem sich ein
Einbauschrank, eine Küchenzeile - eigentlich eine Theke - und ein
Sofa, das gleichzeitig ihr Bett war, befanden.
Hayden hatte das Apartment erst ein Mal zu sehen
bekommen. Anstatt wie sonst unten beim Hauseingang auf sie zu
warten, hatte er an ihrer Tür geklopft. Und während sie in ihre
Pumps geschlüpft war, hatte er neugierig seinen Blick schweifen
lassen, um möglichst viel in der kurzen Zeit, die sie ihm
zugestand, von dem Raum aufzunehmen. Später beim Essen
hatte er ihr Apartment eine »Studentenbude« genannt und Witze
darüber gemacht, dass sie eine wahre Magierin sein musste, da es
ihr gelang, ihre Sammlung aus Schuhen und Kleidern auf so engem
Raum unterzubringen.
Esther hatte gelacht und war selbst überrascht
gewesen, wie echt es geklungen hatte, während ihr Magen eine
einzige Eisgrube gewesen war. »Ich bin doch ohnehin nur zum
Schlafen da, und dafür reicht der Platz allemal«, hatte sie
ausweichend geantwortet.
Hayden hatte unvermittelt ernst ausgesehen und
seinen Arm über den Tisch hinweg ausgestreckt, bis sie nicht anders
konnte, als ihm die Hand zu reichen, wenn sie ihn nicht
kompromittieren wollte. »Eine Frau wie du braucht eine andere
Umgebung - und ich spreche hier nicht nur von mehr Platz oder gar
von einem anderen Viertel. Ich spreche von einem anderen
Leben.«
»Aber mir gefällt mein Leben. Es passt zu mir.« Es
hatte fröhlich klingen sollen, aber Esther waren wider Willen die
Gesichtszüge gefroren, und sie hatte zu zittern begonnen.
Hayden, der immer noch ihre Hand gehalten hatte,
war das nicht entgangen. Er hatte sich so weit vorgelehnt, dass
Esther schon befürchtet hatte, er könnte sich zu einer Dummheit
hinreißen lassen. Ein kleiner wilder Teil von ihr hatte direkt
darauf gehofft, der ansonsten stets würdevolle Hayden könnte ein
ungeahntes Temperament offenbaren. Dabei war ihr durchaus bewusst
gewesen, dass sie ihm das später nur schwer hätte verzeihen
können.Temperament war etwas, auf das sie gut verzichten
konnte.
Obwohl Esther sich Männern gegenüber stets um
Zurückhaltung bemühte, hatte es seit ihrer Ankunft in L. A. einige
Interessenten gegeben. Dass sie sich ausgerechnet für Hayden
entschieden hatte, einen Mann um die vierzig mit schütter werdendem
Haar, der einige Whiskeys brauchte, um von seiner
vor Jahren tödlich verunglückten Frau zu erzählen, hatte selbst
Anders überrascht, der die besten Geschäftskontakte zu dem Anwalt
pflegte. Aber Esther sah ein Versprechen in Hayden, das sie über
den Altersunterschied von fast zwanzig Jahren hinwegblicken ließ,
genauso wie über die Tatsache, dass er ein durch und durch
ernsthafter Mann war. Dafür hatte er etwas zu bieten, von dem sie
bis ans Ende ihrer Tage nicht genug bekommen
konnte:Verbindlichkeit.
Haydens Naturell war von Standfestigkeit geprägt,
die nicht einmal Anders’ Eröffnung über seine dämonische Natur aus
dem Gleichgewicht gebracht hatte. Das einzige Anzeichen für seine
Bestürzung hatte darin bestanden, dass er seine Pfeife im Büro
angesteckt hatte - was er sonst nie tat.
»In diesem Fall hatte Hayden sich eine einmalige
Ausnahme gegönnt, für die er sich später vermutlich selbst verklagt
hat«, wie Anders stets mit einem breiten Grinsen erzählte. »Sieht
ganz danach aus, als würde Pfeifentabak ihn auf eine Weise
beruhigen, wie es bei anderen Leuten nur Whiskey mit Valium
versetzt gelingt, wenn sie von der Existenz blutrünstiger Dämonen
erfahren. Hayden ist ein ganz harter Hund. Den darf man auf keinen
Fall unterschätzen, nur weil er mit seiner Charakterstärke nicht
hausieren geht.«
Genau diese stoische Haltung machte Hayden zu einem
hervorragenden Anwalt, aber in den Augen der meisten Frauen nicht
unbedingt zu einem begehrenswerten Mann. Für Esther allerdings lag
der Reiz gerade in dieser inneren Ausgeglichenheit, die sie wohl
für immer mit dem Geruch nach Kirschtabak verbinden würde. Ein
Leben an Haydens Seite war absolut vorhersehbar, eine gerade Straße
mit einem einladenden Haus am Stadtrand. Genau das, was sie
brauchte - für alles andere reichte ihre Energie nicht mehr aus.
Sie sehnte sich mit jeder Faser ihres Körpers nach einem Ruhepol,
dem es endlich gelang, die Vergangenheit auszumerzen.Wenn ihr nach
Aufregung zumute
war, reichte es schließlich vollkommen, ein Buch aufzuschlagen und
die Abenteuer von anderen mitzuerleben.
An jenem Abend hatte Hayden zu ihrer Erleichterung
nichts weiter gesagt, sondern bloß still ihre Hand gehalten, bis
sie sich so weit unter Kontrolle hatte, dass sie das Gespräch in
unverfängliche Bahnen lenken konnte. Es war die Bestätigung für die
Richtigkeit ihrer Entscheidung gewesen. Bis heute hatte sie es
nicht bereut …
Esther biss sich auf die Unterlippe, weil der Satz
sich wie eine Lüge anhörte. Sie hatte es nie bereut, bis auf
gestern Abend, ergänzte sie schuldbewusst. Jedoch nur für die kaum
nennenswerte Spanne, als das Klavierspiel eines anderen Mannes
etwas in ihr bewegt hatte. Etwas gut Verborgenes.
Gedankenverloren kämmte Esther ihr Haar aus, das in
weichen Wellen auf ihre Schultern fiel, dann versuchte sie, sich
mit Rouge und Lippenstift etwas Farbe in ihr blasses Gesicht zu
zaubern. Im Sommer bemühte sie sich darum, wenigstens einen Hauch
von Bräune einzufangen, was in Kalifornien fast einer Pflicht
gleichkam. Aber im Winter traute sie mit ihrer hellen Haut der
stechenden Sonne nicht über den Weg, zu oft hatte sie sich schon
verbrannt. Ein Erbe ihrer Heimat, in der der Himmel von Regenwolken
beherrscht wurde.
In dem Moment, in dem sie in ihre Strümpfe
schlüpfte, schrillte das Telefon.Von Unwillen erfasst, starrte sie
es an.
Vermutlich Anders, der sie nun doch schon früher zu
ihrem Auftrag delegieren wollte. Normalerweise bargen seine
Anweisungen kein Problem für sie, doch sie hatte den Ausklang der
gestrigen Party noch zu lebendig vor Augen, um diesem Adam nicht
früher als nötig unter die Augen treten zu wollen. Jedenfalls
nicht, solange der Gedanke an ihn sie noch derartig
durcheinanderbrachte. Wenn sie sich nicht allzu sehr täuschte, war
er bestimmt noch mit seiner Gespielin beschäftigt, so wie die
beiden sich nach Anders’ Kuss vor Publikum aufgeführt hatten.
Allein die Erinnerung versetzte Esther einen Stich.
Sie hätte sich abwenden sollen. Stattdessen hatte sie - wie alle
anderen auch - dem leidenschaftlichen, oder besser gesagt:
hemmungslosen Treiben des Paares zugesehen. Selbst in den Armen
einer anderen Frau hatte Adams Anziehungskraft keinen Deut
eingebüßt.
Am anderen Ende der Leitung meldete sich zu ihrer
Erleichterung Hayden. »Ich wollte nur Bescheid sagen, dass ich mich
eine halbe Stunde früher aus der Kanzlei losmachen konnte. Würde es
dir etwas ausmachen, wenn ich dich jetzt schon abhole? Dann kann
ich dich nach dem Mittagessen noch auf einen Kaffee
einladen.«
Esther stimmte zu, froh, dass Hayden ihr nicht nur
eine Möglichkeit bot, ihrem Gefühlschaos zu entkommen, sondern
auch, um ihr vor Augen zu halten, was wichtig für sie sein sollte.
Nämlich exakt das Gegenteil von diesem Adam. So beeilte sie sich,
sich fertig zu machen, denn sie wollte Hayden gern unten am Eingang
in Empfang nehmen, ehe er die Treppen heraufkommen konnte.