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Herzschlag
Die Macht, die von dieser Frau ausging, mochte
nicht annähernd so stark sein wie der Sog, den ER ausgelöst hatte,
trotzdem bekam er sie zu spüren. Die Liebe, die der Quälgeist zu
dieser Sterblichen empfand, war wie ein Bannspruch: Der Gewinn von
Adams Menschlichkeit ging zulasten seines dämonischen Reiches. Mit
jeder Sekunde, die er in ihrer Gegenwart verbrachte, wurde er mehr
zurückgedrängt, in einen Kerker verbannt, wobei ihm doch jeder
einzelne Raum dieses Tempels gehören sollte.
Mit einem Wutschrei stemmte er sich dagegen,
nicht bereit, auch nur ein Stück des gerade im Kampf
zurückgewonnenen Gebietes wieder aufzugeben. Adam war geschwächt,
seine Jagdinstinkte und seine Sinne waren kurz davor, das Ruder an
sich zu reißen. Und er würde sie unterstützen, wo er nur
konnte.
Der Kampf um die Machthoheit zwischen ihnen
beiden konnte wieder aufgenommen werden. Jetzt!
Jeder Schritt, den Esther vor ihm zurückwich, war
schlimmer als jegliche Verletzung, die sie ihm hätte zufügen
können. Sie fürchtete sich vor ihm, vor dem Fremden, in den seine
Instinkte ihn verwandelt hatten. Trotzdem gelang es Adam nicht,
sich zu beruhigen. Weil ein Teil seiner selbst nicht wollte, dass
Esther sich beruhigte, denn ihre Angst war ein unwiderstehliches
Aphrodisiakum. Dieser Teil wartete nur darauf, dass sie endlich die
Flucht antrat, damit er sie stellen konnte. Lauf, lauf weg vor
mir, flüsterte jene Stimme. Ob Esther sie nun hörte oder nicht,
war gleichgültig. Ihr Herz überschlug sich beinahe bei dem Versuch,
ausreichend Adrenalin durch ihren Körper zu jagen, um eine Flucht
vor dem beängstigenden Mann möglich zu machen, den sie zu kennen
geglaubt hatte.
»Esther, komm zu mir«, forderte Adam sie ein
weiteres Mal auf, während sich langsam Verzweiflung in ihm
ausbreitete. Er konnte nichts anderes tun, als dazustehen und
abzuwarten.
Esther musste die Entscheidung treffen.
Entweder trat sie die Flucht an, dann würde es ihm
vielleicht gelingen, an Ort und Stelle zu verharren, bis sie fort
war. Oder sie kam zu ihm und dann … Dann bist du mit einem Schlag
kein Monster mehr, das sie in Furcht und Schrecken versetzt?, hielt
Adam sich höhnisch vor Augen.
Als habe der Dämon seinen Selbstzweifeln gelauscht,
sagte er: Vielleicht gelingt es dir, dich in Sicherheit zu
wiegen, aber ich verspreche dir, dass ich mehr als je zuvor um
meinen Anspruch kämpfen werde. Ein einziger Moment der Schwäche,
und ich werde Esther töten. Ich lasse mich nicht ein weiteres Mal
von ihr zurückdrängen, und du darfst es auch nicht zulassen, dafür
schuldest du mir zu viel.
»Das in deiner Hand, das ist Anders’ Herz, nicht
wahr?« Esthers Lippen bebten so stark, dass sie die Worte kaum klar
hervorbrachte.
»Ja.«
Zu ihrer Angst mischte sich Ekel. Sie fühlt sich
abgestoßen von dem widerwärtigen Geschenk, das ich ihr bereiten
will, und von mir, weil ich sie einer solchen Qual aussetze. Dabei
gab es nichts, was er dagegen tun konnte, denn er war wie gefangen
von ihr: Er konnte nichts anderes als sie sehen, sie hören, riechen
und schmecken. Alles, was ihn ausmachte, war in diesem Augenblick
bei ihr, bei der Frau, um deren Lippen ein Zug lag, als finge sie
gleich zu schreien an, weil sie seine Gegenwart nicht länger
ertrug.
»Ich möchte, dass du es nimmst und an eine Stelle
bringst, an der weder ich noch jemand anders es jemals wiederfinden
kann. Das hier ist deine Rückversicherung, dass Anders keinen
Einfluss mehr auf dein Leben hat.«
»Was für ein grausamer Grundstein für unsere
gemeinsame Zukunft.« Esther verschränkte die Arme vor der Brust und
begann, sich leicht vor- und zurückzuwiegen, als wisse sie nicht
recht, für welche Richtung sie sich entscheiden sollte.
»Willst du denn überhaupt noch eine gemeinsame
Zukunft mit mir?« Diese Frage zu stellen, kostete Adam ungeahnt
viel Kraft.
»Ich kann seinen Herzschlag hören«, brachte Esther
schwach hervor. Sie wischte sich über die Augen, obwohl Adam kein
verdächtiges Glitzern von Tränen gesehen hatte. Dann schlich sich
ein zaghaftes Lächeln auf ihren Mund, und sie machte einen Schritt
auf ihn zu.
»Esther, nicht! Bleib, wo du bist«, schallte eine
laute Stimme über die Lichtung. »Und Sie, Sie rühren sich kein
Stück näher, ansonsten werde ich schießen. Mein Vater hat mir das
Schießen schon mit neun Jahren beigebracht, also können Sie sicher
sein, dass ich mein Ziel auf jeden Fall treffe, ganz gleich, wie
schnell Sie sind.«
Esther verharrte vor Überraschung. »Hayden …«,
brachte sie nur hervor.
Adam senkte kurz den Kopf, dann drehte er sich
langsam um. »Die Zeiten, als nicht jedermann mit einer Schusswaffe
herumgefuchtelt hat, waren eindeutig mehr nach meinem
Geschmack.«
»Dann hätten Sie einfach sterben sollen, als es
eigentlich an der Zeit für Sie gewesen wäre.«
Hayden hatte die Ärmel seines Hemdes hochgekrempelt
und die Krawatte gelöst. Der schwere Revolver in seiner Hand war
ruhig ausgerichtet. Adam kam nicht umhin, den Mut dieses
Mannes anzuerkennen. Schließlich hatte er vor nicht einmal zwölf
Stunden aus nächster Nähe miterleben dürfen, wozu Adam und
seinesgleichen imstande waren.Trotzdem wünschte er sich inständig,
Hayden hätte, als er zur Lichtung gekommen war und gesehen hatte,
in wessen Gesellschaft Esther sich befand, einen Rückzieher
gemacht. Denn sein Auftritt befeuerte Adams ohnehin angeheizte
Jagdinstinkte … und nicht nur die.
Es wundert mich, dass Anders mit ihm
zusammenarbeiten und trotzdem der Verlockung seines Blutes
widerstehen konnte. Wenn du ihn mir gibst, würde ich dich für heute
in Ruhe lassen. Du scheinst mir ohnehin genug mit deinen Instinkten
zu schaffen zu haben. So eine Gabe kann eben auch ein Fluch sein.
Gib mir sein Blut, dann gebe ich dir einen Tag, um dich von Esther
zu verabschieden. Ansonsten werde ich mir deine zusehends außer
Kontrolle geratenen Instinkte zunutze machen, um meinen Willen
durchzusetzen.Was sagst du zu meinem Vorschlag?
Adam glaubte regelrecht sehen zu können, wie der
Dämon selbstgefällig grinste.
»Sie sollten besser gehen, Hayden, und zwar
sofort.«
»Warum sollte ich? Schließlich waren Sie es doch,
der mich hierherbestellt hat.Was ist das für ein krankes Spiel,
wollten Sie Esther etwa vor meinen Augen etwas antun?« Bevor Adam
etwas erwidern konnte, fiel Haydens Blick auf das blutige Bündel in
seiner Hand. »Was, zum Teufel …«
»Das gehört mir«, sagte Esther. Langsam trat sie
auf Adam zu und streckte die Hand aus.
»Fass das nicht an, verflucht.« Hayden war
schreckensbleich geworden. Da Esther nicht reagierte, schoss er in
die Luft.
Augenblicklich wirbelte Adam herum. »Das wirst du
nicht noch einmal tun, ansonsten vergesse ich mich.«
»Liebling, bitte beruhig dich.« Es war eine Bitte
und seine letzte Chance.
Adam spürte die flüchtige Berührung von Esthers
Fingern auf seiner Schulter, die ihn zurückhalten wollten. Doch er
war bereits weitergegangen, unfähig, sein aufbrausendes Temperament
zu bändigen. Es war, als habe Haydens Verhalten etwas in ihm zum
Überlaufen gebracht. Plötzlich sah er keinen Grund mehr, warum er
diesen Mann eigentlich verschonen sollte. Es würde so leicht sein,
sein Leben auszulöschen und dadurch seine Instinkte zu befriedigen.
Damit würde er nicht nur endlich seinen Konkurrenten loswerden,
sondern auch den Dämon besänftigen. Und er würde es Hayden
leichtmachen. Er hatte es Hayden schon einmal leichtgemacht, nur,
dass er ihn dieses Mal von der Ohnmacht in den ewigen Schlaf
gleiten ließe.
Mit einem kalten Lächeln auf dem Gesicht hielt Adam
auf Hayden zu, der den Revolver in seinen Händen vollkommen
vergessen hatte.Wie ein vom Flutlicht geblendeter Hirsch stand er
da und wartete darauf, dass der Jäger zuschlug.
Adam spürte, wie ihn der Dämon umtoste, sich an ihn
schmiegte wie eine zweite Haut. Er ließ es zu, fast blind gab er
sich hin, damit der Dämon übernehmen konnte. Damit alles in einem
tiefen Rot versank. Dann schob sich ein Schatten zwischen ihn und
sein Opfer.
»Adam, nicht.«
Zärtlich legte Esther ihm eine Hand um den Nacken,
aber in ihrem Gesicht standen Verzweiflung und Entsetzen
geschrieben. Schlagartig vergaß Adam den Dämon. Er hob die Hand, um
Esthers Wange zu streicheln, doch seine Finger waren beschmutzt von
Anders’ Blut. Also senkte er sie wieder.
»Es tut mir leid, ich hätte es besser wissen
müssen. Aber es war einfach zu schön mit dir. Manche Märchen gehen
eben niemals gut aus«, sagte er. Dann griffer an ihr vorbei nach
Haydens Arm, und ehe Esther begriff, was er tat, lag die Hand des
anderen Mannes schon um ihr Handgelenk.
»Nein!«, schrie Esther auf, als Hayden sie packte
und an sich riss.
Doch Adam hatte den Blick bereits gesenkt und
wandte sich zum Gehen ab. Anders’ pochendes Herz ließ er einfach zu
Boden fallen. Mit jedem Schritt machte er sich tauber für Esthers
Schreie und ignorierte den schwächer werdenden Apfelblütenduft.
Nicht mehr lang, gleich ist es vorbei, gleich gehört Esther deiner
Vergangenheit an. Aber er wusste, dass er sich selbst belog, schon
während er seinen Wagen die Küstenstraße entlangfuhr.