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Unter dem Gefrierpunkt
Adam konnte nicht einmal mehr Schemen ausmachen,
so dicht war der Nebel. Der weiße Dunst hatte sich gleich einer
Explosion in dem Raum ausgebreitet, der mit einem Schlag
beängstigend klein wirkte. Unwillkürlich schnappte Adam nach Luft,
die ihm der Nebel von den Lippen stahl. Er fraß den Sauerstoff
regelrecht weg. Irgendwo hörte er Adalberts qualvolles
Japsen.
Du hättest nicht lange reden, sondern handeln
sollen, fauchte sein Dämon, als ob das jetzt eine große Hilfe
wäre.
Seit sie den Opferraum betreten hatten, war der
Dämon wie ein gefangener Tiger in seinem Inneren auf und ab
gelaufen und hatte Anders belauert, offenbar unschlüssig, was zu
tun war - nun, da sich sein wunderbarer Anders in seinen Feind
verwandelt hatte. Oder vielleicht doch nicht? Adam war das
gleichgültig. Er hatte seine Schuldigkeit getan und denjenigen
aufgespürt, der den Dämon raubte.
In diesem Moment sprang der riesige
Deckenventilator an und saugte den Nebel auf, der sich in tanzende
Schlieren verwandelte, die gen Decke strebten.
»Das System ist noch nicht perfekt, aber das wird
noch.« Anders lachte, dann deutete er mit dem Zeigefinger auf
Adalbert, der kreidebleich und nach Luft ringend an die Wand
zurückgewichen war. »Na los, mach dich nützlich und hilf unserem
Schneewittchen aus ihrem kalten Bett heraus.«
Voller Entsetzen verzog Adalbert das Gesicht. »Ich
soll da reinfassen? Das Kohlenstoffdioxid wird mir die Hände
erfrieren.«
»So was. Er ist wirklich ein miserabler Diener,
genau wie du gesagt hast, Adam.«
Mit einer raschen Bewegung fasste Anders in den
Container und warf eine Handvoll weiße Nuggets in Adalberts
Gesicht. Mit einem Schmerzensschrei schlug der Diener die Hände
vors Gesicht und krümmte sich.
»Nun, er scheint das Trockeneis ja wirklich nicht
sonderlich gut zu vertragen«, sagte Anders mit einem Blick auf
seine eigene, von der Kälte rötlich verbrannte Hand, die sich
jedoch bereits wieder erholte - in einem Tempo, das Adam schlucken
ließ. Der Dämon in Anders leistete Enormes. »Dann muss ich mich
also selbst an die Arbeit machen.«
Beherzt packte Anders mit beiden Armen in den
Container und hievte eine Schneeskulptur heraus, die er vorsichtig,
wie etwas sehr Zerbrechliches, auf den Boden legte.
Voller Unglauben kniete Adam sich neben ihn
hin.
Auf dem schwarzen Boden lag Rischkas Abbild, von
dem Anders seine Hände nicht lösen konnte.Wortwörtlich, denn sie
waren festgefroren. Trotzdem zögerte Adam, noch ein Stück näher an
diesen Mann heranzurutschen, um besser sehen zu können. Dann nahm
ihn Rischkas Anblick gefangen, und er vergaß seine Vorsicht. Ihre
Augenlider lagen so leicht auf wie bei einer Schlafenden, Kristalle
glitzerten auf ihren Lippen und lösten sich bereits in feinste
Wassertropfen auf. Gleich einem verblassenden Zauberbann schmolz
die Eisschicht dahin, von der Rischka umgeben war.
Sie ist zu Hause, hauchte der Dämon mit
einer ungeahnten Erleichterung.
Im ersten Moment stutzte Adam, dann begriff er, was
er damit sagen wollte:Anders hatte Rischka noch nicht ihres Dämons
beraubt.
»Anstatt deine Exgeliebte auf einem schäbigen
Hinterhof ausbluten zu lassen, frierst du sie jetzt ein?«
Anders nickte ungeniert, während er mit einem
scheußlichen Geräusch seine Hände von der Eisfigur riss. Die Hände
sahen wie weißer Marmor aus, dann färbten sie sich schlagartig
schwarz, wie abgestorben, was Anders jedoch nicht im Geringsten zu
kümmern schien.
»Nia ausbluten zu lassen, war nicht nur
umständlich, sondern auch widerlich. Dieser grauenhafte Gestank von
verschwendetem Blut, das im Boden versickert. Das brauche ich
definitiv nie wieder. Um meine Gabe jedoch einsetzen zu können,
muss die Blutzirkulation zum Erliegen gebracht werden - die
Unterbrechung des ewigen Lebens, bevor ich es zu mir umleite.
Einfrieren ist da schon deutlich mehr nach meinem Geschmack, auch
wenn man sich beeilen muss, damit das Opfer nicht wieder
auftaut.«
»Rischka ist nicht dein Opfer«, erwiderte
Adam.
Er hatte das letzte Wort noch nicht vollendet, als
das schmerzhafte Zusammenklappen seines Lungenflügels ihm die Luft
abschnitt. Dann erst spürte er den Stich in seinem Rücken,
ausgehend von jener Stelle, in die Anders ihm blitzschnell eine
Klinge zwischen die Rippen getrieben hatte.
»Ich dachte mir, dass du dein Souvenir sicherlich
zurückhaben willst. Oder hätte ich den venezianischen Dolch lieber
Rischka überreichen sollen? Eigentlich gehört er ja ihr.« Die
Selbstzufriedenheit in Anders’ Stimme war nicht zu überhören. Mit
einem Ruck brach er die Klinge ab und warf ihren kristallenen Griff
auf den Marmorboden, wo er in unzählige Splitter zersprang.
Adam sackte vornüber, überwältigt von dem immer
wiederkehrenden Schmerz, wenn der Dämon versuchte, den Schnitt in
der Lunge zu heilen und dabei gegen die Spitze stieß.Verzweifelt
ertastete Adam die Eintrittswunde am Rücken, wodurch er die
Schneide jedoch nur tiefer ins Fleisch trieb.
»Keine Sorge. Die Klinge wird schon wieder
herausgeschoben werden, aber dazu musst du stillhalten. Dann ist es
nur eine Frage der Zeit.« Anders streckte die Hand aus, als wolle
er Adam auf die Schulter klopfen, besann sich jedoch eines
Besseren. »Ich muss mich sputen, bevor unsere Eisprinzessin zu
schmelzen beginnt. Also, entspann dich und genieß die Show, mein
Freund.«
Leise pfeifend nahm Anders einen Splitter der
zerbrochenen Kristallwaffe und zerschnitt damit die Venen, die über
sein Handgelenk liefen. Die Blutstropfen färbten Rischkas weiße
Lippen ein, bis sie wie lackiert glänzten, dann beugte sich Anders
über sie, um ihr mit einem Kuss den Funken ewigen Lebens zu
nehmen.
Adam streckte seine bebende Hand nach ihm aus und
berührte ihn an der Schulter.
Anders warf ihm einen gereizten Blick aus den
Augenwinkeln zu. »Blamier dich bitte nicht mit so einem läppischen
Angriff. Du bist ja nicht einmal in der Lage, mir einen halbwegs
kräftigen Schlag zu verpassen.«
Zu Adams Glück begriff Anders zu spät, dass er
keineswegs beabsichtigte, ihn anzugreifen. Ganz im Gegenteil. Schon
einen Moment später fanden Adams Finger das Stück nackte Haut über
Anders’ Hemdkragen. Sofort baute sich die Magie der Gabe zwischen
ihnen auf, verband sie beide auf eine Weise miteinander, der sie
nicht widerstehen konnten.
Tief in seinem Inneren hörte Adam seinen Dämon
einen entzückten Seufzer ausstoßen, dann spürte er, wie sein Wille
von einer sanften Welle fortgespült wurde. Es gab nur noch das
Versprechen von Anders’ Gabe, das süßeste Versprechen, das ihm
jemals gegeben worden war.
So langsam, wie es sein geschundener Körper zuließ,
zog er sich an dem vor ihm knienden Anders hoch, der sein
eigentliches Ansinnen vollkommen vergessen hatte.
Nur noch einen Augenblick, dann würde sein Mund
eine Einladung aussprechen. Das war das Einzige, was noch
zählte.
Rischkas Zungenspitze, die nach dem Blut auf ihren
Lippen leckte, war genauso bedeutungslos wie Adalberts Schatten,
der sich auf ihn zubewegte.
Gleich würde er verloren sein und sein Dämon die
Herrschaft an sich reißen.
Verloren …
Kaum war die Verbindung zu IHM hergestellt,
weitete sich sein Gefängnis. Es war, als würden die Wände
fortspringen, während der erste Sonnenstrahl nach Tausenden von
Jahren sein Antlitz berührte. Mit einem Seufzer wandte er sich der
Machtquelle zu, die ihm den Weg aus der Dunkelheit wies und ihn mit
jedem Schritt, mit dem er sich ihr näherte, stärker
machte.
Dabei schmolz das aufdringliche Subjekt namens
Adam, das stets die Kette an seinem Bein gewesen war, gleich einem
Stück Eis. Noch schillerte er wie ein Diamant, aber nicht mehr
lange, dann würde nichts mehr an ihn erinnern.
Er verharrte.
Jetzt war nicht der rechte Moment, um zu zögern,
schalt er sich. Es fehlte nur ein winziges Stück des Weges, dann
gehörte sein Tempel endlich ihm allein. Kein lästiger Vermieter
würde mehr da sein, der seine eigenen Pläne verfolgte.
Je stärker er wurde, desto heller brannte er und
verzehrte alles, das sich ihm in den Weg stellte.
Sein Traum, das einzige Ziel, das er kannte, war
zum Greifen nah. Und trotzdem verharrte er.
Du weißt auch, warum, gestand er sich
widerwillig ein. Sobald der Quälgeist erlöscht, wirst du IHM nicht
widerstehen können, wenn ER dich zu sich ruft. Die Freiheit wäre
von sehr kurzer Dauer, wenn ER dich zu sich nimmt. Im Ganzen
besteht der Einzelne nicht mehr.
So überwältigend und großartig das Ganze auch
sein mochte, nur ein Splitter zu sein, war vielleicht auch gar
nicht verkehrt. Zumindest wusste man, dass man ein Splitter
war.
Während er sich selbst für diese Erkenntnis
hasste, kehrte er widerwillig in die Dunkelheit zurück, wohl
wissend, dass sich nie wieder die Möglichkeit anbieten würde, den
Kerker zu verlassen. Denn wenn man sich auf eine Sache verlassen
konnte, dann auf die Rachegelüste des Quälgeistes. Er würde wissen,
wie man die Sonne für immer zum Erlöschen brachte.