40
Komm zu mir
Esther erwachte mit Kopfschmerzen in Dunkelheit.
Nachdem sie sich ausgiebig die Augen gerieben hatte, stellte sie fest, dass es keineswegs vollkommen dunkel war: Durch Ritzen fiel Sonnenlicht ein wie auch durch einen schmalen Streifen, der an einen Türspalt erinnerte - nur dass die Tür dann direkt über ihr sein müsste. Irritiert wollte sie sich aufrichten und stieß sogleich gegen eine Decke. Auch ihre Beine konnte sie nicht ausstrecken, so beengt war der Raum, in dem sie lag.
Während sie versuchte, sich einen Reim auf ihre Lage zu machen, fiel ihr wieder Adams Nachgiebigkeit ein, als sie darauf bestanden hatte, ihn zu Anders zu begleiten. Er hatte so verdächtig schnell eingelenkt und sie mit einem Kuss ruhiggestellt. Nein, nicht bloß mit einem Kuss, sondern mit einem Griff seitlich ihres Nackens. Er hatte sie bewusstlos gemacht und weggesperrt.
»Adam, du verlogener Mistkerl!«
Wütend trat Esther mit beiden Beinen gleichzeitig gegen die beengten Wände, die unter dem Aufprall erzitterten. Der Geruch nach Gummi und Metall wurde ihr bewusst, und als sie die Decke, auf der sie wie ein Embryo lag, beiseiteschob und den harten Untergrund ertastete, wusste sie, wo sie sich befand.
»Ist das zu glauben? Er hat mich tatsächlich in seinen gottverdammten Kofferraum gesperrt wie einen Gegenstand, den man mal eben kurz verstauen muss. Auf einer abseits liegenden Lichtung, an der kein Mensch vorbeikommt«, raunte sie aufgebracht, während sie mit den Fäusten auf die Abdeckung einprügelte, was ihr jedoch nicht mehr als wunde Handkanten einbrachte. »Dafür werde ich ihn umbringen, wenn er …«
Ja, dachte sie, plötzlich verstummend, wenn er zurückkommt. Wenn er gegen Anders bestehen kann. Adam mag zwar das Naturell eines Jägers haben, aber Anders würde sich weigern, sich wie eine scheue Beute zu verhalten. Jeder, der den Dämon in sich trug, war ein Raubtier, so viel hatte Esther begriffen. Selbst wenn Adam also zurückkam, was sagte das über ihn aus? Esther verdrängte den Gedanken, kaum dass er Form angenommen hatte. In Bezug auf Adam gab es nichts mehr zu entscheiden, sie wollte an seiner Seite sein, ganz gleich, was in ihm schlummerte.
Nach und nach gewöhnten ihre Augen sich an das Dämmerlicht, während sie weiterhin versuchte, den Kofferraum von innen zu öffnen. Nur was sie auch anstellte, er rührte sich kein Stück.Ansonsten hätte Adam dich wohl auch kaum hier eingesperrt, gestand sie sich ein. Der Kerl ist gründlich.
Als Esther sich auf die Seite legte, hörte sie ein Papierrascheln. Umständlich drehte sie sich um und fand eine Zeitschrift, Taschenlampe und eine Trinkflasche. »So sieht man sich wieder«, sagte sie zu der Flasche, ehe sie sich so weit wie möglich aufrichtete und einige tiefe Züge nahm. Dabei fiel ihr auf, dass ihre Hände zitterten. Die Aufregung und die Angst der letzten Tage saßen ihr unleugbar in den Knochen. Als sie die Zeitung im Lichtkegel der Taschenlampe betrachtete, musste sie auflachen. Ein Reisemagazin. Bei dem Bericht über die Sehenswürdigkeiten Indiens war ein Notizblatt eingeschoben.
Bevor Du Dich maßlos in Deinen - zlugegekenermaßen gerechtfertigten - zorn reinsteigetst, uberleg Dir lieber, was wir beide uns als Erstes gemeinsam ansehen wollen. Bis später, Adam
»Als ob ich dich so billig davonkommen lassen würde«, sagte Esther mit einem Schmunzeln, das ihr jedoch sogleich wieder verging.
Unablässig kreisten ihre Gedanken um Adam, zeigten ihr Bilder von seiner Unterwerfung durch Anders, während sie zur Untätigkeit verurteilt festsaß. Zwar bildete sie sich keineswegs ein, dass sie eine große Hilfe gewesen wäre - vermutlich hätte sie Adam eher behindert, denn im Gegensatz zu ihm war sie sterblich -, aber falls er unterliegen sollte, wollte sie bei ihm sein. Genau aus diesem Grund hat er dich weggesperrt, weil er das verhindern will. Du sollst nicht noch einmal sehen, wie jemand stirbt, den du liebst. Oder wie jemand, den du liebst, die falsche Entscheidung trifft …
Esther stöhnte auf und presste sich die Fäuste gegen die Schläfen. Vollkommen gleichgültig, in welche Richtung ihre Gedanken auch gingen, überall lauerten Fallen.
Im Nachhinein konnte sie nicht sagen, wie lange sie in dem Kofferraum eingesperrt war. Zu sehr war sie mit ihren Ängsten und Sorgen beschäftigt. Nur ihre steifen Gelenke und der schmerzende Rücken verrieten, dass sie eine ganze Weile zusammengekauert dagelegen hatte, als das Klacken des Kofferraumschlosses sie aus ihrer Versunkenheit riss.
Das grelle Sonnenlicht blendete sie, als der Deckel hochgehoben wurde, dann legte sich ein Schatten auf sie. Die Begrüßung, die ihr bei Adams ausdrucksloser Miene auf der Zunge lag, kam ihr nicht über die Lippen. Auch er schien es nicht für nötig zu halten, etwas zu sagen. Stumm hielt er ihr die Hand hin, um ihr beim Aussteigen behilflich zu sein.
Angst breitete sich in Esther aus. Dieser Mann vor ihr, dessen Gesicht eine makellose Maske war, kannte sie ihn? Sie war sich nicht sicher.Vielleicht würde Adam ja genauso aussehen, wenn Anders seinem Dämon verholfen hatte, endgültig die Oberhand zu gewinnen. Wie damals auf dem Fest, als er mit einer schockierenden Gleichgültigkeit Rischka in seine Arme gezogen hatte und sie, eine gewöhnliche Dienerin, deren Blut nutzlos war, nicht eines Blickes gewürdigt hatte.
»Adam«, fragte sie unsicher, »was ist geschehen?«
Als Adam die Hand hob, zuckte sie unwillkürlich zurück, beinahe als befürchte sie, er könne ihr etwas antun. In seinen Augen funkelte etwas Kühles, etwas Berechnendes auf, das Esther zurückweichen ließ. Dieser Mann war ihr fremd, seinen geschmeidigen Bewegungen und der Art, wie er sie fixierte, wohnte nichts Menschliches inne. Fast war es ihr, als würde er ihre Witterung aufnehmen, wenn auch nur für den Fall, dass sie einen Ausbruch wagen sollte.
»Ich habe dir etwas mitgebracht«, sagte er so ruhig, als gäbe es nichts auf der Welt, das seinen Puls zum Rasen bringen konnte. In der Hand hielt er etwas, das in ein weißes Stück Stoff eingeschlagen war. Nur war der Stoff nicht länger weiß: Rote Flecken durchdrangen ihn. »Nimm es.«
Esther machte vor Entsetzen noch einen weiteren Schritt zurück, unfähig, ein Aufkeuchen zu unterdrücken.
»Du solltest nicht vor mir zurückweichen, wenn ich in so einer Verfassung bin, Esther. Meine Jagdinstinkte könnten ansonsten die Oberhand gewinnen. Und das will keiner von uns beiden. Also komm wieder zu mir, ja?«
Gegen ihren Willen ging Esther weiter zurück. Es war, als habe ein Teil ihres Verstandes die Kontrolle übernommen, der uralt und fürs Überleben verantwortlich war. Und der drängte überwältigend zur Flucht.
»Esther«, flüsterte Adam nun kaum noch hörbar. »Komm zu mir.«
Mit weit aufgerissenen Augen starrte Esther auf das blutige Etwas in Adams Hand, und plötzlich glaubte sie ein leises Schlagen zu hören. Ein Herzschlag, dachte sie ungläubig. Das kann doch nicht sein!
Nachtglanz - Heitmann, T: Nachtglanz
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