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Tempelruinen
Das Licht im Verschlag war bestenfalls dämmrig,
obwohl Adam die Tür sperrangelweit aufstemmte - was gar nicht
leicht war, denn sie verkantete sich im Lehmboden. Neugierige
Spaziergänger, die einfach mal einen Blick ins Innere werfen
wollten, würden an dieser Stelle vermutlich schon aufgeben, stellte
er fest. Die Spur war überraschend gut verwischt worden, viel zu
gut im Vergleich zu den Opfern auf Esthers Liste, die mit großer
Leidenschaft präsentiert worden waren. Immer stärker beschlich ihn
der Verdacht, dass hier ein anderer seiner Art die Reste der
Opferung verborgen hatte, zweifelsfrei mit dem Wunsch, dass sie
nicht gefunden wurden.
Mit bloßen Händen räumte Adam rostigen Stacheldraht
zur Seite, unter dem ein Haufen Latten lagen. Seine Sinne verrieten
ihm überdeutlich, dass sich ein Körper unter dem Holz befand, auch
wenn der Leichengeruch verwirrend gering ausfiel. Eigentlich nahm
er fast nur getrocknetes Blut und den verräterischen Dämonengestank
nach Muskat wahr, der unerklärlich stark war. Fast, als läge einer
seinesgleichen unter dem Holzstapel verborgen. Von diesem Rätsel
getrieben, zerrte er die Latten fort.
Nach und nach kam der unbekleidete Leichnam einer
Frau zum Vorschein. Er konnte Esthers Entsetzen auf der Zunge
schmecken, salzig und bitter zugleich. Einen Moment lang spielte er
mit dem Gedanken, sie einfach nach draußen zu
zwingen, aber er bezweifelte, dass sie ihm so etwas durchgehen
lassen würde. Sie war bis hierher gegangen, sie wollte es
wissen.
Die vollständig ausgeblutete Frau mochte mittleren
Alters sein, das Adam nicht richtig schätzen konnte. Er tippte auf
eine indische Herkunft, weshalb die Zeichen des Alters für ihn
schwieriger zu deuten waren. Ihre Haut war selbst nach einigen
Tagen des Todes noch von einem lebendigen Braun. Ihre Schlagader
war am Hals mit einem einzigen sauberen Schnitt geöffnet worden.
Keine Anzeichen von den Spielereien, die die anderen Opfer erleiden
mussten. Nur an den Hand- und Fußgelenken waren Druckstellen zu
sehen, wo bei der Opferung möglicherweise Fesseln gewesen
waren.Aber etwas ganz anderes fesselte ihn viel mehr.
»Der Muskatgeruch passt nicht«, murmelte er,
während er Dreck von den starren Gesichtszügen der Frau wischte.
»Eigentlich dürfte er nach all den Tagen auch nicht mehr so präsent
an dem Leichnam haften. Es ist fast, als wäre einer von uns in der
Zwischenzeit hier gewesen.«
»Muskatgeruch? Was hat denn dieses Gewürz mit
alldem zu tun?« Zu seiner Überraschung hatte sich Esther neben ihn
gekniet und reichte ihm ein Taschentuch, während sie den Leichnam
mit einem gequälten Ausdruck betrachtete. Zögernd streckte sie eine
Hand aus und zupfte Späne aus dem kurzgeschnittenen schwarzen
Haar.
»Der Dämon riecht nach Muskat, nur trägt jeder von
uns eine einzigartige Note. Und diese kenne ich nicht.«
»Das wundert mich nicht, denn der Geruch dürfte von
ihr stammen. Nia ist eine von euch … oder war es vielmehr. Sie ist
die Gefährtin von Anders gewesen, ehe es Rischka hierherverschlug
und sie diesen Platz für sich beanspruchte. Ich dachte, es sei so
gut wie unmöglich, euch zu töten.«
»Diese Frau da soll eine von uns gewesen sein?«
Obwohl
Esther es ganz deutlich formuliert hatte, konnte Adam es nicht
glauben. Es war unmöglich.
Esther legte die Stirn in Falten. »Ich habe mich
schon gewundert, wo Nia abgeblieben ist. Du kannst dir sicherlich
vorstellen, dass Nia und Rischka sich alles andere als prächtig
verstanden haben. Sie haben beide nicht sonderlich gut auf die
Konkurrenzsituation reagiert, und Anders ist niemand, der sich in
so etwas einmischt. Als Nia dann vor einigen Tagen verschwunden
ist, dachte ich, sie hätte den Kampf um Anders aufgegeben. Obwohl
mich das natürlich wunderte, schließlich macht Anders’ Gabe
süchtig.«
Endlich begriff Adam, was an der Spur so seltsam
war: Vor ihm lag wahrhaftig ein Leib, der früher einmal ein Tempel
des Dämons gewesen war. Nun war er leer und dem Verfall überlassen.
Aber wo war der Dämon jetzt?
Adam bekam keine Gelegenheit, darüber nachzudenken.
Denn sein vor Zorn tobender Dämon brach in Rage aus.
Das darf nicht sein! Es ist unmöglich.Wer hat
diesen schändlichen Raub begangen?
Sein Wutschrei drohte Adam zu zerreißen. Es fühlte
sich an, als würden ihm unzählige Eissplitter unter die Haut gejagt
werden. Nie zuvor war der Dämon derartig von Sinnen gewesen. In
seinem blinden Zorn wütete er durch den Tempel, unbeeindruckt von
dem, was er Adam damit antat. Ohne sich dessen bewusst zu sein,
sank Adam in sich zusammen. Die Welt bestand nur noch aus
vernichtendem Schmerz.
Als der Schrei des Dämons endlich abebbte, kam
Adam langsam wieder zu Bewusstsein. Noch immer glaubte er ein
Nachhallen zu hören und befürchtete einen erneuten Sturz in die
Dunkelheit. Zu seiner Verwunderung fand er sich, auf der Seite
liegend, am Flussbett wieder statt neben der leeren Hülle, die von
einer Frau namens Nia zurückgeblieben war.
Esther kauerte neben ihm, die Wangen übersät mit
roten Flecken. Schweiß glänzte auf ihrer Stirn, und ihr Herzschlag
ging so wild, dass Adam vor lauter Sorge fast alles andere
vergaß.
Sie sah so schockiert aus.
Er wollte nach ihr greifen, ihr beruhigende Worte
zuflüstern, doch es gelang ihm nicht. Sein Körper gehorchte ihm
noch nicht wieder, es war, als wären die Verbindungen zwischen ihm
und seinen Gliedern gekappt. Ihm blieb nichts anderes übrig, als
sie anzublinzeln.
Esther musste ihn aus dem Verschlag gezogen haben,
während der Dämon in ihm getobt hatte. Entweder hatte sie nichts
von dieser dunklen Macht begriffen, oder sie war mutiger, als gut
für sie war. Die Bestürzung in ihren Augen wies auf Letzteres. Nun
zog sie die Hand, die eben noch auf seiner Wange geruht hatte,
zurück, um ihre aufgeschürften Knie zu betasten. Obwohl ihm kein
körperliches Leid geschehen war, wurde Adam schwarz vor Augen, als
er sich aufrichtete. Schweigend saßen sie nebeneinander, während
die Sonne im Zenit stand und das träge fließende Wasser zum
Glitzern brachte.
»Das ist nicht gut«, stellte sie schließlich fest,
die Stimme nicht mehr als ein Flüstern.
Adam schüttelte den Kopf. »Nein, das ist überhaupt
nicht gut. Dieser Leichnam dürfte eigentlich gar nicht existieren.
Ich habe immer wieder erlebt, dass der Dämon sämtliche Gefahren,
selbst eine Feuersbrunst oder einen Aufprall aus enormer Höhe,
überwindet, solange der Körper nicht vollständig aufgelöst worden
ist. Was auch immer auf diesem Hinterhof passiert ist, widerspricht
der ersten Regel, die für unsereins gilt: Was der Dämon einmal in
Besitz genommen hat, gibt er niemals wieder freiwillig auf.«
»Aber Nia ist doch tot, oder etwa nicht?«
»Sie verwest bereits, wenn auch nur sehr langsam.
Als wäre ihr mit dem Blut auch der Dämon genommen worden.« Je
länger Adam darüber sprach, desto klarer wurde ihm, wie
außergewöhnlich
sein Fund war. Er musste noch einmal hineingehen und sich den
Leichnam genau ansehen, nach irgendeinem Anhaltspunkt suchen.
Seinen ganzen Mut zusammennehmend, sah er zu dem Verschlag hinüber,
da drohte der Dämon bereits erneut aufzubrausen.
Nie wieder, setz mich diesem Anblick ja niemals
wieder aus. Einen solchen Frevel ertrage ich nicht.
Mit einem gepeinigten Stöhnen schlug Adam die Augen
nieder. Zumindest gelang es ihm schließlich, die widerspenstige Tür
des Verschlags zu schließen. Zitternd, als hätte er eine ganze
Felswand in Bewegung gesetzt, hielt er auf Esther zu, die ihm
sogleich einen Arm um die Taille legte und so sein Schwanken
milderte.
»Lass uns zusehen, dass wir irgendwie diesen
verdammten Abhang hinaufkommen«, brachte er mit rauer Stimme
hervor. »Dann fahre ich dich zu deinem Apartment, ehe ich Anders
einen Besuch abstatte.«
»Ich werde dich begleiten, allein schon, damit
Anders weiß, dass ich meiner Pflicht nachkomme. Wie sieht das denn
aus, wenn du ohne mich in seinem Haus erscheinst? Als hätte ich
mich so dumm angestellt, dass du mich gleich wieder loswerden
wolltest.«
»Dann ruf ihn an und erstatte ihm Bericht, falls du
dich dann besser fühlst.«
Esther zögerte. »Das wäre nicht richtig. Wie soll
ich mich denn verhalten, wenn er mir Fragen darüber stellt, was wir
gefunden haben? Wenn wir beide vor ihm stehen, wird er dir die
Führung überlassen. Dann kannst du entscheiden, wie viel du ihm
erzählen willst. Es wäre angesichts der Lage doch sicherlich nicht
klug, ihm von Nia zu erzählen, bevor du mehr darüber herausgefunden
hast, was ihr zugestoßen ist. Dieser Fund ist doch zu
ungeheuerlich. Anders könnte falsche Rückschlüsse ziehen wegen
Rischka …«
Der Blick, mit dem Adam sie bedachte, ließ sie
verstummen.
»Du hast Recht: Ich erwarte von dir, dass du
Stillschweigen bewahrst. Leg dir eine überzeugende Ausrede zurecht,
wie wir den Vormittag verbracht haben.Aber erwähne mit keinem
einzigen Wort den Hinweis, dem wir nachgegangen sind - oder gar
unseren Fund. Er hat nichts mit demjenigen zu tun, nach dem wir
suchen. Das ist mir jetzt klargeworden. Du bist doch ein kluges
Mädchen, dir fällt schon was ein.«
Adam verwandelte sein Gesicht in eine ausdruckslose
Maske. Denn was er gleich zu sagen gezwungen war, würde ihn
mindestens genauso verletzen wie Esther. Nachdem der Dämon ihm
jedoch vor Augen geführt hatte, dass er seine Nähe zu Esther nicht
länger tolerieren würde, blieb ihm nichts anderes übrig. Vor allem
nicht, da er wirklich etwas für die Frau an seiner Seite
empfand.
»Ich werde mir jetzt allein mindestens eins der
Blutopfer von deiner Liste genauer anschauen. Das hätte ich gleich
tun sollen, anstatt diesen Umweg zu nehmen. Wer auch immer dem
Dämon geopfert hat, wird seinen Muskatgeruch an der Leiche
hinterlassen haben. Das heißt, eigentlich gehe ich davon aus, gar
keinen Geruch zu finden.«
»Keinen Muskatgeruch?«, hakte Esther verwirrt nach.
»Aber du sagtest doch, dass du den Dämon riechen kannst.«
Adam schüttelte lediglich den Kopf, um anzudeuten,
dass er diesen Punkt nicht weiter verfolgen wollte. »Nachdem ich
mich davon überzeugt habe, dass mein Verdacht stimmt, werde ich
Anders den Namen desjenigen nennen, der hinter den Morden auf
deiner Liste steckt.Was wir in diesem Verschlag gefunden haben,
wird keiner von uns beiden jemals wieder erwähnen. Bevor ich Los
Angeles mit dem nächsten Flug verlasse, werde ich noch einmal
hierher zurückkehren und den Verschlag niederbrennen.«
Esther sah aus, als hätte er ihr mitten ins Gesicht
geschlagen, und für einen Moment glaubte er, sie würde vor lauter
Bestürzung zur Gegenwehr ansetzen und ihn mit den Fäusten
attackieren. Doch im nächsten Moment hatte sie sich wieder
gefangen, obwohl ihre Schläfen weiterhin aufgeregt pochten.
»Das kann unmöglich dein Ernst sein. Du willst
einfach fortgehen?«
»Anders hat mich beauftragt, denjenigen zu finden,
der publikumsträchtige Opferrituale durchführt. Deshalb bin ich in
Los Angeles. Dieser obskure Leichnam, der vermutlich nichts mehr
als eine weitere Perversion des Dämons ist, geht mich nichts
an.«
»Was ist mit Anders’ Gabe, die du eigentlich auch
noch in Anspruch nehmen wolltest - ist das auch mit einem Schlag
egal?« Als Adam lediglich nickte, stieß sie ein verächtliches
Schnauben aus. »Du willst davonlaufen, darum geht es doch. Aber
wovor? Befürchtest du etwa, die nächste blutleere Leiche zu
stellen? Na, dann ist es vermutlich besser, dich möglichst umgehend
aus der Gefahrenzone Kalifornien zu bringen.Wenn ich mir ein paar
flache Schuhe anziehe, kann ich an deiner Stelle mit einem Kanister
Benzin und einem Feuerzeug zurückkehren. Quasi als meine letzte
Amtshandlung als deine Leihdienerin, kein Problem.«
Esthers Spott und - noch schlimmer - der
abschätzige Zug um ihren Mund trafen Adam unerwartet hart. Ehe er
sich eines Besseren besann und sie einfach in diesem Glauben ließ,
sagte er: »Ich laufe nicht davon, zumindest nicht vor diesem
Geheimnis. Dass ich fortgehe, stand für mich schon fest, bevor wir
den Abhang hinabgestiegen sind. Ich bin ein Risiko für dich, weil
mein Dämon es nicht zulassen wird, dass ich meinen Gefühlen, die
ich für dich hege, nachgebe.Vielleicht wäre ich imstande, ihm die
Stirn zu bieten, wenn ich mich ihm die letzten Jahrzehnte nicht mit
Haut und Haaren überlassen hätte. Aber so lauert er nur auf den
richtigen Moment, um mir zu beweisen,
dass ich nichts anderes als ein lästiger Gast in seinem Tempel
bin. Er würde dich töten, um mich zu bestrafen.«
»Wenn dir daran liegt, kannst du dem Dämon gewiss
die Stirn bieten«, unterbrach Esther ihn. Sie war vollkommen
aufgewühlt, da er sie mit seinem Geständnis an die Wand gedrängt
hatte. Nun war kein Platz mehr für vorsichtiges Herantasten. Als
könne sie die Distanz zwischen ihnen nicht eine Sekunde länger
ertragen, legte sie eine Hand um seinen Nacken, während die andere
auf seiner Brust zum Ruhen kam.Augenblicklich vereinten sich ihr
Puls und sein Herzschlag, eine Verbindung, die ihm fast seinen
Verstand raubte.
Gegen seinen Willen sagte er: »Nein, das kann ich
nicht. Das hat er mir bereits früher bewiesen, und er würde nicht
zögern, es ein weiters Mal zu tun. Das hat er mir vor gut einer
Stunde eindrücklich vor Augen geführt. Wenn ich bei dir bleibe, bin
ich die größte Gefahr in deinem Leben.«
»Und wenn ich dir sagen würde, dass ich bereit bin,
dieses Risiko einzugehen?«
Adam spürte, wie etwas in ihm zerbrach, als er sich
seine Antwort zurechtlegte. »Dann würde ich dir sagen, dass ich es
aber nicht bin.«
Mit einem Schlag wich sämtliche Farbe aus Esthers
Gesicht, dann nahm sie langsam ihre Hände zurück. »Ich verstehe.«
Sie sah ihn noch einmal an, dann hielt sie auf den Abhang zu. Ihre
Verletztheit legte sich wie ein dunkler Schleier über ihn. Er
wünschte sich nichts sehnlicher, als ihn mit einigen Worten zu
zerreißen, aber das erlaubte er sich nicht. Seine Entscheidung war
gefallen.
Das konnte nicht sein. Unmöglich. Niemand war
in der Lage, einen von ihnen zu rauben. Auslöschen, ja. Er hatte
selbst erlebt, wie Adam seinesgleichen vernichtet hatte. Einige
Male hatte er ihn sogar dazu aufgefordert. Nicht, dass es ihm
leichtfiel, zu ertragen, wie ein Teil von
ihm starb. Aber das war nichts im Vergleich zu dem Raub, dessen
schreckliche Überreste er gerade erst gesehen hatte.
Aufgebracht hastete er durch seinen Tempel,
unfähig, sich hinabsinken zu lassen und sein Lied
anzustimmen.
Einer ging durch diese Stadt, der imstande war,
die Tempel zu entweihen und sie zu rauben.Was sollte er nur dagegen
tun?