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Liebesbeweise
Esthers Stimme versagte.
Adam, der die ganze Zeit wie eine Statue vor ihr
gekniet hatte, streckte sofort die Hand nach ihrem Gesicht aus,
doch ein leichtes Kopfschütteln ließ ihn innehalten. Stattdessen
betastete Esther es selbst mit steifen Fingern, als vermutete sie,
auf tiefe Risse in der Oberfläche zu stoßen. Nur ertasteten ihre
Fingerspitzen nichts, dafür waren sie zu taub, regelrecht leblos,
als sei ihr Körper während ihrer Reise in die Vergangenheit
abgestorben. Wer konnte auch damit rechnen, einen Ort aufzusuchen,
der von Toten bewohnt wurde, und keinen Preis dafür zahlen zu
müssen? Allein die Namen der Toten laut auszusprechen, hatte jedes
Mal ein Stück von ihr selbst getötet. Oder irrte sie sich da
vielleicht? Denn mit einem warmen Prickeln kehrte das Leben in ihre
Fingerspitzen zurück.
Schließlich gelang es ihr, Adam in die Augen zu
sehen. Darin fand sie Mitgefühl sowie sein offenkundiges Verlangen,
ihr endlich beweisen zu dürfen, dass diese Geschichte nichts
zwischen ihnen veränderte. Und wenn überhaupt, dann nur zum Guten
hin. Zu gern wollte sie ihm sagen, dass sie bei ihm mit nichts
anderem gerechnet hatte, aber ihre Zunge verweigerte ihr nach wie
vor den Dienst, und eine Umarmung hätte sie in diesem Moment noch
nicht ertragen.
»Das ist eine sehr traurige Geschichte«, sagte Adam
mit einer Ruhe, die sich auf sie übertrug.
»Geschichten über Tote, die man geliebt hat, sind
immer traurig. Und es ist grausam, sie fortsperren zu müssen, damit
man weiterleben kann.«
»Niall ist also auch …«, setzte Adam an, konnte den
Satz jedoch nicht zu Ende bringen.
»Das Urteil bei Polizistenmördern steht von
vornherein fest.« Esther widerstand dem Bedürfnis, ihre zitternden
Händen unter den Oberschenkeln zur Ruhe zu bringen. »Nach seiner
Hinrichtung habe ich meine Vergangenheit ein zweites Mal abgelegt,
gemeinsam mit der irischen Variante meines Namens. Eistir … Dieser
Name fühlt sich ganz fremd auf meiner Zunge an. Ich habe alles
hinter mir gelassen, als ich nach Kalifornien gezogen bin, weil es
ansonsten auch mich getötet hätte. Ich konnte keine Sekunde länger
Eistir McKenna sein. Zumindest dachte ich das. Aber ein Zettel, auf
dem eine Adresse geschmiert stand, hat mich wider besseres Wissen
mit in mein neues Leben begleitet. Anders hat es herausgefunden und
ist der Spur zurück in die Vergangenheit gefolgt.«
Einen Augenblick lang war der Druck, der auf
Esthers Kehle lastete, so groß, dass sie zu ersticken befürchtete.
Qualvoll strich die Zeit dahin, und als Adam entschlossen nach
ihrer Hand griff, wies sie ihn dieses Mal nicht ab. Sie brauchte
seinen Trost, und noch mehr: Nach allem, was in den letzten zwölf
Stunden geschehen war, brauchte sie seine Hilfe.
»Auf dem Zettel hatte Caitlin mir die Adresse ihrer
Familie in Irland aufgeschrieben. Sie ist nämlich noch im selben
Herbst zurückgekehrt. Was hätte sie auch anderes machen sollen,
schwanger und ohne Mann? Ich konnte ihr damals leider nicht helfen,
ich wusste selbst kaum, wo mir vor lauter Trauer und Verzweiflung
der Kopf stand. Wäre Niall nicht gewesen, hätte ich sie vielleicht
begleitet, aber so? Ich wollte ihn dieses letzte Stück des Weges
nicht allein gehen lassen, obwohl er meine Besuche stets verweigert
hat. Er hat nach seiner Festnahme einfach
so getan, als wäre er schon tot. Er wollte, dass ich weitergehe,
ohne zurückzublicken.Aber das konnte ich erst, nachdem er
hingerichtet worden ist.«
Erneut schnürte sich Esthers Kehle zu, bis sie kurz
davor war, ihren bleiernen Kopf sinken zu lassen und sich nie
wieder aufzurichten. Es war unfassbar schwer, die Vergangenheit so
nah an sich heranzulassen.Trotzdem wohnte der Erzählung Trost inne,
als würde sie trotz der Schmerzen ein verlorenes Stück ihres Selbst
zurückgewinnen.
»Erst nachdem ich bereits einige Zeit für Anders
arbeitete, wagte ich es, Caitlin zu schreiben. Ich musste wissen,
was aus Dillons Kind geworden ist, obwohl es Nialls Überzeugung
widersprach, dass man nicht zurückblicken darf.«
»Anders weiß also von diesem Kind?«
Esther musste die Augen fest zusammenkneifen, um
sich auf diesen Part konzentrieren zu können. Ihre Gedanken wollten
nämlich bei dem Jungen bleiben, den sie sich bereits unzählige Male
in ihrer Fantasie vorgestellt hatte, stets mit Dillons berühmtem
strahlenden Lächeln. CaitlinsVersuch, einen regelmäßigen
Briefkontakt aufzubauen, damit sie ihr von den Entwicklungen des
Kindes berichten konnte, hatte Esther schleunigst unterbunden. Zu
groß war ihre Sorge gewesen, die Mauer zwischen sich und Eistir
könnte zu bröckeln anfangen, wenn dieses Kind in Irland mehr als
eine vage Vorstellung war. Spätestens, wenn Caitlin ihr ein Foto
geschickt hätte, hätte sie zweifelsohne sämtliche Vorsätze über
Bord geworfen und wäre auf die grüne Insel zurückgekehrt. Aber das
war ganz und gar unmöglich. Sie schuldete ihren Brüdern ein anderes
Leben.
Mühsam atmete Esther tief ein, bis sie den Druck in
ihrer Brust ausgeglichen hatte. »Allem Anschein nach weiß Anders es
schon länger. Frag mich nicht, woher, er hat mir gegenüber niemals
auch nur eine einzige Andeutung gemacht. Ich vermute, dass ihn
jemand bei der Bank über meine Geldgeschäfte
auf dem Laufenden gehalten hat. Ich unterstütze Caitlin
finanziell. Mehr kann ich nicht für sie tun.«
Es fühlte sich wie eine Befreiung an, diese Dinge
zu offenbaren. Dabei hatte Esther niemals darauf gehofft, mit
jemandem darüber sprechen zu können. Unwillkürlich stellte sie sich
vor, wie Hayden wohl auf ihre Lebensgeschichte reagieren würde:
Auch er war kein Mann, der vor Abgründen zurückschreckte. Trotzdem
war es etwas anderes, mit Adam darüber zu reden, denn er war seit
ihrer ersten Begegnung davon ausgegangen, dass sie nicht die Frau
war, die sie so perfekt vorzutäuschen verstand. Ihm war gleich
aufgefallen, dass sie Geheimnisse verbarg, während Hayden eine Frau
ohne Vergangenheit zu lieben glaubte. Genau aus diesem Grund hätte
Esther ihm alles verschwiegen, auch noch nach lauter glücklichen
gemeinsamen Jahrzehnten.
Grob rieb Esther sich die Augenlider, dann besann
sie sich wieder auf das Gespräch. Adam musste wissen, warum sie ihn
so überstürzt verlassen hatte.
»Dieser Adalbert, der sich seit einiger Zeit bei
Anders eingenistet hat und so tut, als sei er sein Diener, hat mir
in der Hotellobby nur drei Sätze ins Ohr geraunt: ›Caitlin und ihr
Junge brauchen ab jetzt deutlich mehr Unterstützung als ein paar
lumpige Dollar im Monat. Anders möchte dir hierzu gern ein Angebot
unterbreiten, aber nur wenn du jetzt sofort zu ihm gehst. Allein.‹
Mehr brauchte es allerdings auch nicht, um mich zu überzeugen. Mir
blieb nichts anderes übrig, als mich zu fügen, schließlich kenne
ich Anders’ weitmaschiges Netz aus Kontakten. Wer von eurer Art,
von den Dämonenbeseelten, einmal von seiner Gabe gekostet hat,
gehört ihm. Bis auf eine Ausnahme.«
Prüfend betrachtete sie Adam, der jedoch nur den
Kiefer fest aufeinanderpresste. Es war unmöglich zu sagen, was ihm
mehr zusetzte - dass Esther den Dämon erwähnte oder die Macht
hinter Anders’ Gabe.
»Jedenfalls wäre es ein Leichtes für Anders,
Caitlin und ihrem Kind zu schaden. Das kann ich nicht zulassen,
denn sie sind das einzige Lebendige aus meinerVergangenheit. Ich
würde es nicht ertragen, wenn ihnen meinetwegen etwas
zustößt.«
»Das wird es auch nicht, ich verspreche es
dir.Anders verfügt vielleicht über weitreichenden Einfluss, aber er
wird erst einmal keinen Finger rühren. Schließlich geht er davon
aus, dass ich dich gegen deinen Willen mitgenommen habe. Wie ich
ihn einschätze, wird er abwarten, was ich als Nächstes tue. Ein
Kind im fernen Irland zu bedrohen, bringt ihm im Augenblick
herzlich wenig. Wir können uns also eine kleine Atempause
gönnen.«
Das Lächeln, das sich auf Esthers Lippen schlich,
fühlte sich brüchig an, aber wenigstens war es da. »Caitlin hat den
Jungen Aedan genannt, was so viel wie aus dem Feuer geboren
bedeutet. Vermutlich ist sich Caitlin dieser Bedeutung gar nicht
bewusst gewesen, nur finde ich, es kann keinen passenderen Namen
für das Kind meines Bruders geben. Dillon konnte mit seinem inneren
Feuer schließlich alles um sich herum erleuchten.« Während dieser
Gedanke sie - wie bereits unzählige Male zuvor - wärmte, fanden die
Tränen schließlich doch ihren Weg, und mit ihnen wurde auch der
Druck gesprengt, der sie seit jenem Tag unablässig peinigte.
Endlich setzte Adam sich neben sie aufs Bett, zog
sie auf seinen Schoß und streichelte ihr liebevoll den Rücken. Bald
war Esther diese Berührung zu zahm, und sie begann, sich in seinen
Armen zu winden, bis sie endlich ihre Finger in seinem Haar vergrub
und seinen Mund zu sich hinabziehen wollte. Zu ihrer Enttäuschung
streiften Adams Lippen ihre jedoch nur flüchtig, dann zog er sich
wieder zurück. Mit einem unterdrückten Schnauben setzte sie ihm
nach, doch seine Arme ließen ihr nicht genug Spielraum.
»Liebling, beruhige dich.« Seine Worte waren
gehauchte
Küsse auf ihrem Haar. »Du bist viel zu aufgewühlt, du brauchst
einen Moment Ruhe.«
»Zum Teufel mit der Ruhe!«, brach es aus ihr
hervor. »Ich bin nicht so zerbrechlich, wie du denkst.«
»Zerbrechlich vielleicht nicht, aber ich werde ganz
bestimmt nicht zulassen, dass du gerade jetzt deine Grenze
austestest.« Wie um seine Worte zu unterstreichen, zog er sie
fester in seine Arme. »Jeder Mensch kann nur ein bestimmtes Maß an
Trauer und Aufruhr ertragen - und deins ist mittlerweile
ausgereizt, ob dir das nun gefällt oder nicht.«
Obwohl ihr klar war, dass sie gegen Adams Umarmung
nichts ausrichten konnte, wenn er nicht wollte, kämpfte sie dagegen
an, bis er sie schließlich freigab - wohl aus Angst, ihr wehzutun.
Esther zögerte keinen Augenblick, sondern riss an seinem Hemd, bis
sie ihre brennenden Lippen mit seiner Haut vereinen konnte. Hungrig
fuhr ihre Zungenspitze zu der Kuhle über seinem Schlüsselbein,
während ihre Hände den Stoff von seinen Schultern zerrten. Es
kümmerte sie nicht, dass Adam vollkommen still hielt. Sie brauchte
seine Haut, die einen verstörend klaren Geruch verströmte und
gleichzeitig von einer Wärme war, mit der sie verschmelzen wollte.
Sie verspürte ein solches Verlangen nach einer Vereinigung mit
Adam, dass es ihr regelrecht Schmerzen bereitete.
Ihr Mund legte sich an seinen Hals, und durch das
Pulsieren seiner Schlagader hindurch glaubte sie für einen
flüchtigen Moment, den fernen Schall eines Liedes zu hören.
Esther verharrte gebannt und lauschte.
Tatsächlich … Nur einen Hauch unter Adams Haut
ertönte ein Lied, das wie ein drängender Strom aus einer Felsspalte
entsprang. Sprudelnd und treibend, voller verlockendem Leben.
Esther presste ihre Lippen noch fester auf den
Puls, damit das Lied auf sie überspringen, durch ihre Adern
rauschen und dabei
einen wilden Reigen raunen konnte, der von der Magie des Blutes
erzählte.
Nein, nicht Blut, beruhigte die singende
Stimme sie. Quell ewigen Lebens, wunderschöne rote Flut. Lass
dich von ihr umspülen, tauch in sie ein. Ich biete dir ein Geschenk
an, das keine Sterbliche ablehnen darf.
Wer sagt das?, meldete sich Esthers Verstand, der
eben noch ganz betäubt vom Klang des mitreißenden Liedes gewesen
war.
Obwohl sie nach wie vor die singende Stimme zu sich
einladen wollte, indem sie das Blut unter ihren Lippen zum Fließen
brachte, löste Esther sich von Adam, der weiterhin reglos
verharrte. Jetzt erst wurde ihr seine Pose klar: Er bot ihr seinen
Hals an, wartete geduldig darauf, dass sie zubiss - als besäße er
nicht länger einen eigenen Willen.
»Adam«, sagte sie leise, um ihn vorsichtig aus
dieser Trance zu wecken. Und wie ein Erwachender blinzelte er sie
benommen an. Zärtlich streichelte sie an seinem Hals entlang und
wunderte sich nicht, als er unter der Berührung
zusammenzuckte.
»Ich will dich, Liebling. Aber dein Blut, das will
ich nicht.«
Adam schluckte so heftig, dass die Bewegung sich
deutlich auf seiner Kehle abzeichnete. »Bist du dir sicher?«
»Ohne jeden Zweifel.Wie ich dir schon einmal gesagt
habe: Ich habe kein Interesse an dem Dämon, ganz gleich, wie
verlockend er sich geben mag. Du bist hundertmal
verlockender.«
Angesichts seiner Erleichterung, musste sie sich
auf die Unterlippe beißen, um nicht aufzulachen. Dennoch entging
ihr seine Reaktion nicht: Seine Lider senkten sich, bis seine Augen
etwas Katzenhaftes annahmen, was ihn nur noch anziehender
machte.Verspielt hakte sie ihren Zeigefinger in seinem bis zum
Bauch offen stehenden Hemd ein und lüpfte es ein Stück, um
nachzusehen, was ihr darunter noch so alles geboten wurde. Die Spur
aus dunkelblonden Haaren fesselte sie, und im nächsten Moment
folgte sie ihr in die Tiefe.
Adam schnappte laut nach Luft. »Und ich mache mir
Sorgen um dich, du kleines Biest«, brachte er zwischen
zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Wenn es dich beruhigt, erleide ich später noch
einen Nervenzusammenbruch. Dann kannst du mich ausgiebig bemuttern.
Aber jetzt möchte ich eigentlich nur herausfinden, ob ich für dich
auch nur ansatzweise so verlockend bin wie du für mich.«
Adams Mundwinkel zuckten nach oben, dann legte er
den Kopf schief und funkelte sie an. »Ich glaube zwar nicht, dass
es dafür extra eines Beweises bedarf, aber ich möchte dich auch auf
keinen Fall davon abhalten.« Langsam ließ er sich rücklings auf das
Bett sinken, die Arme über dem Kopf verschränkt, die Finger um die
Eisenranken des Bettgestells geschlungen. Ein Geschenk, das darauf
wartete, von ihr ausgepackt zu werden.
Allein der Anblick seines halbnackten Oberkörpers
brachte Esther fast dazu, ihrem Bedürfnis freien Lauf zu lassen und
sich zu nehmen, was ihr so überaus freizügig angeboten wurde.
Stattdessen setzte sie sich auf ihre Fersen und löste die Nadeln
aus ihrem Haar. Eine nach der anderen, fast selbstvergessen. Sie
strich die rotgoldene Fülle aus, bis sie ihr in weichen Wellen über
die Schultern glitt. Dann knöpfte sie gemächlich ihre Bluse auf,
als habe sie alle Zeit der Welt, obgleich ihr Puls raste und ihre
Haut zum Glühen brachte. Adams Anblick erzeugte das Gefühl, als
würden tausend unsichtbare Hände gleichzeitig an ihr reißen, damit
sie sich endlich vorbeugte und an ihn schmiegte. Nur dachte Esther
gar nicht daran, dieser Verlockung vorschnell nachzugeben. Der
kleine Wettkampf, wer von ihnen beiden sich besser beherrschen
konnte, war viel zu aufregend. Obwohl sie kaum noch still sitzen
konnte, zog sie ihre Bluse langsam erst über die eine, dann über
die andere Schulter.
»Esther«, raunte Adam mit einer heiseren Stimme,
die ihr den Atem stocken ließ.
Mit einer schnellen, aber nichtsdestotrotz
geschmeidigen Geste hatte er die Arme angezogen und stützte sich
auf den Unterarmen ab. Sein ganzer Körper strahlte eine solche
Anspannung aus, dass ihr nur vom Hinsehen noch heißer wurde.
»Ja?«
Ihre Frage gelang erstaunlich unschuldig.
Angesichts ihres Verlangens hätte das eigentlich unmöglich sein
sollen. Einen weiteren Beweis ihres Schauspieltalents konnte sie
jedoch nicht anbringen, denn Adam warf seine Zurückhaltung
urplötzlich über Bord und zog sie zu sich herab. Im nächsten
Augenblick hatte Esther jeden Gedanken an Verführungskünste
vergessen und überließ sich ganz und gar dem Zauber, der von seiner
Haut und seinen Lippen ausging.