15
Tempelruinen
Das Licht im Verschlag war bestenfalls dämmrig, obwohl Adam die Tür sperrangelweit aufstemmte - was gar nicht leicht war, denn sie verkantete sich im Lehmboden. Neugierige Spaziergänger, die einfach mal einen Blick ins Innere werfen wollten, würden an dieser Stelle vermutlich schon aufgeben, stellte er fest. Die Spur war überraschend gut verwischt worden, viel zu gut im Vergleich zu den Opfern auf Esthers Liste, die mit großer Leidenschaft präsentiert worden waren. Immer stärker beschlich ihn der Verdacht, dass hier ein anderer seiner Art die Reste der Opferung verborgen hatte, zweifelsfrei mit dem Wunsch, dass sie nicht gefunden wurden.
Mit bloßen Händen räumte Adam rostigen Stacheldraht zur Seite, unter dem ein Haufen Latten lagen. Seine Sinne verrieten ihm überdeutlich, dass sich ein Körper unter dem Holz befand, auch wenn der Leichengeruch verwirrend gering ausfiel. Eigentlich nahm er fast nur getrocknetes Blut und den verräterischen Dämonengestank nach Muskat wahr, der unerklärlich stark war. Fast, als läge einer seinesgleichen unter dem Holzstapel verborgen. Von diesem Rätsel getrieben, zerrte er die Latten fort.
Nach und nach kam der unbekleidete Leichnam einer Frau zum Vorschein. Er konnte Esthers Entsetzen auf der Zunge schmecken, salzig und bitter zugleich. Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, sie einfach nach draußen zu zwingen, aber er bezweifelte, dass sie ihm so etwas durchgehen lassen würde. Sie war bis hierher gegangen, sie wollte es wissen.
Die vollständig ausgeblutete Frau mochte mittleren Alters sein, das Adam nicht richtig schätzen konnte. Er tippte auf eine indische Herkunft, weshalb die Zeichen des Alters für ihn schwieriger zu deuten waren. Ihre Haut war selbst nach einigen Tagen des Todes noch von einem lebendigen Braun. Ihre Schlagader war am Hals mit einem einzigen sauberen Schnitt geöffnet worden. Keine Anzeichen von den Spielereien, die die anderen Opfer erleiden mussten. Nur an den Hand- und Fußgelenken waren Druckstellen zu sehen, wo bei der Opferung möglicherweise Fesseln gewesen waren.Aber etwas ganz anderes fesselte ihn viel mehr.
»Der Muskatgeruch passt nicht«, murmelte er, während er Dreck von den starren Gesichtszügen der Frau wischte. »Eigentlich dürfte er nach all den Tagen auch nicht mehr so präsent an dem Leichnam haften. Es ist fast, als wäre einer von uns in der Zwischenzeit hier gewesen.«
»Muskatgeruch? Was hat denn dieses Gewürz mit alldem zu tun?« Zu seiner Überraschung hatte sich Esther neben ihn gekniet und reichte ihm ein Taschentuch, während sie den Leichnam mit einem gequälten Ausdruck betrachtete. Zögernd streckte sie eine Hand aus und zupfte Späne aus dem kurzgeschnittenen schwarzen Haar.
»Der Dämon riecht nach Muskat, nur trägt jeder von uns eine einzigartige Note. Und diese kenne ich nicht.«
»Das wundert mich nicht, denn der Geruch dürfte von ihr stammen. Nia ist eine von euch … oder war es vielmehr. Sie ist die Gefährtin von Anders gewesen, ehe es Rischka hierherverschlug und sie diesen Platz für sich beanspruchte. Ich dachte, es sei so gut wie unmöglich, euch zu töten.«
»Diese Frau da soll eine von uns gewesen sein?« Obwohl Esther es ganz deutlich formuliert hatte, konnte Adam es nicht glauben. Es war unmöglich.
Esther legte die Stirn in Falten. »Ich habe mich schon gewundert, wo Nia abgeblieben ist. Du kannst dir sicherlich vorstellen, dass Nia und Rischka sich alles andere als prächtig verstanden haben. Sie haben beide nicht sonderlich gut auf die Konkurrenzsituation reagiert, und Anders ist niemand, der sich in so etwas einmischt. Als Nia dann vor einigen Tagen verschwunden ist, dachte ich, sie hätte den Kampf um Anders aufgegeben. Obwohl mich das natürlich wunderte, schließlich macht Anders’ Gabe süchtig.«
Endlich begriff Adam, was an der Spur so seltsam war: Vor ihm lag wahrhaftig ein Leib, der früher einmal ein Tempel des Dämons gewesen war. Nun war er leer und dem Verfall überlassen. Aber wo war der Dämon jetzt?
Adam bekam keine Gelegenheit, darüber nachzudenken. Denn sein vor Zorn tobender Dämon brach in Rage aus.
Das darf nicht sein! Es ist unmöglich.Wer hat diesen schändlichen Raub begangen?
Sein Wutschrei drohte Adam zu zerreißen. Es fühlte sich an, als würden ihm unzählige Eissplitter unter die Haut gejagt werden. Nie zuvor war der Dämon derartig von Sinnen gewesen. In seinem blinden Zorn wütete er durch den Tempel, unbeeindruckt von dem, was er Adam damit antat. Ohne sich dessen bewusst zu sein, sank Adam in sich zusammen. Die Welt bestand nur noch aus vernichtendem Schmerz.
 
Als der Schrei des Dämons endlich abebbte, kam Adam langsam wieder zu Bewusstsein. Noch immer glaubte er ein Nachhallen zu hören und befürchtete einen erneuten Sturz in die Dunkelheit. Zu seiner Verwunderung fand er sich, auf der Seite liegend, am Flussbett wieder statt neben der leeren Hülle, die von einer Frau namens Nia zurückgeblieben war.
Esther kauerte neben ihm, die Wangen übersät mit roten Flecken. Schweiß glänzte auf ihrer Stirn, und ihr Herzschlag ging so wild, dass Adam vor lauter Sorge fast alles andere vergaß.
Sie sah so schockiert aus.
Er wollte nach ihr greifen, ihr beruhigende Worte zuflüstern, doch es gelang ihm nicht. Sein Körper gehorchte ihm noch nicht wieder, es war, als wären die Verbindungen zwischen ihm und seinen Gliedern gekappt. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sie anzublinzeln.
Esther musste ihn aus dem Verschlag gezogen haben, während der Dämon in ihm getobt hatte. Entweder hatte sie nichts von dieser dunklen Macht begriffen, oder sie war mutiger, als gut für sie war. Die Bestürzung in ihren Augen wies auf Letzteres. Nun zog sie die Hand, die eben noch auf seiner Wange geruht hatte, zurück, um ihre aufgeschürften Knie zu betasten. Obwohl ihm kein körperliches Leid geschehen war, wurde Adam schwarz vor Augen, als er sich aufrichtete. Schweigend saßen sie nebeneinander, während die Sonne im Zenit stand und das träge fließende Wasser zum Glitzern brachte.
»Das ist nicht gut«, stellte sie schließlich fest, die Stimme nicht mehr als ein Flüstern.
Adam schüttelte den Kopf. »Nein, das ist überhaupt nicht gut. Dieser Leichnam dürfte eigentlich gar nicht existieren. Ich habe immer wieder erlebt, dass der Dämon sämtliche Gefahren, selbst eine Feuersbrunst oder einen Aufprall aus enormer Höhe, überwindet, solange der Körper nicht vollständig aufgelöst worden ist. Was auch immer auf diesem Hinterhof passiert ist, widerspricht der ersten Regel, die für unsereins gilt: Was der Dämon einmal in Besitz genommen hat, gibt er niemals wieder freiwillig auf.«
»Aber Nia ist doch tot, oder etwa nicht?«
»Sie verwest bereits, wenn auch nur sehr langsam. Als wäre ihr mit dem Blut auch der Dämon genommen worden.« Je länger Adam darüber sprach, desto klarer wurde ihm, wie außergewöhnlich sein Fund war. Er musste noch einmal hineingehen und sich den Leichnam genau ansehen, nach irgendeinem Anhaltspunkt suchen. Seinen ganzen Mut zusammennehmend, sah er zu dem Verschlag hinüber, da drohte der Dämon bereits erneut aufzubrausen.
Nie wieder, setz mich diesem Anblick ja niemals wieder aus. Einen solchen Frevel ertrage ich nicht.
Mit einem gepeinigten Stöhnen schlug Adam die Augen nieder. Zumindest gelang es ihm schließlich, die widerspenstige Tür des Verschlags zu schließen. Zitternd, als hätte er eine ganze Felswand in Bewegung gesetzt, hielt er auf Esther zu, die ihm sogleich einen Arm um die Taille legte und so sein Schwanken milderte.
»Lass uns zusehen, dass wir irgendwie diesen verdammten Abhang hinaufkommen«, brachte er mit rauer Stimme hervor. »Dann fahre ich dich zu deinem Apartment, ehe ich Anders einen Besuch abstatte.«
»Ich werde dich begleiten, allein schon, damit Anders weiß, dass ich meiner Pflicht nachkomme. Wie sieht das denn aus, wenn du ohne mich in seinem Haus erscheinst? Als hätte ich mich so dumm angestellt, dass du mich gleich wieder loswerden wolltest.«
»Dann ruf ihn an und erstatte ihm Bericht, falls du dich dann besser fühlst.«
Esther zögerte. »Das wäre nicht richtig. Wie soll ich mich denn verhalten, wenn er mir Fragen darüber stellt, was wir gefunden haben? Wenn wir beide vor ihm stehen, wird er dir die Führung überlassen. Dann kannst du entscheiden, wie viel du ihm erzählen willst. Es wäre angesichts der Lage doch sicherlich nicht klug, ihm von Nia zu erzählen, bevor du mehr darüber herausgefunden hast, was ihr zugestoßen ist. Dieser Fund ist doch zu ungeheuerlich. Anders könnte falsche Rückschlüsse ziehen wegen Rischka …«
Der Blick, mit dem Adam sie bedachte, ließ sie verstummen.
»Du hast Recht: Ich erwarte von dir, dass du Stillschweigen bewahrst. Leg dir eine überzeugende Ausrede zurecht, wie wir den Vormittag verbracht haben.Aber erwähne mit keinem einzigen Wort den Hinweis, dem wir nachgegangen sind - oder gar unseren Fund. Er hat nichts mit demjenigen zu tun, nach dem wir suchen. Das ist mir jetzt klargeworden. Du bist doch ein kluges Mädchen, dir fällt schon was ein.«
Adam verwandelte sein Gesicht in eine ausdruckslose Maske. Denn was er gleich zu sagen gezwungen war, würde ihn mindestens genauso verletzen wie Esther. Nachdem der Dämon ihm jedoch vor Augen geführt hatte, dass er seine Nähe zu Esther nicht länger tolerieren würde, blieb ihm nichts anderes übrig. Vor allem nicht, da er wirklich etwas für die Frau an seiner Seite empfand.
»Ich werde mir jetzt allein mindestens eins der Blutopfer von deiner Liste genauer anschauen. Das hätte ich gleich tun sollen, anstatt diesen Umweg zu nehmen. Wer auch immer dem Dämon geopfert hat, wird seinen Muskatgeruch an der Leiche hinterlassen haben. Das heißt, eigentlich gehe ich davon aus, gar keinen Geruch zu finden.«
»Keinen Muskatgeruch?«, hakte Esther verwirrt nach. »Aber du sagtest doch, dass du den Dämon riechen kannst.«
Adam schüttelte lediglich den Kopf, um anzudeuten, dass er diesen Punkt nicht weiter verfolgen wollte. »Nachdem ich mich davon überzeugt habe, dass mein Verdacht stimmt, werde ich Anders den Namen desjenigen nennen, der hinter den Morden auf deiner Liste steckt.Was wir in diesem Verschlag gefunden haben, wird keiner von uns beiden jemals wieder erwähnen. Bevor ich Los Angeles mit dem nächsten Flug verlasse, werde ich noch einmal hierher zurückkehren und den Verschlag niederbrennen.«
Esther sah aus, als hätte er ihr mitten ins Gesicht geschlagen, und für einen Moment glaubte er, sie würde vor lauter Bestürzung zur Gegenwehr ansetzen und ihn mit den Fäusten attackieren. Doch im nächsten Moment hatte sie sich wieder gefangen, obwohl ihre Schläfen weiterhin aufgeregt pochten.
»Das kann unmöglich dein Ernst sein. Du willst einfach fortgehen?«
»Anders hat mich beauftragt, denjenigen zu finden, der publikumsträchtige Opferrituale durchführt. Deshalb bin ich in Los Angeles. Dieser obskure Leichnam, der vermutlich nichts mehr als eine weitere Perversion des Dämons ist, geht mich nichts an.«
»Was ist mit Anders’ Gabe, die du eigentlich auch noch in Anspruch nehmen wolltest - ist das auch mit einem Schlag egal?« Als Adam lediglich nickte, stieß sie ein verächtliches Schnauben aus. »Du willst davonlaufen, darum geht es doch. Aber wovor? Befürchtest du etwa, die nächste blutleere Leiche zu stellen? Na, dann ist es vermutlich besser, dich möglichst umgehend aus der Gefahrenzone Kalifornien zu bringen.Wenn ich mir ein paar flache Schuhe anziehe, kann ich an deiner Stelle mit einem Kanister Benzin und einem Feuerzeug zurückkehren. Quasi als meine letzte Amtshandlung als deine Leihdienerin, kein Problem.«
Esthers Spott und - noch schlimmer - der abschätzige Zug um ihren Mund trafen Adam unerwartet hart. Ehe er sich eines Besseren besann und sie einfach in diesem Glauben ließ, sagte er: »Ich laufe nicht davon, zumindest nicht vor diesem Geheimnis. Dass ich fortgehe, stand für mich schon fest, bevor wir den Abhang hinabgestiegen sind. Ich bin ein Risiko für dich, weil mein Dämon es nicht zulassen wird, dass ich meinen Gefühlen, die ich für dich hege, nachgebe.Vielleicht wäre ich imstande, ihm die Stirn zu bieten, wenn ich mich ihm die letzten Jahrzehnte nicht mit Haut und Haaren überlassen hätte. Aber so lauert er nur auf den richtigen Moment, um mir zu beweisen, dass ich nichts anderes als ein lästiger Gast in seinem Tempel bin. Er würde dich töten, um mich zu bestrafen.«
»Wenn dir daran liegt, kannst du dem Dämon gewiss die Stirn bieten«, unterbrach Esther ihn. Sie war vollkommen aufgewühlt, da er sie mit seinem Geständnis an die Wand gedrängt hatte. Nun war kein Platz mehr für vorsichtiges Herantasten. Als könne sie die Distanz zwischen ihnen nicht eine Sekunde länger ertragen, legte sie eine Hand um seinen Nacken, während die andere auf seiner Brust zum Ruhen kam.Augenblicklich vereinten sich ihr Puls und sein Herzschlag, eine Verbindung, die ihm fast seinen Verstand raubte.
Gegen seinen Willen sagte er: »Nein, das kann ich nicht. Das hat er mir bereits früher bewiesen, und er würde nicht zögern, es ein weiters Mal zu tun. Das hat er mir vor gut einer Stunde eindrücklich vor Augen geführt. Wenn ich bei dir bleibe, bin ich die größte Gefahr in deinem Leben.«
»Und wenn ich dir sagen würde, dass ich bereit bin, dieses Risiko einzugehen?«
Adam spürte, wie etwas in ihm zerbrach, als er sich seine Antwort zurechtlegte. »Dann würde ich dir sagen, dass ich es aber nicht bin.«
Mit einem Schlag wich sämtliche Farbe aus Esthers Gesicht, dann nahm sie langsam ihre Hände zurück. »Ich verstehe.« Sie sah ihn noch einmal an, dann hielt sie auf den Abhang zu. Ihre Verletztheit legte sich wie ein dunkler Schleier über ihn. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als ihn mit einigen Worten zu zerreißen, aber das erlaubte er sich nicht. Seine Entscheidung war gefallen.
 
Das konnte nicht sein. Unmöglich. Niemand war in der Lage, einen von ihnen zu rauben. Auslöschen, ja. Er hatte selbst erlebt, wie Adam seinesgleichen vernichtet hatte. Einige Male hatte er ihn sogar dazu aufgefordert. Nicht, dass es ihm leichtfiel, zu ertragen, wie ein Teil von ihm starb. Aber das war nichts im Vergleich zu dem Raub, dessen schreckliche Überreste er gerade erst gesehen hatte.
Aufgebracht hastete er durch seinen Tempel, unfähig, sich hinabsinken zu lassen und sein Lied anzustimmen.
Einer ging durch diese Stadt, der imstande war, die Tempel zu entweihen und sie zu rauben.Was sollte er nur dagegen tun?
Nachtglanz - Heitmann, T: Nachtglanz
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