38
Unter dem Gefrierpunkt
Adam konnte nicht einmal mehr Schemen ausmachen, so dicht war der Nebel. Der weiße Dunst hatte sich gleich einer Explosion in dem Raum ausgebreitet, der mit einem Schlag beängstigend klein wirkte. Unwillkürlich schnappte Adam nach Luft, die ihm der Nebel von den Lippen stahl. Er fraß den Sauerstoff regelrecht weg. Irgendwo hörte er Adalberts qualvolles Japsen.
Du hättest nicht lange reden, sondern handeln sollen, fauchte sein Dämon, als ob das jetzt eine große Hilfe wäre.
Seit sie den Opferraum betreten hatten, war der Dämon wie ein gefangener Tiger in seinem Inneren auf und ab gelaufen und hatte Anders belauert, offenbar unschlüssig, was zu tun war - nun, da sich sein wunderbarer Anders in seinen Feind verwandelt hatte. Oder vielleicht doch nicht? Adam war das gleichgültig. Er hatte seine Schuldigkeit getan und denjenigen aufgespürt, der den Dämon raubte.
In diesem Moment sprang der riesige Deckenventilator an und saugte den Nebel auf, der sich in tanzende Schlieren verwandelte, die gen Decke strebten.
»Das System ist noch nicht perfekt, aber das wird noch.« Anders lachte, dann deutete er mit dem Zeigefinger auf Adalbert, der kreidebleich und nach Luft ringend an die Wand zurückgewichen war. »Na los, mach dich nützlich und hilf unserem Schneewittchen aus ihrem kalten Bett heraus.«
Voller Entsetzen verzog Adalbert das Gesicht. »Ich soll da reinfassen? Das Kohlenstoffdioxid wird mir die Hände erfrieren.«
»So was. Er ist wirklich ein miserabler Diener, genau wie du gesagt hast, Adam.«
Mit einer raschen Bewegung fasste Anders in den Container und warf eine Handvoll weiße Nuggets in Adalberts Gesicht. Mit einem Schmerzensschrei schlug der Diener die Hände vors Gesicht und krümmte sich.
»Nun, er scheint das Trockeneis ja wirklich nicht sonderlich gut zu vertragen«, sagte Anders mit einem Blick auf seine eigene, von der Kälte rötlich verbrannte Hand, die sich jedoch bereits wieder erholte - in einem Tempo, das Adam schlucken ließ. Der Dämon in Anders leistete Enormes. »Dann muss ich mich also selbst an die Arbeit machen.«
Beherzt packte Anders mit beiden Armen in den Container und hievte eine Schneeskulptur heraus, die er vorsichtig, wie etwas sehr Zerbrechliches, auf den Boden legte.
Voller Unglauben kniete Adam sich neben ihn hin.
Auf dem schwarzen Boden lag Rischkas Abbild, von dem Anders seine Hände nicht lösen konnte.Wortwörtlich, denn sie waren festgefroren. Trotzdem zögerte Adam, noch ein Stück näher an diesen Mann heranzurutschen, um besser sehen zu können. Dann nahm ihn Rischkas Anblick gefangen, und er vergaß seine Vorsicht. Ihre Augenlider lagen so leicht auf wie bei einer Schlafenden, Kristalle glitzerten auf ihren Lippen und lösten sich bereits in feinste Wassertropfen auf. Gleich einem verblassenden Zauberbann schmolz die Eisschicht dahin, von der Rischka umgeben war.
Sie ist zu Hause, hauchte der Dämon mit einer ungeahnten Erleichterung.
Im ersten Moment stutzte Adam, dann begriff er, was er damit sagen wollte:Anders hatte Rischka noch nicht ihres Dämons beraubt.
»Anstatt deine Exgeliebte auf einem schäbigen Hinterhof ausbluten zu lassen, frierst du sie jetzt ein?«
Anders nickte ungeniert, während er mit einem scheußlichen Geräusch seine Hände von der Eisfigur riss. Die Hände sahen wie weißer Marmor aus, dann färbten sie sich schlagartig schwarz, wie abgestorben, was Anders jedoch nicht im Geringsten zu kümmern schien.
»Nia ausbluten zu lassen, war nicht nur umständlich, sondern auch widerlich. Dieser grauenhafte Gestank von verschwendetem Blut, das im Boden versickert. Das brauche ich definitiv nie wieder. Um meine Gabe jedoch einsetzen zu können, muss die Blutzirkulation zum Erliegen gebracht werden - die Unterbrechung des ewigen Lebens, bevor ich es zu mir umleite. Einfrieren ist da schon deutlich mehr nach meinem Geschmack, auch wenn man sich beeilen muss, damit das Opfer nicht wieder auftaut.«
»Rischka ist nicht dein Opfer«, erwiderte Adam.
Er hatte das letzte Wort noch nicht vollendet, als das schmerzhafte Zusammenklappen seines Lungenflügels ihm die Luft abschnitt. Dann erst spürte er den Stich in seinem Rücken, ausgehend von jener Stelle, in die Anders ihm blitzschnell eine Klinge zwischen die Rippen getrieben hatte.
»Ich dachte mir, dass du dein Souvenir sicherlich zurückhaben willst. Oder hätte ich den venezianischen Dolch lieber Rischka überreichen sollen? Eigentlich gehört er ja ihr.« Die Selbstzufriedenheit in Anders’ Stimme war nicht zu überhören. Mit einem Ruck brach er die Klinge ab und warf ihren kristallenen Griff auf den Marmorboden, wo er in unzählige Splitter zersprang.
Adam sackte vornüber, überwältigt von dem immer wiederkehrenden Schmerz, wenn der Dämon versuchte, den Schnitt in der Lunge zu heilen und dabei gegen die Spitze stieß.Verzweifelt ertastete Adam die Eintrittswunde am Rücken, wodurch er die Schneide jedoch nur tiefer ins Fleisch trieb.
»Keine Sorge. Die Klinge wird schon wieder herausgeschoben werden, aber dazu musst du stillhalten. Dann ist es nur eine Frage der Zeit.« Anders streckte die Hand aus, als wolle er Adam auf die Schulter klopfen, besann sich jedoch eines Besseren. »Ich muss mich sputen, bevor unsere Eisprinzessin zu schmelzen beginnt. Also, entspann dich und genieß die Show, mein Freund.«
Leise pfeifend nahm Anders einen Splitter der zerbrochenen Kristallwaffe und zerschnitt damit die Venen, die über sein Handgelenk liefen. Die Blutstropfen färbten Rischkas weiße Lippen ein, bis sie wie lackiert glänzten, dann beugte sich Anders über sie, um ihr mit einem Kuss den Funken ewigen Lebens zu nehmen.
Adam streckte seine bebende Hand nach ihm aus und berührte ihn an der Schulter.
Anders warf ihm einen gereizten Blick aus den Augenwinkeln zu. »Blamier dich bitte nicht mit so einem läppischen Angriff. Du bist ja nicht einmal in der Lage, mir einen halbwegs kräftigen Schlag zu verpassen.«
Zu Adams Glück begriff Anders zu spät, dass er keineswegs beabsichtigte, ihn anzugreifen. Ganz im Gegenteil. Schon einen Moment später fanden Adams Finger das Stück nackte Haut über Anders’ Hemdkragen. Sofort baute sich die Magie der Gabe zwischen ihnen auf, verband sie beide auf eine Weise miteinander, der sie nicht widerstehen konnten.
Tief in seinem Inneren hörte Adam seinen Dämon einen entzückten Seufzer ausstoßen, dann spürte er, wie sein Wille von einer sanften Welle fortgespült wurde. Es gab nur noch das Versprechen von Anders’ Gabe, das süßeste Versprechen, das ihm jemals gegeben worden war.
So langsam, wie es sein geschundener Körper zuließ, zog er sich an dem vor ihm knienden Anders hoch, der sein eigentliches Ansinnen vollkommen vergessen hatte.
Nur noch einen Augenblick, dann würde sein Mund eine Einladung aussprechen. Das war das Einzige, was noch zählte.
Rischkas Zungenspitze, die nach dem Blut auf ihren Lippen leckte, war genauso bedeutungslos wie Adalberts Schatten, der sich auf ihn zubewegte.
Gleich würde er verloren sein und sein Dämon die Herrschaft an sich reißen.
Verloren …
 
Kaum war die Verbindung zu IHM hergestellt, weitete sich sein Gefängnis. Es war, als würden die Wände fortspringen, während der erste Sonnenstrahl nach Tausenden von Jahren sein Antlitz berührte. Mit einem Seufzer wandte er sich der Machtquelle zu, die ihm den Weg aus der Dunkelheit wies und ihn mit jedem Schritt, mit dem er sich ihr näherte, stärker machte.
Dabei schmolz das aufdringliche Subjekt namens Adam, das stets die Kette an seinem Bein gewesen war, gleich einem Stück Eis. Noch schillerte er wie ein Diamant, aber nicht mehr lange, dann würde nichts mehr an ihn erinnern.
Er verharrte.
Jetzt war nicht der rechte Moment, um zu zögern, schalt er sich. Es fehlte nur ein winziges Stück des Weges, dann gehörte sein Tempel endlich ihm allein. Kein lästiger Vermieter würde mehr da sein, der seine eigenen Pläne verfolgte.
Je stärker er wurde, desto heller brannte er und verzehrte alles, das sich ihm in den Weg stellte.
Sein Traum, das einzige Ziel, das er kannte, war zum Greifen nah. Und trotzdem verharrte er.
Du weißt auch, warum, gestand er sich widerwillig ein. Sobald der Quälgeist erlöscht, wirst du IHM nicht widerstehen können, wenn ER dich zu sich ruft. Die Freiheit wäre von sehr kurzer Dauer, wenn ER dich zu sich nimmt. Im Ganzen besteht der Einzelne nicht mehr.
So überwältigend und großartig das Ganze auch sein mochte, nur ein Splitter zu sein, war vielleicht auch gar nicht verkehrt. Zumindest wusste man, dass man ein Splitter war.
Während er sich selbst für diese Erkenntnis hasste, kehrte er widerwillig in die Dunkelheit zurück, wohl wissend, dass sich nie wieder die Möglichkeit anbieten würde, den Kerker zu verlassen. Denn wenn man sich auf eine Sache verlassen konnte, dann auf die Rachegelüste des Quälgeistes. Er würde wissen, wie man die Sonne für immer zum Erlöschen brachte.
Nachtglanz - Heitmann, T: Nachtglanz
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