6
Esther
Der Vormittag ging wie im Flug vorbei. Esther verbrachte ihn auf ihrem handtuchgroßen Balkon, die frisch lackierten Fußnägel gegen das Geländer gestemmt, während sie ein Buch auf den Knien balancierte. Eigentlich war es zu kühl, um lediglich im Bademantel draußen zu sitzen, doch es verlieh ihr ein Gefühl von Muße und Freiheit.
Es kam selten vor, dass Anders ihr freie Zeit zugestand, einfach, weil er sie gern in seiner Nähe wusste. Deshalb war es der größte Luxus, herumzutrödeln und einen Liebesroman zu lesen, der im glamourösen Nizza spielte. Beim Lesen träumte Esther sich auf die Promenade und flanierte an einladenden Restaurants und sommerlich gekleideten Gästen vorbei, während im Hafen Segelboote in der Sonne glänzten.
Nicht, dass ihr Leben, seit sie in Anders’ Dienst getreten wäre, etwa unglamourös gewesen wäre: Er liebte schöne Dinge und interessante Gesellschaft. Als seine Assistentin konnte sie daran teilhaben. Doch selbst wenn Esther mittendrin war, elegant eingekleidet am Rodeo Drive und mit der Autorität ihres Chefs ausgestattet, so war sie noch lange nicht ein echter Bestandteil des außergewöhnlichen Lebens, das Anders führte. Und sie sehnte sich im Gegensatz zu den anderen Dienern, die sie kennengelernt hatte, auch keineswegs danach, es zu werden. Schließlich hatte sie nicht nur die schillernden Seiten des Dämons zu sehen bekommen. So wie auf der Party gestern Abend, die noch recht gemäßigt ausgegangen war. Obwohl sie lieber nicht genau wissen wollte, was einige Gäste im Anschluss für Vergnügungen unternommen hatten.
Erneut wanderten ihre Gedanken gegen ihren Willen zu dem Mann, für den Anders das Barbecue veranstaltet hatte. Adam … Sie hatte ihn beobachtet, wie er zu Anders’ Gefährtin hinübergeschlendert war. Dabei hatte ihn ein mehr als verstörendes Flair umgeben: düster, fast bedrohlich. Über diese Ausstrahlung hatten auch die betörend schönen Gesichtszüge und das aufgesetzte Lächeln nicht hinwegtäuschen können. Und doch war es ihr nur mit Mühe gelungen, sich von ihm abzuwenden, obwohl Anders nach ihrer Aufmerksamkeit verlangt hatte. Beinahe glaubte Esther, wieder das Klavierspiel zu hören, das aus dem Wohnzimmer zu ihr durchgedrungen war. Sie hatte sich nicht umdrehen müssen, um zu erahnen, wer am Klavier saß. Die Intensität des Spiels hatte perfekt zu diesem Adam gepasst. Mit der gleichen Intensität hatte er später auch Anders in seine Arme geschlossen.
Nun, genau so war die Welt des Dämons. Wenn man als Sterbliche in ihr verkehrte, durfte man nicht überrascht sein, dass nichts jemals so war, wie es auf den ersten Blick erschien. Diese Erkenntnis war sehr schnell in Esther gereift. Aber warum sollte auch ausgerechnet die Dämonenwelt einfacher zu durchschauen sein als die menschliche? Wundervoll wurde es immer nur dann, wenn man einen Buchdeckel aufschlug und in das Leben von Fremden eintauchte.
So gesehen, hatte Esther genau das getan, als sie vor drei Jahren mit ihrem halb leeren Koffer in Los Angeles angekommen war: Sie war in das Leben einer fremden Frau eingetaucht, mit einem Perfektionismus, der selbst sie überrascht hatte. Allerdings war ihr auch nichts anderes übriggeblieben, denn die Vergangenheit hatte ihr eine Pistole auf die Brust gesetzt und ihr zugeraunt, dass sie nur noch diese eine Chance bekam.
Esther hatte sie ergriffen, obwohl sie bis heute, wenn sie abends im Bett lag und wieder einmal nicht einschlafen konnte, immer noch die Berührung der Mündung auf ihrer vor Angst nassgeschwitzten Haut zu spüren glaubte. Als wäre sie keineswegs entkommen und der innere Frieden, den sie wie die Luft zum Atmen brauchte, noch lange nicht erreicht.
Wie ertappt bemerkte Esther, dass ihre Fingernägel Kerben in das Papier der Buchseiten gegraben hatten. Sogleich bemühte sie sich um ein Lächeln, auch wenn keiner sie sah. Es gehörte zu ihren Techniken, die nach außen hin sichtbare Anspannung abzuschütteln. Anders mochte ihr diese Seite ihrer Persönlichkeit nachsehen, aber ansonsten konnte sie sich solche Brüche in ihrem stets so perfekten Bild nicht erlauben. Schließlich glaubte jedermann fest an jene Esther mit der gewöhnlichen, ja, geradezu langweiligen Vergangenheit, die erst hier im sonnigen Kalifornien von einer unspektakulären Knospe zu einer prachtvollen Blüte aufgegangen war: ein makelloses Auftreten, aber auch einen Tick zu kühl, um das Blut der Männer in Wallung zu bringen. Genau die richtige Mischung, wenn man in dieser Stadt überleben wollte.
Dass einer Blüte noch eine andere Eigenschaft - die der Zerbrechlichkeit - innewohnte, bedachte Esther lieber nicht. Zerbrechlichkeit konnte sie sich nicht leisten, denn sie hatte sich bereits in einem früheren Leben schon einmal neu zusammengesetzt, nachdem sie zerbrochen war. Ein weiteres Mal würde ihr das gewiss nicht gelingen.
Nun begannen die Küsse der klaren Januarluft doch Spuren auf ihrer Haut zu hinterlassen. Esther stand auf, legte das Buch auf den Stuhl und blickte in den Garten, auf den ihr Apartment hinausging. Größtenteils wurde er von einem rasenumrundeten Pool eingenommen, in dem einige welke Blätter vom Nachbargrundstück schwammen. Der blau getünchte Grund wies aufgeplatzte Stellen auf, und auch der Beckenrand war mit unzähligen Sprüngen übersät. Eigentlich ein deprimierender Anblick, aber Esther liebte ihn. So wie sie das ganze Viertel von West Hollywood liebte.
In Gesprächen neigte sie zwar zur Zurückhaltung, denn wer wenig erzählte, konnte nichts Falsches sagen - oder sich gar verraten.Allerdings schwärmte sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit vom Charme der Gegend, deren beste Zeit vorüber war. Dass bei ihrem kleinen Apartment darüber hinaus auch nur wenige Kosten anfielen, erwähnte sie dabei natürlich nicht. Anders entlohnte sie zwar sehr gut für ihre Dienste.Vermutlich zu gut, hätte die eine oder andere Bekannte hinter vorgehaltener Hand getuschelt, wenn sie jemals einen Blick auf ihren Gehaltsschein geworfen hätte. Aber sie war nicht gerade sparsam - ihre Garderobe war der beste Beweis dafür. Und so blieb am Ende des Monats nichts übrig, obwohl die schönen Kleider das allein nicht erklärten. Esther vermied es, jemandem darüber Rechenschaft ablegen zu müssen.Was sie mit ihrem Geld machte, war ganz allein ihre Angelegenheit … vorerst jedenfalls noch. Sobald es mit ihrem Verlobten Hayden ernster wurde, müsste sie selbst diese letzte Verbindung zu ihrem früheren Leben kappen, auch wenn ihr der Gedanke bereits jetzt schlaflose Nächte bereitete.
Während Esther sich die mit Gänsehaut überzogenen Oberarme rieb, kehrte sie ins Apartment zurück, das eigentlich nichts anderes als ein gut geschnittener Raum war, in dem sich ein Einbauschrank, eine Küchenzeile - eigentlich eine Theke - und ein Sofa, das gleichzeitig ihr Bett war, befanden.
Hayden hatte das Apartment erst ein Mal zu sehen bekommen. Anstatt wie sonst unten beim Hauseingang auf sie zu warten, hatte er an ihrer Tür geklopft. Und während sie in ihre Pumps geschlüpft war, hatte er neugierig seinen Blick schweifen lassen, um möglichst viel in der kurzen Zeit, die sie ihm zugestand, von dem Raum aufzunehmen. Später beim Essen hatte er ihr Apartment eine »Studentenbude« genannt und Witze darüber gemacht, dass sie eine wahre Magierin sein musste, da es ihr gelang, ihre Sammlung aus Schuhen und Kleidern auf so engem Raum unterzubringen.
Esther hatte gelacht und war selbst überrascht gewesen, wie echt es geklungen hatte, während ihr Magen eine einzige Eisgrube gewesen war. »Ich bin doch ohnehin nur zum Schlafen da, und dafür reicht der Platz allemal«, hatte sie ausweichend geantwortet.
Hayden hatte unvermittelt ernst ausgesehen und seinen Arm über den Tisch hinweg ausgestreckt, bis sie nicht anders konnte, als ihm die Hand zu reichen, wenn sie ihn nicht kompromittieren wollte. »Eine Frau wie du braucht eine andere Umgebung - und ich spreche hier nicht nur von mehr Platz oder gar von einem anderen Viertel. Ich spreche von einem anderen Leben.«
»Aber mir gefällt mein Leben. Es passt zu mir.« Es hatte fröhlich klingen sollen, aber Esther waren wider Willen die Gesichtszüge gefroren, und sie hatte zu zittern begonnen.
Hayden, der immer noch ihre Hand gehalten hatte, war das nicht entgangen. Er hatte sich so weit vorgelehnt, dass Esther schon befürchtet hatte, er könnte sich zu einer Dummheit hinreißen lassen. Ein kleiner wilder Teil von ihr hatte direkt darauf gehofft, der ansonsten stets würdevolle Hayden könnte ein ungeahntes Temperament offenbaren. Dabei war ihr durchaus bewusst gewesen, dass sie ihm das später nur schwer hätte verzeihen können.Temperament war etwas, auf das sie gut verzichten konnte.
Obwohl Esther sich Männern gegenüber stets um Zurückhaltung bemühte, hatte es seit ihrer Ankunft in L. A. einige Interessenten gegeben. Dass sie sich ausgerechnet für Hayden entschieden hatte, einen Mann um die vierzig mit schütter werdendem Haar, der einige Whiskeys brauchte, um von seiner vor Jahren tödlich verunglückten Frau zu erzählen, hatte selbst Anders überrascht, der die besten Geschäftskontakte zu dem Anwalt pflegte. Aber Esther sah ein Versprechen in Hayden, das sie über den Altersunterschied von fast zwanzig Jahren hinwegblicken ließ, genauso wie über die Tatsache, dass er ein durch und durch ernsthafter Mann war. Dafür hatte er etwas zu bieten, von dem sie bis ans Ende ihrer Tage nicht genug bekommen konnte:Verbindlichkeit.
Haydens Naturell war von Standfestigkeit geprägt, die nicht einmal Anders’ Eröffnung über seine dämonische Natur aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Das einzige Anzeichen für seine Bestürzung hatte darin bestanden, dass er seine Pfeife im Büro angesteckt hatte - was er sonst nie tat.
»In diesem Fall hatte Hayden sich eine einmalige Ausnahme gegönnt, für die er sich später vermutlich selbst verklagt hat«, wie Anders stets mit einem breiten Grinsen erzählte. »Sieht ganz danach aus, als würde Pfeifentabak ihn auf eine Weise beruhigen, wie es bei anderen Leuten nur Whiskey mit Valium versetzt gelingt, wenn sie von der Existenz blutrünstiger Dämonen erfahren. Hayden ist ein ganz harter Hund. Den darf man auf keinen Fall unterschätzen, nur weil er mit seiner Charakterstärke nicht hausieren geht.«
Genau diese stoische Haltung machte Hayden zu einem hervorragenden Anwalt, aber in den Augen der meisten Frauen nicht unbedingt zu einem begehrenswerten Mann. Für Esther allerdings lag der Reiz gerade in dieser inneren Ausgeglichenheit, die sie wohl für immer mit dem Geruch nach Kirschtabak verbinden würde. Ein Leben an Haydens Seite war absolut vorhersehbar, eine gerade Straße mit einem einladenden Haus am Stadtrand. Genau das, was sie brauchte - für alles andere reichte ihre Energie nicht mehr aus. Sie sehnte sich mit jeder Faser ihres Körpers nach einem Ruhepol, dem es endlich gelang, die Vergangenheit auszumerzen.Wenn ihr nach Aufregung zumute war, reichte es schließlich vollkommen, ein Buch aufzuschlagen und die Abenteuer von anderen mitzuerleben.
An jenem Abend hatte Hayden zu ihrer Erleichterung nichts weiter gesagt, sondern bloß still ihre Hand gehalten, bis sie sich so weit unter Kontrolle hatte, dass sie das Gespräch in unverfängliche Bahnen lenken konnte. Es war die Bestätigung für die Richtigkeit ihrer Entscheidung gewesen. Bis heute hatte sie es nicht bereut …
Esther biss sich auf die Unterlippe, weil der Satz sich wie eine Lüge anhörte. Sie hatte es nie bereut, bis auf gestern Abend, ergänzte sie schuldbewusst. Jedoch nur für die kaum nennenswerte Spanne, als das Klavierspiel eines anderen Mannes etwas in ihr bewegt hatte. Etwas gut Verborgenes.
Gedankenverloren kämmte Esther ihr Haar aus, das in weichen Wellen auf ihre Schultern fiel, dann versuchte sie, sich mit Rouge und Lippenstift etwas Farbe in ihr blasses Gesicht zu zaubern. Im Sommer bemühte sie sich darum, wenigstens einen Hauch von Bräune einzufangen, was in Kalifornien fast einer Pflicht gleichkam. Aber im Winter traute sie mit ihrer hellen Haut der stechenden Sonne nicht über den Weg, zu oft hatte sie sich schon verbrannt. Ein Erbe ihrer Heimat, in der der Himmel von Regenwolken beherrscht wurde.
In dem Moment, in dem sie in ihre Strümpfe schlüpfte, schrillte das Telefon.Von Unwillen erfasst, starrte sie es an.
Vermutlich Anders, der sie nun doch schon früher zu ihrem Auftrag delegieren wollte. Normalerweise bargen seine Anweisungen kein Problem für sie, doch sie hatte den Ausklang der gestrigen Party noch zu lebendig vor Augen, um diesem Adam nicht früher als nötig unter die Augen treten zu wollen. Jedenfalls nicht, solange der Gedanke an ihn sie noch derartig durcheinanderbrachte. Wenn sie sich nicht allzu sehr täuschte, war er bestimmt noch mit seiner Gespielin beschäftigt, so wie die beiden sich nach Anders’ Kuss vor Publikum aufgeführt hatten.
Allein die Erinnerung versetzte Esther einen Stich. Sie hätte sich abwenden sollen. Stattdessen hatte sie - wie alle anderen auch - dem leidenschaftlichen, oder besser gesagt: hemmungslosen Treiben des Paares zugesehen. Selbst in den Armen einer anderen Frau hatte Adams Anziehungskraft keinen Deut eingebüßt.
Am anderen Ende der Leitung meldete sich zu ihrer Erleichterung Hayden. »Ich wollte nur Bescheid sagen, dass ich mich eine halbe Stunde früher aus der Kanzlei losmachen konnte. Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich dich jetzt schon abhole? Dann kann ich dich nach dem Mittagessen noch auf einen Kaffee einladen.«
Esther stimmte zu, froh, dass Hayden ihr nicht nur eine Möglichkeit bot, ihrem Gefühlschaos zu entkommen, sondern auch, um ihr vor Augen zu halten, was wichtig für sie sein sollte. Nämlich exakt das Gegenteil von diesem Adam. So beeilte sie sich, sich fertig zu machen, denn sie wollte Hayden gern unten am Eingang in Empfang nehmen, ehe er die Treppen heraufkommen konnte.
Nachtglanz - Heitmann, T: Nachtglanz
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