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Wahn und Wahrheit
Klares Morgenlicht fiel durch hohe Fenster und
weckte Adam. So jäh, als hätte man ihm einen elektrischen Schlag
verpasst. Mit rasendem Herzen richtete er sich auf und versuchte,
noch einen Blick auf die abrupt verlassene Traumwelt zu werfen.
Doch da war nichts. Bloß reine Schwärze, als gäbe es keinen Ort
mehr, an den seine Seele sich zum Ausruhen zurückziehen konnte.
Falls er denn noch eine besaß.
Während er seine Beine vom Sofa, auf dem er gelegen
hatte, schwenkte, kehrte die Erinnerung zurück. Allerdings brach
sie nach wie vor in jener Gasse im Dämmerlicht ab, als habe sein
Leben erst genau in diesem Moment begonnen.
Eigentlich hatte Adam erwartet, nach dem Aufwachen
unter Kopfschmerzen oder zumindest einem gequälten Magen zu leiden.
Stattdessen fühlte er sich energiegeladen. Lediglich der
widerwärtige Gestank, der von seiner Kleidung ausging, machte ihm
zu schaffen. Außerdem war da eine unbestimmte Unruhe, die an ihm
nagte. Er hatte das Gefühl, er müsse etwas Dringendes erledigen,
dabei jedoch vergessen, um was es sich handelte.
»Guten Morgen, mein Guter. Da sind Sie ja wieder.
Haben dagelegen wie ein Toter. Ich hätte mir ernsthafte Sorgen
gemacht, wenn nicht Ihr Atmen verraten hätte, dass Sie noch unter
uns weilen.«
Die singende Stimme ließ Adam zusammenfahren.
Schlagartig spannte er sämtliche Muskeln an, konnte aber den Drang
beherrschen, in Angriffsstellung überzugehen. Womit er sich
zweifelsohne auch nur blamiert hätte, denn der zierliche Herr saß
entspannt mit übergeschlagenen Beinen in einem Sessel und las den
Figaro. Die Seiten der Zeitung zitterten im Wind, der durch
das offen stehende Fenster hereinwehte und den Duft vom ersten Grün
des Jahres mit sich trug.
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich bei Ihnen
dafür bedanken soll, dass Sie mich hierhergebracht haben. Oder ob
ich nicht besser umgehend eine Erklärung einfordern sollte«, setzte
Adam an, während er die Miene seines Gastgebers studierte. Doch der
lächelte nur gelassen, als ginge von Adam keinerlei Gefahr aus,
obwohl er ihm bestenfalls bis zur Brust reichte.
»Was Sie brauchen, ist ein Bad und frische
Kleidung. Blut stinkt für unsereins widerlich, wenn es erst einmal
getrocknet ist. Schlimmer als jedes verrottete Stück Fleisch.«
Demonstrativ zog er die Nase kraus. »Am Ende des Flurs befindet
sich der Badesalon, dort liegt schon alles für Sie bereit. Die gute
Seele des Hauses, Henri, wird bald mit einem frischen Hemd und
neuen Hosen für Sie zurückkehren. Aus meinem Kleiderfundus werden
Sie sich kaum bedienen können, dafür sind Sie eindeutig zu groß
geraten.«
Obwohl Adam ebenfalls der scheußliche Geruch des
Blutes quälte, weit mehr als der Dreck und Schweiß auf seiner Haut
und Kleidung, verharrte er. »Zuerst möchte ich Ihnen noch ein paar
Fragen stellen.«
»Dafür haben wir später noch alle Zeit der
Welt.«
Adam überging diesen Zwischeneinwurf genau wie die
Tatsache, dass sein Gastgeber gezwungen war, sich mit der Zeitung
frische Luft zuzuwedeln.
»Wie lautet mein Name?« Diese Frage war ihm die
wichtigste von allen.
»Das kann ich Ihnen leider nicht sagen, Sie haben
ihn mir nämlich noch nicht genannt.«
»Als mein Onkel sollten Sie ihn aber doch
eigentlich kennen.«
Der weißhaarige Mann lachte nur amüsiert.
»Sie sind also keineswegs mein Onkel, auch nicht
zweiten oder dritten Grades?« Adam formulierte es zwar wie eine
Frage, aber strenggenommen war es eine Feststellung.
»Nein, Ihr Onkel bin ich tatsächlich nicht. Aber
wir sind verwandt, wenn auch auf eine Weise, die alles andere als
gewöhnlich ist. Mein Name ist Etienne Carrière, ich bin
Literaturprofessor an der Sorbonne, deren Kapelle Sie vom Fenster
aus bewundern können. Mit wem habe ich die Ehre?«
Adam zögerte. Auf der einen Seite wollte ihm die
Antwort nicht ohne weiteres über die Lippen, auf der anderen fühlte
er eine Wut aufsteigen, die er vor diesem beherrschten Mann nicht
offenbaren wollte. Denn seine Wut verriet nur seine Hilflosigkeit.
Wenn er auch nicht wissen mochte, wer er eigentlich war - dass er
Hilflosigkeit bei sich selbst hasste, wusste er ganz genau.
»Ich bin Adam«, sagte er schließlich ein wenig
steif.
Carrières feine Augenbrauen fuhren zusammen.
Säuberlich strich er die Zeitung glatt und legte sie auf einen
Beistelltisch, ohne den Blick von seinem Gast abzuwenden. »Nur Adam
also … Warum überrascht mich das nicht? Sie sind wohl leicht aus
der Bahn geraten, nachdem Sie unserem namenlosen Freund begegnet
sind, möchte ich meinen.«
»Sie wissen also, was mir zugestoßen ist? Hören Sie
ebenfalls eine Stimme, die Ihnen ihren Willen aufdrängen
will?«
»Hören Sie denn eine?« Als Adam lediglich ein
drohendes Knurren ausstieß, hob Carrière abwehrend die Hände. »Wir
werden später in Ruhe darüber reden. Jetzt nehmen Sie erst einmal
ein Bad, ansonsten verleiden Sie mir Ihre Gegenwart noch
vollkommen.«
Im Badezimmer mit einem angrenzenden und großzügig
geschnittenen Waschraum wiesen die Fenster auf einen Hinterhof
hinaus, in dem bereits eine Felsenbirne blühte. Tatsächlich lag
alles für ein Bad bereit. Trotzdem konnte Adam sich zunächst nicht
dazu durchringen, sich zu entkleiden, obwohl ihn sein Geruch
anwiderte. Zögernd betrachtete er das florale Bodenmosaik, das in
grünem Marmor eingefasste Emailbecken und die modernen Leitungen,
die nicht nur fließendes, sondern sogar warmes Wasser versprachen.
Nicht viele Wohnungen in Paris dürften über einen derartigen Luxus
verfügen.
Kommt mir ein solcher Luxus vertraut vor, oder sehe
ich so etwas zum ersten Mal?, fragte Adam sich unwillkürlich.
Gemessen an seiner Kleidung, die trotz ihrer Zerschlissenheit und
der unzähligen Flecken eindeutig von guter Qualität war, vermutlich
Ersteres. Es änderte jedoch nichts daran, dass er sich in all
diesem Wohlstand unbehaglich fühlte. Seit er in der Gasse erwacht
war, hatte er schnell herausgefunden, dass er über hervorragende
Jagdinstinkte, überempfindliche Sinne und einen kräftigen Schlag
verfügte. Außerdem zeigte er verblüffend wenig Hemmung, einen
Gegner zu attackieren und sogar zu töten. Wie allerdings ein
passendes Zuhause für ihn aussehen mochte, davon hatte er nicht
einmal eine rudimentäre Vorstellung. Er hatte einfach kein Bild von
einem Menschen namens Adam - falls es den überhaupt gab.
Mit dem Fuß schob er seine verdreckte Kleidung vor
die Tür in der Hoffnung, dass dieser Henri tatsächlich bald mit
frischen Sachen auftauchen würde. Den Gestank nach Blut wollte Adam
jedenfalls keinen Augenblick länger mehr ertragen. Genauso wenig
wie den Geruch der beiden Männer, der beim Kampf an ihm haften
geblieben war und ihn daran erinnerte, dass er sie tot
zurückgelassen hatte.
Lange Zeit sah er dem Wasser zu, wie es rötlich
verfärbt im Abfluss verschwand. Selbst als es klar war, konnte er
sich nur
schwerlich von dem Anblick lösen, erwartete er doch geradezu, noch
mehr Blut müsse folgen. Mit fest aufeinandergepressten Lippen
wandte er sich schließlich den Seifen auf dem Badewannenrand zu,
die für seinen Geschmack alle zu stark nach Gräsern, Hölzern oder
irgendwelchen aufdringlichen Ölen rochen. Ihm gefiel der Gedanke
nicht, einen künstlichen Duft an sich zu tragen, obwohl er viel
dafür gegeben hätte, diesen penetranten Muskatduft zu übertünchen,
der ihm aus jeder Pore strömte.Also griff er sich lediglich eine
der Bürsten und machte sich an die Arbeit.
Eigentlich hätte es ihn nicht verwundern sollen,
aber er fand an seinem ganzen Körper nicht eine einzige Kampfspur.
Kein Bluterguss, keine Schramme, nicht die kleinste Andeutung einer
Verletzung. Wären das Blut und die Gerüche der beiden Männer nicht
gewesen, hätte er von einer Wahnidee ausgehen können. Aber so?
Vielleicht war ja alles, was er erlebte, nichts anderes als die
Wahnwelt eines Irren, dessen Geist in seinem Kopf eingesperrt war,
während sein Leib wohl verwahrt in einem Hospitalzimmer
dahinvegetierte.
Ein Stöhnen unterdrückend, stieg Adam aus der
Wanne, schlang ein Tuch um die Hüften und näherte sich im Waschraum
dem Spiegel, um den er bislang einen großen Bogen gemacht hatte. Da
er noch etwas Zeit schinden wollte, inspizierte er die
Rasierutensilien genau, rührte sorgfältig den Schaum an und zog das
Rasiermesser über den Abziehriemen. Es gelang ihm sogar, sich zu
rasieren, ohne einen genauen Blick auf sein Spiegelbild zu
riskieren. Als er jedoch die Schaumspuren abwischte und dabei
prüfend in den Spiegel sah, blitzten seine schillernd grünen Iriden
auf. So anziehend wie zwei Edelsteine in einer verborgenen
Schatulle.
Konnte man wirklich die eigene Augenfarbe
vergessen?
Je länger er in dieses bestechend gut aussehende
Gesicht schaute, desto fremder erschien es ihm. Auch wenn er nicht
die leiseste Ahnung hatte, wer er war - er war auf jeden Fall
nicht dieser Mann im Spiegel. Es war ein Gesicht, das die
Aufmerksamkeit erzwang, weil man sich seiner Attraktivität nicht
entziehen konnte. Aber er fühlte sich keineswegs wie jemand, der
sich nach Beachtung sehnte. Er wolle seinen Weg gehen können, ohne
dass man sich den Hals nach ihm verdrehte. Zu ihm passte kein
schönes Gesicht, so viel stand zumindest fest.
Mit einem Anflug von Zorn spülte er das
Rasiermesser ab. Während er die scharfe Stahlklinge säuberte,
verflüchtigte sich der Wunsch, hinauszugehen und jemanden für seine
Verwirrung büßen zu lassen. Denn eigentlich hatte er ja schon
jemanden gefunden: diesen Fremden, der ihn unentwegt aus
seinen Katzenaugen beobachtete und sich anscheinend bestens über
seine Konfusion amüsierte.
Herausfordernd betrachtete Adam erneut das
Spiegelbild und fasste einen Entschluss:Wenn all das hier nur
seinem kranken Geist entsprang, hatte folglich nichts von seinem
Tun Konsequenzen. Sollte es jedoch die Realität sein, wollte er sie
lieber schnell hinter sich lassen. Endgültig.
Ohne zu zögern, setzte Adam die Klinge an seinem
Hals an, spürte, wie sie die Haut durchschnitt und mühelos ins
Fleisch glitt, während er den Blick der Katzenaugen mit einem
verächtlichen Lächeln erwiderte. Dunkles, samtig glänzendes Blut
quoll hervor, roch nach Salz, Metall und Leben. In schnell breiter
werdenden Rinnsalen floss es über seine Brust.
Wunderschön, flüsterte die Stimme.
Adam schrie auf, zog die Klinge mehr aus Wut als
aus Verzweiflung quer über seine Kehle. Er taumelte zurück und
stieß unerwartet heftig gegen den Ofensockel. Gegen seinen Willen
versuchte er, durch seine aufgeschnittene Luftröhre zu atmen, was
ihm jedoch nicht gelang. Es drang nur Blut ein, ließ ihn zunächst
husten und dann keuchen.
Die Badezimmertür wurde nach einem kurzen Klopfen
geöffnet, und Etienne Carrière trat ein. Adam blinzelte ihn an und
konnte ihn zwischen den tanzenden schwarzen Flecken kaum noch
ausmachen, während er langsam am Ofen hinabsank. Carrière ergriff
eins der Badetücher und presste es ihm gegen die klaffende
Halswunde.Adam versuchte, ihn abzuwehren und ein »zu spät«
hervorzubringen, aber seine durchtrennte Kehle ließ keinen Laut
zu.
Dafür gelang ihm zu seinem Entsetzen jedoch ein
erster Atemzug, schmerzhaft wie bei einem Neugeborenen.
Dann noch einer.
Carrière lächelte, als würde der Anblick des
fließenden Blutes ihn mehr verzücken als ein paar blasse
Frauenschenkel, dann wurde seine Miene ernst.
»Der Schnitt schließt sich bereits wieder. Sie
haben mein Badezimmer also ganz umsonst ruiniert. Hören Sie endlich
auf, sich gegen meine Hilfe zu wehren, und drücken Sie das Tuch
gegen die Wunde, damit nicht noch mehr Blut das Mosaik verdirbt.
Das bekommt man nämlich nur schwer wieder aus den Fugen. Glauben
Sie mir, ich weiß, wovon ich rede.«
Adam wollte verzweifelt auflachen, brachte
allerdings nur ein blutersticktes Gurgeln zustande, während sich
der Schnitt durch seine Kehle wie von Zauberhand immer weiter
schloss. Bald würde er ein richtiges Lachen zustande bringen, wenn
auch ein bitteres. Das hatte er jetzt endgültig begriffen. Aus
seiner Welt - ob sie nun real war oder nicht - gab es keine
Fluchtmöglichkeit. Er war ein Gefangener.
Du gehörst mir, sang die verhasste Stimme,
für immer.