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Flammenmeer
Zunächst wollte Esther das Wasserglas ignorieren,
das Adam ihr hinhielt. Dann gestand sie sich ein, dass ein solches
Verhalten mehr als kindisch gewesen wäre, und nahm es mit einem
Nicken entgegen. Sie war eine Frau, die wusste, wie man die Fassung
wahrt, auch wenn die Autofahrt von Haydens Anwaltskanzlei zu einem
abseits liegenden Motel genau das Gegenteil offenbart hatte. Da war
kurzzeitig ihr Temperament mit ihr durchgegangen. Zu ihrer
Erleichterung schlossen sich die Kratzspuren in Adams Gesicht
bereits wieder. Sie hoffte inständig, dass das ebenfalls für die
anderen Blessuren galt, die sie ihm beigebracht hatte und die von
seiner Kleidung verdeckt wurden.
Wie auch immer, jetzt hatte sie sich wieder unter
Kontrolle, zumindest was ihr Auftreten anbelangte. Nur ihre Finger,
die sich fest um das Glas schlossen, verrieten den Aufruhr, der in
ihrem Inneren herrschte.
Adam reichte dieses Detail aus, um sie zu
durchschauen. »Wenn du mit mir zusammen bist, brauchst du nicht die
unnahbare Lady zu mimen. Sei einfach ganz du selbst … auch wenn das
noch mehr Kratzattacken und Tritte mit spitzen Schuhen bedeutet.
Glücklicherweise bin ich ja nicht so leicht kaputtzukriegen«, sagte
er mit einem Schmunzeln, für das Esther ihm fast das Glas an den
Kopf geworfen hätte.
Um sich abzulenken, sah sie sich in dem Zimmer um,
in
dem Adam sie untergebracht hatte. Es war so schlicht eingerichtet,
wie man es sich überhaupt nur vorstellen konnte, Pressholzmöbel und
eine Landschaftsszene über den Kopfenden der Betten, die eine
Orangenplantage zeigte. Schlichte braune Vorhänge sperrten die
Nacht aus. Unter der Tür zum angrenzenden Badezimmer drang der
Geruch eines nach Chemie und Zitrus stinkenden Reinigungsmittels
durch, der ihren ohnehin aufgewühlten Magen zum Flattern brachte.
Das Bettzeug war weiß und fadenscheinig.
»Warum sind wir hier?«, brachte sie mühsam
hervor.
Adam legte den Kopf schief, als fielen ihm zu
dieser Frage so viele Antworten ein, dass er gar nicht wusste, wo
er anfangen sollte. Also entschied er sich für den direkten Weg.
»Die Stadt ist voll mit diesen billigen Motels, die sich gleichen
wie ein Ei dem anderen.Wir dürften also erst einmal unsere Ruhe
haben. Vor allem, weil der Wagen in einer anderen Garage geparkt
steht.«
Den letzten Satz sagte er mit einer grimmigen
Befriedigung, die Esther nicht verstand. Allerdings verspürte sie
auch wenig Verlangen, dem nachzugehen. Sie deutete auf das Telefon,
das auf einem Nachttisch stand.
»Ich muss Hayden anrufen und hören, ob es ihm
gutgeht. Deine Stillstellmethode hätte wirklich etwas geschickter
ausfallen können.«
»Glaub mir, Hayden wird es zu schätzen wissen, wie
ein Mann zu Boden gegangen zu sein.« Als Esther nach dem Hörer
griff, legte Adam seine Hand auf ihre. »Du kannst Hayden später
anrufen, wenn du mir erzählt hast, womit Anders dich erpresst.
Entweder damit Hayden dich dann abholen kommt, oder um dich von ihm
zu verabschieden.«
So weit konnte Esther in diesem Augenblick gar
nicht denken. Zu groß war das Durcheinander an Gefühlen und
Gedanken, das sie langsam zu zerreißen drohte - in lauter feine
Streifen.
Auf dem einen stand das Bedürfnis geschrieben, sich von Hayden
versichern zu lassen, dass er lediglich mit Kopfschmerzen und ohne
Hass im Herzen aus dieser Sache herausgekommen war. Auf einem
anderen war zu sehen, wie sie sich an Adams Brust schmiegte und
endlich wieder mit ihm vereint war. Unzählige kleine Streifen
wirbelten kreuz und quer, erzählten von Hoffnungen und Ängsten,
halbgaren Erklärungsansätzen und wild gemischten
Erinnerungsschnappschüssen aus ihrer Kindheit, von schönen Kleidern
in Auslagen und ihrem ersten Eindruck, als sie von Deck des
Schiffes die Skyline der größten Stadt Amerikas betrachtet hatte.
Als könnte sie all diese Streifen zusammenhalten, presste sie ihre
Hand auf die Brust, wohl wissend, dass ihr nichts mehr half. Denn
einer der Streifen, in die ihr Leben zerrissen worden war, trug
Anders’ Namen und züngelte rot wie eine Flamme. Es brauchte nicht
viel, und die Feuerzungen würden so rasant auf die anderen Streifen
überspringen, dass eine Feuersbrunst ausbrach und nichts als Asche
zurückließ.
»Was geschehen ist, passt überhaupt nicht zu dem
Anders, den ich kenne«, brachte sie zögernd hervor. Wie sollte sie
es Adam nur erklären?
Adam entging ihre Unsicherheit nicht. Er kniete vor
ihr nieder und nahm ihre Hand - eine so ritterliche Geste, dass
Esther fast geschmunzelt hätte. »Zu dem charmanten Kerl, der sich
am liebsten auf der Sonnenseite des Lebens sieht? Ich vermute, wir
werden uns beide damit abfinden müssen, dass Anders deutlich mehr
als nur diese eine helle Seite zu bieten hat. Das fällt auch mir
schwer, ich mochte ihn nämlich.« Durch die Art, wie Adam das sagte,
klang es wie ein schwerwiegendes Geständnis. Schließlich
verschenkte er seine Sympathie nur widerwillig.
»Trotzdem verstehe ich nach wie vor nicht, wann er
hinter mein Geheimnis gekommen ist. Er hat nie auch nur eine
Andeutung
fallenlassen. Und noch weniger begreife ich, warum er sich
überhaupt die Mühe gemacht hat, es aufzudecken.«
»Es geht also um ein Geheimnis … aus deiner
Vergangenheit?« Adams klar gezeichnete Augenbrauen zogen sich beim
Nachdenken zusammen. »Zu sagen, dass er sich für deine
Vergangenheit interessiert, weil du seine Dienerin bist, würde als
Erklärung vermutlich nicht ausreichen. Mir fehlen zwar noch ein
paar Puzzleteilchen, aber ich behaupte, dass Anders sehr weit geht,
um sein sonniges Los Angeles zu schützen. So weit, dass er auch
diejenigen wie einen Feind behandelt, die eigentlich auf seiner
Seite stehen. Wenn er sie dann nicht im Guten an sich binden kann,
scheut er offensichtlich auch nicht vor anderen Methoden zurück.
Erpressung zum Beispiel, wie bei dir.«
»Du bist dir bei allem, was du tust, immer so
sicher, Adam. Du lebst ganz in der Gegenwart, aber mir ist das
unmöglich.«
»Wenn ich einen Wunsch frei hätte, dann wäre es
genau der: eine Vergangenheit zu haben, die mir gehört. Ein Leben,
das Spuren hinterlässt. Spuren, die meinen Weg in die Zukunft
beeinflussen. Alles, was ich bislang getan habe, gehört dem Dämon,
ist einzig und allein auf ihn ausgerichtet gewesen. Seit du da
bist, hat sich das geändert. Ich schulde dir etwas, Esther, und
zwar mehr, als du dir vorstellen kannst.Also sag mir, was Anders in
der Hand hat, womit er dich beherrschen kann. Dann werde ich alles
Erdenkliche tun, um es zu ändern.«
Esther stieß ein heiseres Lachen aus, während ihr
gleichzeitig Tränen in die Augen stiegen. »Vermutlich ist es
ohnehin zu spät, und es läuft auf dasselbe hinaus, ob ich es dir
nun erzähle oder nicht. Es wird dir nicht gefallen, so viel steht
schon einmal fest.«
»Vielleicht fällt es dir leichter, wenn du dir vor
Augen hältst, wem du es erzählst: jemandem, der einen Dämon in
seinem Inneren trägt und ihm jahrzehntelang willig gedient
hat.«
Kurz blitzte etwas über Adams Züge, als stelle ihm
eine innere Stimme in Abrede, jemals freiwillig gedient zu haben.
Dann presste er die Lippen aufeinander, als wolle er der inneren
Stimme keine Antwort zugestehen. Diese kleinen Aussetzer hatte
Esther schon einige Male bei ihm beobachtet, und unter anderen
Umständen hätte sie nachgefragt, was in diesen Momenten in ihm
vorging. Aber jetzt war sie zu erschöpft und stand unter zu großem
Druck.
»Jedenfalls«, nahm Adam den Faden wieder auf,
»brauchst du dir gerade bei mir keine Sorgen darum zu machen, dass
mich irgendetwas, das du in der Vergangenheit getan hast,
zurückschrecken ließe. Das Einzige, was mich bedrückt, ist, dass du
es mir nicht einfach erzählt hast.«
»Weil es mir unmöglich war. Ich musste es hinter
mir lassen, wie eine alte Haut abstreifen. Hat ein Mensch denn kein
Recht auf echten Neuanfang?«
»Ich dachte, als du Irland verlassen hast, sei das
der Neuanfang gewesen …«
»Das dachte ich anfangs auch, aber dann hat sich
herausgestellt, dass wir das Elend nicht hinter uns gelassen
hatten. Sondern es war noch um uns, wenn auch in einer anderen
Gestalt. Irisches Blut und die Hoffnung auf ein besseres Leben
vertragen sich nicht sonderlich gut.« Esther drehte das leere
Wasserglas zwischen ihren Händen. »Ob diese Minibar da drüben wohl
Scotch zu bieten hat? Ich könnte jetzt einen Schluck
vertragen.«
Schweigend sprang Adam auf und kehrte im nächsten
Augenblick mit einer kleinen Flasche zurück. Billiges Zeug, dachte
Esther, während ihr die goldfarbene Flüssigkeit in der Kehle
brannte. Durchaus passend zu der Geschichte über ein Mädchen mit
dem irischen Namen Eistir, die ich gleich erzählen werde. Dieser
alte Name klingt wie ein böses Omen. Als der Alkohol ihr den Bauch
wärmte, streifte sie den Anflug von Selbstmitleid
ab und schenkte Adam einen direkten Blick, den er ohne Zögern
erwiderte.
Dann mach ich mich mal auf den Weg zurück in die
Hölle, dachte Esther, wobei ihr zu ihrer eigenen Verwunderung
tatsächlich ein Lächeln gelang. Keins von der schönen Sorte, aber
immerhin.