31
Flammenmeer
Zunächst wollte Esther das Wasserglas ignorieren, das Adam ihr hinhielt. Dann gestand sie sich ein, dass ein solches Verhalten mehr als kindisch gewesen wäre, und nahm es mit einem Nicken entgegen. Sie war eine Frau, die wusste, wie man die Fassung wahrt, auch wenn die Autofahrt von Haydens Anwaltskanzlei zu einem abseits liegenden Motel genau das Gegenteil offenbart hatte. Da war kurzzeitig ihr Temperament mit ihr durchgegangen. Zu ihrer Erleichterung schlossen sich die Kratzspuren in Adams Gesicht bereits wieder. Sie hoffte inständig, dass das ebenfalls für die anderen Blessuren galt, die sie ihm beigebracht hatte und die von seiner Kleidung verdeckt wurden.
Wie auch immer, jetzt hatte sie sich wieder unter Kontrolle, zumindest was ihr Auftreten anbelangte. Nur ihre Finger, die sich fest um das Glas schlossen, verrieten den Aufruhr, der in ihrem Inneren herrschte.
Adam reichte dieses Detail aus, um sie zu durchschauen. »Wenn du mit mir zusammen bist, brauchst du nicht die unnahbare Lady zu mimen. Sei einfach ganz du selbst … auch wenn das noch mehr Kratzattacken und Tritte mit spitzen Schuhen bedeutet. Glücklicherweise bin ich ja nicht so leicht kaputtzukriegen«, sagte er mit einem Schmunzeln, für das Esther ihm fast das Glas an den Kopf geworfen hätte.
Um sich abzulenken, sah sie sich in dem Zimmer um, in dem Adam sie untergebracht hatte. Es war so schlicht eingerichtet, wie man es sich überhaupt nur vorstellen konnte, Pressholzmöbel und eine Landschaftsszene über den Kopfenden der Betten, die eine Orangenplantage zeigte. Schlichte braune Vorhänge sperrten die Nacht aus. Unter der Tür zum angrenzenden Badezimmer drang der Geruch eines nach Chemie und Zitrus stinkenden Reinigungsmittels durch, der ihren ohnehin aufgewühlten Magen zum Flattern brachte. Das Bettzeug war weiß und fadenscheinig.
»Warum sind wir hier?«, brachte sie mühsam hervor.
Adam legte den Kopf schief, als fielen ihm zu dieser Frage so viele Antworten ein, dass er gar nicht wusste, wo er anfangen sollte. Also entschied er sich für den direkten Weg. »Die Stadt ist voll mit diesen billigen Motels, die sich gleichen wie ein Ei dem anderen.Wir dürften also erst einmal unsere Ruhe haben. Vor allem, weil der Wagen in einer anderen Garage geparkt steht.«
Den letzten Satz sagte er mit einer grimmigen Befriedigung, die Esther nicht verstand. Allerdings verspürte sie auch wenig Verlangen, dem nachzugehen. Sie deutete auf das Telefon, das auf einem Nachttisch stand.
»Ich muss Hayden anrufen und hören, ob es ihm gutgeht. Deine Stillstellmethode hätte wirklich etwas geschickter ausfallen können.«
»Glaub mir, Hayden wird es zu schätzen wissen, wie ein Mann zu Boden gegangen zu sein.« Als Esther nach dem Hörer griff, legte Adam seine Hand auf ihre. »Du kannst Hayden später anrufen, wenn du mir erzählt hast, womit Anders dich erpresst. Entweder damit Hayden dich dann abholen kommt, oder um dich von ihm zu verabschieden.«
So weit konnte Esther in diesem Augenblick gar nicht denken. Zu groß war das Durcheinander an Gefühlen und Gedanken, das sie langsam zu zerreißen drohte - in lauter feine Streifen. Auf dem einen stand das Bedürfnis geschrieben, sich von Hayden versichern zu lassen, dass er lediglich mit Kopfschmerzen und ohne Hass im Herzen aus dieser Sache herausgekommen war. Auf einem anderen war zu sehen, wie sie sich an Adams Brust schmiegte und endlich wieder mit ihm vereint war. Unzählige kleine Streifen wirbelten kreuz und quer, erzählten von Hoffnungen und Ängsten, halbgaren Erklärungsansätzen und wild gemischten Erinnerungsschnappschüssen aus ihrer Kindheit, von schönen Kleidern in Auslagen und ihrem ersten Eindruck, als sie von Deck des Schiffes die Skyline der größten Stadt Amerikas betrachtet hatte. Als könnte sie all diese Streifen zusammenhalten, presste sie ihre Hand auf die Brust, wohl wissend, dass ihr nichts mehr half. Denn einer der Streifen, in die ihr Leben zerrissen worden war, trug Anders’ Namen und züngelte rot wie eine Flamme. Es brauchte nicht viel, und die Feuerzungen würden so rasant auf die anderen Streifen überspringen, dass eine Feuersbrunst ausbrach und nichts als Asche zurückließ.
»Was geschehen ist, passt überhaupt nicht zu dem Anders, den ich kenne«, brachte sie zögernd hervor. Wie sollte sie es Adam nur erklären?
Adam entging ihre Unsicherheit nicht. Er kniete vor ihr nieder und nahm ihre Hand - eine so ritterliche Geste, dass Esther fast geschmunzelt hätte. »Zu dem charmanten Kerl, der sich am liebsten auf der Sonnenseite des Lebens sieht? Ich vermute, wir werden uns beide damit abfinden müssen, dass Anders deutlich mehr als nur diese eine helle Seite zu bieten hat. Das fällt auch mir schwer, ich mochte ihn nämlich.« Durch die Art, wie Adam das sagte, klang es wie ein schwerwiegendes Geständnis. Schließlich verschenkte er seine Sympathie nur widerwillig.
»Trotzdem verstehe ich nach wie vor nicht, wann er hinter mein Geheimnis gekommen ist. Er hat nie auch nur eine Andeutung fallenlassen. Und noch weniger begreife ich, warum er sich überhaupt die Mühe gemacht hat, es aufzudecken.«
»Es geht also um ein Geheimnis … aus deiner Vergangenheit?« Adams klar gezeichnete Augenbrauen zogen sich beim Nachdenken zusammen. »Zu sagen, dass er sich für deine Vergangenheit interessiert, weil du seine Dienerin bist, würde als Erklärung vermutlich nicht ausreichen. Mir fehlen zwar noch ein paar Puzzleteilchen, aber ich behaupte, dass Anders sehr weit geht, um sein sonniges Los Angeles zu schützen. So weit, dass er auch diejenigen wie einen Feind behandelt, die eigentlich auf seiner Seite stehen. Wenn er sie dann nicht im Guten an sich binden kann, scheut er offensichtlich auch nicht vor anderen Methoden zurück. Erpressung zum Beispiel, wie bei dir.«
»Du bist dir bei allem, was du tust, immer so sicher, Adam. Du lebst ganz in der Gegenwart, aber mir ist das unmöglich.«
»Wenn ich einen Wunsch frei hätte, dann wäre es genau der: eine Vergangenheit zu haben, die mir gehört. Ein Leben, das Spuren hinterlässt. Spuren, die meinen Weg in die Zukunft beeinflussen. Alles, was ich bislang getan habe, gehört dem Dämon, ist einzig und allein auf ihn ausgerichtet gewesen. Seit du da bist, hat sich das geändert. Ich schulde dir etwas, Esther, und zwar mehr, als du dir vorstellen kannst.Also sag mir, was Anders in der Hand hat, womit er dich beherrschen kann. Dann werde ich alles Erdenkliche tun, um es zu ändern.«
Esther stieß ein heiseres Lachen aus, während ihr gleichzeitig Tränen in die Augen stiegen. »Vermutlich ist es ohnehin zu spät, und es läuft auf dasselbe hinaus, ob ich es dir nun erzähle oder nicht. Es wird dir nicht gefallen, so viel steht schon einmal fest.«
»Vielleicht fällt es dir leichter, wenn du dir vor Augen hältst, wem du es erzählst: jemandem, der einen Dämon in seinem Inneren trägt und ihm jahrzehntelang willig gedient hat.«
Kurz blitzte etwas über Adams Züge, als stelle ihm eine innere Stimme in Abrede, jemals freiwillig gedient zu haben. Dann presste er die Lippen aufeinander, als wolle er der inneren Stimme keine Antwort zugestehen. Diese kleinen Aussetzer hatte Esther schon einige Male bei ihm beobachtet, und unter anderen Umständen hätte sie nachgefragt, was in diesen Momenten in ihm vorging. Aber jetzt war sie zu erschöpft und stand unter zu großem Druck.
»Jedenfalls«, nahm Adam den Faden wieder auf, »brauchst du dir gerade bei mir keine Sorgen darum zu machen, dass mich irgendetwas, das du in der Vergangenheit getan hast, zurückschrecken ließe. Das Einzige, was mich bedrückt, ist, dass du es mir nicht einfach erzählt hast.«
»Weil es mir unmöglich war. Ich musste es hinter mir lassen, wie eine alte Haut abstreifen. Hat ein Mensch denn kein Recht auf echten Neuanfang?«
»Ich dachte, als du Irland verlassen hast, sei das der Neuanfang gewesen …«
»Das dachte ich anfangs auch, aber dann hat sich herausgestellt, dass wir das Elend nicht hinter uns gelassen hatten. Sondern es war noch um uns, wenn auch in einer anderen Gestalt. Irisches Blut und die Hoffnung auf ein besseres Leben vertragen sich nicht sonderlich gut.« Esther drehte das leere Wasserglas zwischen ihren Händen. »Ob diese Minibar da drüben wohl Scotch zu bieten hat? Ich könnte jetzt einen Schluck vertragen.«
Schweigend sprang Adam auf und kehrte im nächsten Augenblick mit einer kleinen Flasche zurück. Billiges Zeug, dachte Esther, während ihr die goldfarbene Flüssigkeit in der Kehle brannte. Durchaus passend zu der Geschichte über ein Mädchen mit dem irischen Namen Eistir, die ich gleich erzählen werde. Dieser alte Name klingt wie ein böses Omen. Als der Alkohol ihr den Bauch wärmte, streifte sie den Anflug von Selbstmitleid ab und schenkte Adam einen direkten Blick, den er ohne Zögern erwiderte.
Dann mach ich mich mal auf den Weg zurück in die Hölle, dachte Esther, wobei ihr zu ihrer eigenen Verwunderung tatsächlich ein Lächeln gelang. Keins von der schönen Sorte, aber immerhin.
Nachtglanz - Heitmann, T: Nachtglanz
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