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Eine russische Affäre
Gräfin Antonia Iwanowna - oder Toska, wie sie sich
seit einigen Monaten nannte, obwohl es eine eher schmähliche
Kurzform ihres Namens war - war bester Laune. Noch während des
Aufstehens hatte sie den dicht fallenden Nieselregen vor den
Fenstern bemerkt, der den ganzen Tag nicht nachgelassen hatte. Grau
und diesig war die Welt, so wie man es im März erwarten
durfte.
Die vergangenen Tage mit ihrer unnatürlichen Wärme
hatten Toska zugesetzt, nicht nur ihrem Gemüt, sondern auch ihrer
Wintergarderobe, die sie zu ihrem Leidwesen schon in Italien nicht
hatte ausreichend vorführen können. Was nützten einem die edelsten
Pelze, wenn man in ihnen wie ein Stück Butter in der Sonne
zerfloss? Gewiss, die Italiener hatten keine Chance ungenutzt
verstreichen lassen, um über den angeblich kalten Winter zu
schimpfen, der nicht etwa Frost und Schneemassen, sondern lediglich
Matsch und Langeweile mit sich gebracht hatte. Dafür hatte Toska
nur ein Kopfschütteln übriggehabt. Genau wie die Pariser es
offenbar für höchst angebracht hielten, dass endlich der Frühling
Einzug hielt, während Toskas russische Seele nach eisklirrender
Kälte verlangte. Oder zumindest nach einem Klima, das ihren üppigen
Brokatmantel mit Fuchspelzbesatz nicht lächerlich aussehen
ließ.
Heute sah sie endlich ihre Chance gekommen. Selbst
als ihre Zofe sie auf die zwischen den Wolken hervorbrechende Sonne
hinwies, hatte sie ihre Meinung nicht mehr ändern wollen.
Sogar die Pelzkappe, das eigentliche Schmuckstück
dieses Aufzugs, zwängte sie über ihr hochgestecktes Blondhaar, das
sie normalerweise stets zu betonen bemüht war.
Als sie im Salon mit ihrer Gesellschafterin Raisa
zusammentraf, entglitten der älteren Dame für einen Moment die
Gesichtszüge. Auch wenn Raisa es spätestens seit ihrem
Toskanaaufenthalt aufgegeben hatte,Toskas Garderobe zu beurteilen -
einfach, weil es ihr nicht gelingen wollte, die jeweilige Mode
eines Landes und die mit ihr einhergehenden Regeln zu begreifen -,
so ahnte sie trotzdem, dass dieser Aufzug zweifelsohne Aufsehen
erregen würde. Nun, vermutlich wollte Tosjenka, wie sie die junge
Frau in gedankenverlorenen Momenten zärtlich nannte, auch genau das
erreichen. Zwar pflegten die Pariserinnen einen ausgesprochen
gewagten, gar verspielten Stil, aber Tosjenka sah in ihrem
aufwendigen Brokatmantel aus wie die Heldin aus einem
Wintermärchen. Fehlte nur noch der von Hirschen gezogene
Schlitten.
Allerdings kannte Raisa den Hang der jungen Frau zu
exzentrischen Auftritten, mit denen sie ihre Langeweile zu
bekämpfen versuchte, und ließ ihn ihr gern durchgehen. Mit einem
übertriebenen Aufzug konnte sie nämlich deutlich besser
fertigwerden als mit den anderen Mätzchen, mit denen Tosjenka ihre
Geduld in den letzten Monaten auf die Probe gestellt hatte.
Mir hätte schon viel früher klar werden müssen,
dass sie mit ihren einundzwanzig Jahren kein Mädchen mehr ist,
dachte Raisa, während Toska herausfordernd ihre Pelzkappe
zurechtrückte, als warte sie nur auf einen Tadel, den sie in den
Wind schlagen konnte. Anstatt das Kind auf Reisen zu schicken,
hätten ihre Eltern sie besser schleunigst verheiraten sollen. Nun,
da Tosjenka auf den Geschmack gekommen war, wie überaus
unterhaltsam männliche Gesellschaft sein konnte, würden sie das
möglichst rasch nachholen müssen.
Es hatte nicht viel gefehlt, und Toskas Großtante,
die sie auf diese Europareise eingeladen hatte, hätte etwas von der
unmöglichen Affäre bemerkt, die ihre Nichte bereits während ihres
Aufenthalts in der Toskana eingegangen war. Glücklicherweise
gehörte dieses Problem nun der Vergangenheit an und hatte allem
Anschein nach keinen größeren Schaden als heftige
Gefühlsschwankungen bei Tosjenka hinterlassen.Was allerdings nicht
weiter auffiel, denn die junge Dame schwankte ohnehin stets
zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt. Vielleicht war
es auch dieser ewigen Unruhe geschuldet, dass Raisa sich der jungen
Frau schon länger nicht mehr gewachsen fühlte und ihr deshalb
entschieden mehr Dummheiten durchgehen ließ, als sie einer Dame aus
gutem Hause eigentlich zustanden.
Ich werde langsam alt, gestand Raisa sich ein, als
sie in Tosjenkas trotzige Miene blickte. Nein, sie verspürte nun
wirklich kein Verlangen, diesen Aufzug zu kommentieren. So seufzte
sie nur und sagte: »Wollen wir dann also zu einem kleinen
Spaziergang aufbrechen, bevor Ihre Frau Großtante Sie zum
Abendessen erwartet?«
Augenblicklich leuchtete jenes strahlende Lächeln
auf, für das Toska berühmt-berüchtigt war und für das man ihr schon
viel hatte durchgehen lassen. Zu einer leichten Plauderei anhebend,
hakte sie sich bei ihrer Gesellschafterin ein und steuerte den Weg
zum Foyer an. Erst als sie die letzten Stufen der geschwungenen
Treppe nahmen, verlangsamte Toska merklich ihren Schritt, damit
auch keinem der dort verweilenden Gäste ihre Ankunft entging.
Obwohl sie den Kopf hoch erhoben trug, sah sie doch alles und
stellte mit Genugtuung fest, dass sie - wenn auch nur für einen
Augenblick - im Zentrum der Aufmerksamkeit stand. Mehr hatte sie
jedoch bei diesem verwöhnten Publikum des Grand Hôtels auch nicht
erwartet. Allein dafür hatte es sich gelohnt, ordentlich ins
Schwitzen zu geraten.
Sobald sie zur Eingangstür hinaus waren, würde sie
die Pelzkappe abnehmen - das stand fest.
Während Raisa bereits zielstrebig auf den Ausgang
zuhielt und an ihrem Arm zerrte, schenkte Toska der anwesenden
Allgemeinheit ein Lächeln, wobei ihr Blick geübt über die Gesichter
schweifte, ohne wirklich eins wahrzunehmen. Geradeso, wie sie es
bei den Schauspielerinnen der hiesigen Theater gesehen hatte, denen
es mit einem Lächeln gelang, das gesamte Publikum einzufangen.
Allerdings entglitten Toska ganz unvermittelt die Züge, als sie an
einem Gesicht hängen blieb, das man auf keinen Fall übersehen
konnte. Ohne Warnung blieb sie wie angewurzelt stehen und brachte
somit die arme Raisa ins Stolpern und damit um ihre Würde.
Mit offenem Mund stand Toska da und starrte den
Mann an, der ein Gespräch an der Rezeption führte.
»Charles?«, brachte sie schwach hervor. In ihrer
Stimme schwang etwas mit, das Verzückung und Unglauben
verriet.
Raisa, die mit Schamesröte auf den Wangen gerade um
eine Erklärung wegen des abrupten Halts bitten wollte, folgte dem
Blick der reglos dastehenden Frau. Als sie den Auslöser für Toskas
Verhalten entdeckte, schlug sie sich rasch die Hand vor den Mund,
um ein Aufstöhnen zu unterdrücken.
In der Zwischenzeit löste sich Toska von Raisas Arm
und schritt wie eine Traumwandlerin auf die Rezeption zu.
Augenblicklich vergaß Raisa, dass einige wartende Gäste sich die
Zeit damit vertrieben, sie zu beobachten. Sie packte die junge Frau
so fest am Arm, dass diese aufkeuchte, und zischte ihr ins Ohr:
»Sie werden nicht zu ihm gehen!«
Zunächst blickte Toska verblüfft drein, als sei sie
überrascht, dass außer diesem Mann und ihr überhaupt noch jemand
anders auf der Welt existierte. Aber dann wich die Verblüffung
bockiger Entschlossenheit, die Raisa in den vergangenen Monaten zu
fürchten gelernt hatte.
»Natürlich werde ich Charles Guten Tag sagen, warum
denn nicht?«
Raisa fielen sofort unzählige Gründe ein, warum sie
das tunlichst unterlassen sollte, aber sie nannte nur den
herausragendsten, der Toskas Stolz beträchtlich gebrochen hatte:
»Weil Charles Sie gerade verlassen hat - zum zweiten Mal übrigens
innerhalb der wenigen Monate, seit Sie seine Bekanntschaft gemacht
haben. Und das aus dem schlichten Grund, weil er eine alberne
Zugfahrt Ihrer Gesellschaft vorzieht.«
Toska zuckte zusammen, fing sich jedoch schnell
wieder. Viel zu schnell für Raisas Geschmack. »Ach, hat er das? Und
warum steht er dann hier im Foyer? Vermutlich erkundigt er sich
gerade nach mir. Das wird eine Überraschung geben. Charles liebt
Überraschungen.«
Sie wollte weitergehen, doch Raisa weigerte sich,
von ihrem Arm abzulassen. »Hören Sie, Sie haben doch bereits mehr
als ein Mal herausgefunden, wie unberechenbar Charles ist. Seien
Sie froh, dass Sie nach seiner unverfrorenen Abreise vor ein paar
Tagen einen guten Grund haben, ihn zu ignorieren. Soll er einer
anderen Frau das Herz brechen.«
»Charles hat mir doch nicht das Herz gebrochen«,
erwiderte Toska mit einem künstlichen Lächeln. »Ich finde ihn
unterhaltsam, mehr nicht.«
»Wenn Sie ihn nur unterhaltsam finden, dann
verstehe ich nicht, warum Sie Ihre Großtante so penetrant genötigt
haben, bereits im März nach Paris zu reisen anstatt wie geplant im
Mai, wenn nicht seinetwegen. Unterhaltung gab es auch in den
toskanischen Städten - das haben Sie ja erst bemerkt, nachdem er
abgereist war. Und wozu der ganze Aufwand? Vier gemeinsame Tage in
Paris, und dieser Unmensch kauft sich einfach eine Zugkarte, um
sich der nächsten lockenden Zerstreuung hinzugeben. Wie gut, dass
Ihre Tante sich standhaft weigert, den Osten Europas zu bereisen,
weil hier demnächst die Weltausstellung
eröffnet wird.Ansonsten säßen wir jetzt vermutlich ebenfalls in
diesem Orientexpress.«
Doch Toska hörte ihr gar nicht zu. Ihre ganze
Aufmerksamkeit galt Charles und seinem weich fallenden Haar, das im
Licht der Lüster wie dunkler Honig schimmerte. Sie betrachtete sein
Profil, das sich ihr so sehr eingebrannt hatte, dass es jedes Mal
aufleuchtete, wenn sie die Augen schloss. Sie studierte die
Rückenlinie, deren kraftvolle Muskeln sie ausgiebig erkundet hatte,
und die Hände, die mit einem Zylinder spielten. Sie war derartig
gefangen von seinem Erscheinungsbild, dass es für verletzten Stolz
und zu wahrende Würde keinen Platz mehr gab.
Während Raisa ununterbrochen in beschwörendem Ton
auf sie einredete, befreite sich Toska aus ihrem Griff und ging auf
die Rezeption zu. Aufgeregt wartete sie auf den Moment, in dem
Charles’ grün funkelnde Augen sie endlich finden würden. Nicht
einmal, als diese Katzenaugen sie tatsächlich streiften, ohne sie
mit Beachtung zu würdigen, blieb sie stehen. Es war ganz gleich,
wie er sich verhielt - Hauptsache, er war wieder zurück,
Hauptsache, sie konnte ihn ansehen und sich in ihm verlieren. Ohne
Zögern streckte sie die Hand aus und packte ihn am Kinn, woraufhin
er gezwungen war, ihr endlich Aufmerksamkeit zu schenken.
»Charles, du Ungeheuer«, sagte sie mit einer vor
Erregung bebenden Stimme. »Bist du etwa zurückgekehrt, um mich
weiterzuquälen?«
Charles blickte sie an, als sehe er sie zum ersten
Mal in seinem Leben. Fast hätte Toska laut aufgelacht. Ein neues
Spiel begann, und sie würde auch dieses Mal mitmachen, ganz gleich,
wie hoch der Preis dafür war. Sie konnte ihm einfach nicht
widerstehen, auch wenn er ihr Untergang sein mochte.