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Komm zu mir
Esther erwachte mit Kopfschmerzen in
Dunkelheit.
Nachdem sie sich ausgiebig die Augen gerieben
hatte, stellte sie fest, dass es keineswegs vollkommen dunkel war:
Durch Ritzen fiel Sonnenlicht ein wie auch durch einen schmalen
Streifen, der an einen Türspalt erinnerte - nur dass die Tür dann
direkt über ihr sein müsste. Irritiert wollte sie sich aufrichten
und stieß sogleich gegen eine Decke. Auch ihre Beine konnte sie
nicht ausstrecken, so beengt war der Raum, in dem sie lag.
Während sie versuchte, sich einen Reim auf ihre
Lage zu machen, fiel ihr wieder Adams Nachgiebigkeit ein, als sie
darauf bestanden hatte, ihn zu Anders zu begleiten. Er hatte so
verdächtig schnell eingelenkt und sie mit einem Kuss ruhiggestellt.
Nein, nicht bloß mit einem Kuss, sondern mit einem Griff seitlich
ihres Nackens. Er hatte sie bewusstlos gemacht und
weggesperrt.
»Adam, du verlogener Mistkerl!«
Wütend trat Esther mit beiden Beinen gleichzeitig
gegen die beengten Wände, die unter dem Aufprall erzitterten. Der
Geruch nach Gummi und Metall wurde ihr bewusst, und als sie die
Decke, auf der sie wie ein Embryo lag, beiseiteschob und den harten
Untergrund ertastete, wusste sie, wo sie sich befand.
»Ist das zu glauben? Er hat mich tatsächlich in
seinen gottverdammten Kofferraum gesperrt wie einen Gegenstand, den
man mal eben kurz verstauen muss. Auf einer abseits liegenden
Lichtung, an der kein Mensch vorbeikommt«, raunte sie aufgebracht,
während sie mit den Fäusten auf die Abdeckung einprügelte, was ihr
jedoch nicht mehr als wunde Handkanten einbrachte. »Dafür werde ich
ihn umbringen, wenn er …«
Ja, dachte sie, plötzlich verstummend, wenn er
zurückkommt. Wenn er gegen Anders bestehen kann. Adam mag zwar das
Naturell eines Jägers haben, aber Anders würde sich weigern, sich
wie eine scheue Beute zu verhalten. Jeder, der den Dämon in sich
trug, war ein Raubtier, so viel hatte Esther begriffen. Selbst wenn
Adam also zurückkam, was sagte das über ihn aus? Esther verdrängte
den Gedanken, kaum dass er Form angenommen hatte. In Bezug auf Adam
gab es nichts mehr zu entscheiden, sie wollte an seiner Seite sein,
ganz gleich, was in ihm schlummerte.
Nach und nach gewöhnten ihre Augen sich an das
Dämmerlicht, während sie weiterhin versuchte, den Kofferraum von
innen zu öffnen. Nur was sie auch anstellte, er rührte sich kein
Stück.Ansonsten hätte Adam dich wohl auch kaum hier eingesperrt,
gestand sie sich ein. Der Kerl ist gründlich.
Als Esther sich auf die Seite legte, hörte sie ein
Papierrascheln. Umständlich drehte sie sich um und fand eine
Zeitschrift, Taschenlampe und eine Trinkflasche. »So sieht man sich
wieder«, sagte sie zu der Flasche, ehe sie sich so weit wie möglich
aufrichtete und einige tiefe Züge nahm. Dabei fiel ihr auf, dass
ihre Hände zitterten. Die Aufregung und die Angst der letzten Tage
saßen ihr unleugbar in den Knochen. Als sie die Zeitung im
Lichtkegel der Taschenlampe betrachtete, musste sie auflachen. Ein
Reisemagazin. Bei dem Bericht über die Sehenswürdigkeiten Indiens
war ein Notizblatt eingeschoben.
Bevor Du Dich maßlos in Deinen -
zlugegekenermaßen gerechtfertigten - zorn reinsteigetst, uberleg
Dir lieber, was wir beide uns als Erstes gemeinsam ansehen wollen.
Bis später, Adam
»Als ob ich dich so billig davonkommen lassen
würde«, sagte Esther mit einem Schmunzeln, das ihr jedoch sogleich
wieder verging.
Unablässig kreisten ihre Gedanken um Adam, zeigten
ihr Bilder von seiner Unterwerfung durch Anders, während sie zur
Untätigkeit verurteilt festsaß. Zwar bildete sie sich keineswegs
ein, dass sie eine große Hilfe gewesen wäre - vermutlich hätte sie
Adam eher behindert, denn im Gegensatz zu ihm war sie sterblich -,
aber falls er unterliegen sollte, wollte sie bei ihm sein. Genau
aus diesem Grund hat er dich weggesperrt, weil er das verhindern
will. Du sollst nicht noch einmal sehen, wie jemand stirbt, den du
liebst. Oder wie jemand, den du liebst, die falsche Entscheidung
trifft …
Esther stöhnte auf und presste sich die Fäuste
gegen die Schläfen. Vollkommen gleichgültig, in welche Richtung
ihre Gedanken auch gingen, überall lauerten Fallen.
Im Nachhinein konnte sie nicht sagen, wie lange sie
in dem Kofferraum eingesperrt war. Zu sehr war sie mit ihren
Ängsten und Sorgen beschäftigt. Nur ihre steifen Gelenke und der
schmerzende Rücken verrieten, dass sie eine ganze Weile
zusammengekauert dagelegen hatte, als das Klacken des
Kofferraumschlosses sie aus ihrer Versunkenheit riss.
Das grelle Sonnenlicht blendete sie, als der Deckel
hochgehoben wurde, dann legte sich ein Schatten auf sie. Die
Begrüßung, die ihr bei Adams ausdrucksloser Miene auf der Zunge
lag, kam ihr nicht über die Lippen. Auch er schien es nicht für
nötig zu halten, etwas zu sagen. Stumm hielt er ihr die Hand hin,
um ihr beim Aussteigen behilflich zu sein.
Angst breitete sich in Esther aus. Dieser Mann vor
ihr, dessen Gesicht eine makellose Maske war, kannte sie ihn? Sie
war sich nicht sicher.Vielleicht würde Adam ja genauso aussehen,
wenn Anders seinem Dämon verholfen hatte, endgültig die Oberhand zu
gewinnen. Wie damals auf dem Fest, als er mit einer
schockierenden Gleichgültigkeit Rischka in seine Arme gezogen
hatte und sie, eine gewöhnliche Dienerin, deren Blut nutzlos war,
nicht eines Blickes gewürdigt hatte.
»Adam«, fragte sie unsicher, »was ist
geschehen?«
Als Adam die Hand hob, zuckte sie unwillkürlich
zurück, beinahe als befürchte sie, er könne ihr etwas antun. In
seinen Augen funkelte etwas Kühles, etwas Berechnendes auf, das
Esther zurückweichen ließ. Dieser Mann war ihr fremd, seinen
geschmeidigen Bewegungen und der Art, wie er sie fixierte, wohnte
nichts Menschliches inne. Fast war es ihr, als würde er ihre
Witterung aufnehmen, wenn auch nur für den Fall, dass sie einen
Ausbruch wagen sollte.
»Ich habe dir etwas mitgebracht«, sagte er so
ruhig, als gäbe es nichts auf der Welt, das seinen Puls zum Rasen
bringen konnte. In der Hand hielt er etwas, das in ein weißes Stück
Stoff eingeschlagen war. Nur war der Stoff nicht länger weiß: Rote
Flecken durchdrangen ihn. »Nimm es.«
Esther machte vor Entsetzen noch einen weiteren
Schritt zurück, unfähig, ein Aufkeuchen zu unterdrücken.
»Du solltest nicht vor mir zurückweichen, wenn ich
in so einer Verfassung bin, Esther. Meine Jagdinstinkte könnten
ansonsten die Oberhand gewinnen. Und das will keiner von uns
beiden. Also komm wieder zu mir, ja?«
Gegen ihren Willen ging Esther weiter zurück. Es
war, als habe ein Teil ihres Verstandes die Kontrolle übernommen,
der uralt und fürs Überleben verantwortlich war. Und der drängte
überwältigend zur Flucht.
»Esther«, flüsterte Adam nun kaum noch hörbar.
»Komm zu mir.«
Mit weit aufgerissenen Augen starrte Esther auf das
blutige Etwas in Adams Hand, und plötzlich glaubte sie ein leises
Schlagen zu hören. Ein Herzschlag, dachte sie ungläubig. Das kann
doch nicht sein!