41
Herzschlag
Die Macht, die von dieser Frau ausging, mochte nicht annähernd so stark sein wie der Sog, den ER ausgelöst hatte, trotzdem bekam er sie zu spüren. Die Liebe, die der Quälgeist zu dieser Sterblichen empfand, war wie ein Bannspruch: Der Gewinn von Adams Menschlichkeit ging zulasten seines dämonischen Reiches. Mit jeder Sekunde, die er in ihrer Gegenwart verbrachte, wurde er mehr zurückgedrängt, in einen Kerker verbannt, wobei ihm doch jeder einzelne Raum dieses Tempels gehören sollte.
Mit einem Wutschrei stemmte er sich dagegen, nicht bereit, auch nur ein Stück des gerade im Kampf zurückgewonnenen Gebietes wieder aufzugeben. Adam war geschwächt, seine Jagdinstinkte und seine Sinne waren kurz davor, das Ruder an sich zu reißen. Und er würde sie unterstützen, wo er nur konnte.
Der Kampf um die Machthoheit zwischen ihnen beiden konnte wieder aufgenommen werden. Jetzt!
 
Jeder Schritt, den Esther vor ihm zurückwich, war schlimmer als jegliche Verletzung, die sie ihm hätte zufügen können. Sie fürchtete sich vor ihm, vor dem Fremden, in den seine Instinkte ihn verwandelt hatten. Trotzdem gelang es Adam nicht, sich zu beruhigen. Weil ein Teil seiner selbst nicht wollte, dass Esther sich beruhigte, denn ihre Angst war ein unwiderstehliches Aphrodisiakum. Dieser Teil wartete nur darauf, dass sie endlich die Flucht antrat, damit er sie stellen konnte. Lauf, lauf weg vor mir, flüsterte jene Stimme. Ob Esther sie nun hörte oder nicht, war gleichgültig. Ihr Herz überschlug sich beinahe bei dem Versuch, ausreichend Adrenalin durch ihren Körper zu jagen, um eine Flucht vor dem beängstigenden Mann möglich zu machen, den sie zu kennen geglaubt hatte.
»Esther, komm zu mir«, forderte Adam sie ein weiteres Mal auf, während sich langsam Verzweiflung in ihm ausbreitete. Er konnte nichts anderes tun, als dazustehen und abzuwarten.
Esther musste die Entscheidung treffen.
Entweder trat sie die Flucht an, dann würde es ihm vielleicht gelingen, an Ort und Stelle zu verharren, bis sie fort war. Oder sie kam zu ihm und dann … Dann bist du mit einem Schlag kein Monster mehr, das sie in Furcht und Schrecken versetzt?, hielt Adam sich höhnisch vor Augen.
Als habe der Dämon seinen Selbstzweifeln gelauscht, sagte er: Vielleicht gelingt es dir, dich in Sicherheit zu wiegen, aber ich verspreche dir, dass ich mehr als je zuvor um meinen Anspruch kämpfen werde. Ein einziger Moment der Schwäche, und ich werde Esther töten. Ich lasse mich nicht ein weiteres Mal von ihr zurückdrängen, und du darfst es auch nicht zulassen, dafür schuldest du mir zu viel.
»Das in deiner Hand, das ist Anders’ Herz, nicht wahr?« Esthers Lippen bebten so stark, dass sie die Worte kaum klar hervorbrachte.
»Ja.«
Zu ihrer Angst mischte sich Ekel. Sie fühlt sich abgestoßen von dem widerwärtigen Geschenk, das ich ihr bereiten will, und von mir, weil ich sie einer solchen Qual aussetze. Dabei gab es nichts, was er dagegen tun konnte, denn er war wie gefangen von ihr: Er konnte nichts anderes als sie sehen, sie hören, riechen und schmecken. Alles, was ihn ausmachte, war in diesem Augenblick bei ihr, bei der Frau, um deren Lippen ein Zug lag, als finge sie gleich zu schreien an, weil sie seine Gegenwart nicht länger ertrug.
»Ich möchte, dass du es nimmst und an eine Stelle bringst, an der weder ich noch jemand anders es jemals wiederfinden kann. Das hier ist deine Rückversicherung, dass Anders keinen Einfluss mehr auf dein Leben hat.«
»Was für ein grausamer Grundstein für unsere gemeinsame Zukunft.« Esther verschränkte die Arme vor der Brust und begann, sich leicht vor- und zurückzuwiegen, als wisse sie nicht recht, für welche Richtung sie sich entscheiden sollte.
»Willst du denn überhaupt noch eine gemeinsame Zukunft mit mir?« Diese Frage zu stellen, kostete Adam ungeahnt viel Kraft.
»Ich kann seinen Herzschlag hören«, brachte Esther schwach hervor. Sie wischte sich über die Augen, obwohl Adam kein verdächtiges Glitzern von Tränen gesehen hatte. Dann schlich sich ein zaghaftes Lächeln auf ihren Mund, und sie machte einen Schritt auf ihn zu.
»Esther, nicht! Bleib, wo du bist«, schallte eine laute Stimme über die Lichtung. »Und Sie, Sie rühren sich kein Stück näher, ansonsten werde ich schießen. Mein Vater hat mir das Schießen schon mit neun Jahren beigebracht, also können Sie sicher sein, dass ich mein Ziel auf jeden Fall treffe, ganz gleich, wie schnell Sie sind.«
Esther verharrte vor Überraschung. »Hayden …«, brachte sie nur hervor.
Adam senkte kurz den Kopf, dann drehte er sich langsam um. »Die Zeiten, als nicht jedermann mit einer Schusswaffe herumgefuchtelt hat, waren eindeutig mehr nach meinem Geschmack.«
»Dann hätten Sie einfach sterben sollen, als es eigentlich an der Zeit für Sie gewesen wäre.«
Hayden hatte die Ärmel seines Hemdes hochgekrempelt und die Krawatte gelöst. Der schwere Revolver in seiner Hand war ruhig ausgerichtet. Adam kam nicht umhin, den Mut dieses Mannes anzuerkennen. Schließlich hatte er vor nicht einmal zwölf Stunden aus nächster Nähe miterleben dürfen, wozu Adam und seinesgleichen imstande waren.Trotzdem wünschte er sich inständig, Hayden hätte, als er zur Lichtung gekommen war und gesehen hatte, in wessen Gesellschaft Esther sich befand, einen Rückzieher gemacht. Denn sein Auftritt befeuerte Adams ohnehin angeheizte Jagdinstinkte … und nicht nur die.
Es wundert mich, dass Anders mit ihm zusammenarbeiten und trotzdem der Verlockung seines Blutes widerstehen konnte. Wenn du ihn mir gibst, würde ich dich für heute in Ruhe lassen. Du scheinst mir ohnehin genug mit deinen Instinkten zu schaffen zu haben. So eine Gabe kann eben auch ein Fluch sein. Gib mir sein Blut, dann gebe ich dir einen Tag, um dich von Esther zu verabschieden. Ansonsten werde ich mir deine zusehends außer Kontrolle geratenen Instinkte zunutze machen, um meinen Willen durchzusetzen.Was sagst du zu meinem Vorschlag?
Adam glaubte regelrecht sehen zu können, wie der Dämon selbstgefällig grinste.
»Sie sollten besser gehen, Hayden, und zwar sofort.«
»Warum sollte ich? Schließlich waren Sie es doch, der mich hierherbestellt hat.Was ist das für ein krankes Spiel, wollten Sie Esther etwa vor meinen Augen etwas antun?« Bevor Adam etwas erwidern konnte, fiel Haydens Blick auf das blutige Bündel in seiner Hand. »Was, zum Teufel …«
»Das gehört mir«, sagte Esther. Langsam trat sie auf Adam zu und streckte die Hand aus.
»Fass das nicht an, verflucht.« Hayden war schreckensbleich geworden. Da Esther nicht reagierte, schoss er in die Luft.
Augenblicklich wirbelte Adam herum. »Das wirst du nicht noch einmal tun, ansonsten vergesse ich mich.«
»Liebling, bitte beruhig dich.« Es war eine Bitte und seine letzte Chance.
Adam spürte die flüchtige Berührung von Esthers Fingern auf seiner Schulter, die ihn zurückhalten wollten. Doch er war bereits weitergegangen, unfähig, sein aufbrausendes Temperament zu bändigen. Es war, als habe Haydens Verhalten etwas in ihm zum Überlaufen gebracht. Plötzlich sah er keinen Grund mehr, warum er diesen Mann eigentlich verschonen sollte. Es würde so leicht sein, sein Leben auszulöschen und dadurch seine Instinkte zu befriedigen. Damit würde er nicht nur endlich seinen Konkurrenten loswerden, sondern auch den Dämon besänftigen. Und er würde es Hayden leichtmachen. Er hatte es Hayden schon einmal leichtgemacht, nur, dass er ihn dieses Mal von der Ohnmacht in den ewigen Schlaf gleiten ließe.
Mit einem kalten Lächeln auf dem Gesicht hielt Adam auf Hayden zu, der den Revolver in seinen Händen vollkommen vergessen hatte.Wie ein vom Flutlicht geblendeter Hirsch stand er da und wartete darauf, dass der Jäger zuschlug.
Adam spürte, wie ihn der Dämon umtoste, sich an ihn schmiegte wie eine zweite Haut. Er ließ es zu, fast blind gab er sich hin, damit der Dämon übernehmen konnte. Damit alles in einem tiefen Rot versank. Dann schob sich ein Schatten zwischen ihn und sein Opfer.
»Adam, nicht.«
Zärtlich legte Esther ihm eine Hand um den Nacken, aber in ihrem Gesicht standen Verzweiflung und Entsetzen geschrieben. Schlagartig vergaß Adam den Dämon. Er hob die Hand, um Esthers Wange zu streicheln, doch seine Finger waren beschmutzt von Anders’ Blut. Also senkte er sie wieder.
»Es tut mir leid, ich hätte es besser wissen müssen. Aber es war einfach zu schön mit dir. Manche Märchen gehen eben niemals gut aus«, sagte er. Dann griffer an ihr vorbei nach Haydens Arm, und ehe Esther begriff, was er tat, lag die Hand des anderen Mannes schon um ihr Handgelenk.
»Nein!«, schrie Esther auf, als Hayden sie packte und an sich riss.
Doch Adam hatte den Blick bereits gesenkt und wandte sich zum Gehen ab. Anders’ pochendes Herz ließ er einfach zu Boden fallen. Mit jedem Schritt machte er sich tauber für Esthers Schreie und ignorierte den schwächer werdenden Apfelblütenduft. Nicht mehr lang, gleich ist es vorbei, gleich gehört Esther deiner Vergangenheit an. Aber er wusste, dass er sich selbst belog, schon während er seinen Wagen die Küstenstraße entlangfuhr.
Nachtglanz - Heitmann, T: Nachtglanz
heit_9783641050108_oeb_cover_r1.html
heit_9783641050108_oeb_toc_r1.html
heit_9783641050108_oeb_ded_r1.html
heit_9783641050108_oeb_epi_r1.html
heit_9783641050108_oeb_fm1_r1.html
heit_9783641050108_oeb_p01_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c01_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c02_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c03_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c04_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c05_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c06_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c07_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c08_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c09_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c10_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c11_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c12_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c13_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c14_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c15_r1.html
heit_9783641050108_oeb_p02_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c16_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c17_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c18_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c19_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c20_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c21_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c22_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c23_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c24_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c25_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c26_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c27_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c28_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c29_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c30_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c31_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c32_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c33_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c34_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c35_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c36_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c37_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c38_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c39_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c40_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c41_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c42_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c43_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c44_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c45_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c46_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c47_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c48_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c49_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c50_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c51_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c52_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c53_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c54_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c55_r1.html
heit_9783641050108_oeb_c56_r1.html
heit_9783641050108_oeb_elg_r1.html
heit_9783641050108_oeb_ack_r1.html
heit_9783641050108_oeb_cop_r1.html