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Willkommen im Raubtierkäfig
Im anbrechenden Morgenlicht glich der Pazifische Ozean einer grauen Unendlichkeit. Das Wellenspiel war kaum auszumachen. Dafür glühte Los Angeles im künstlichen Licht der Straßenlaternen, Autos und unzähligen Wohnhäuser. Stahl und Beton, viel Grau mit wenig Grün dazwischen. Eine sich breit über die sanft geschwungenen Hügel ausstreckende Stadt, voller Geraden und rechteckiger Winkel, an deren Horizont sich eine Bergkette abzeichnete.
Als die kleine Propellermaschine zur Landung ansetzte, gestand Adam sich ein, dass Los Angeles ihm durchaus gefallen könnte. Kalifornien vermutlich nicht - nach dem zu urteilen, was er über diesen sonnigen Landstrich gehört hatte. Meeresrauschen und Orangenbäume waren nicht nach seinem Geschmack. Er mochte Städte, je größer, desto besser. Sein Revier sollte nicht zu rasch an Grenzen stoßen.
Mit einem Rucken kamen die Räder der Maschine auf, eine gute Landung. Trotzdem verzog der wuchtige Geschäftsmann im Sitz gegenüber das Gesicht, als verspürte er einen Schmerz. Adam würde es nicht wundern, wenn der Mann später am Abend, wenn er in irgendeinem Motel eingecheckt hatte und zum ersten Mal seit Stunden zur Ruhe kam, feststellte, dass sein linker Arm taub war und ihm der Brustkorb zu eng wurde. Stress und Übergewicht, aber noch schlimmer war die Angst, die ihn während des Fluges gequält hatte. Adam glaubte seine Gedanken regelrecht lesen zu können, so einfach waren die Informationen zu deuten, die ihm seine Sinne über diesen Sitzpartner zusandten. Dieses Spiel beherrschte er mittlerweile meisterlich.
Ja, es muss die Angst vor dem Flug sein, hatte der Geschäftsmann sich einzureden versucht, obwohl die Maschine nicht in übermäßige Turbulenzen geraten war. Dabei waren es in Wirklichkeit uralte Instinkte, die auf eine viel unmittelbarere Gefahr als einen Absturz reagierten. Nur hatte der Verstand des Mannes sofort Protest eingelegt - so wie es den meisten erging, die sich in Adams Gegenwart befanden. Fast konnte Adam diese Gedanken schon mitsprechen. Welche Gefahr außer einem Absturz konnte schon bestehen?, fragte der Mann sich zweifelsohne. Dass die verflixte Stewardess zu viel Zucker in den Kaffee rührte, weil sie nur Augen für den Kerl hatte, der ihm gegenübersaß? Diesen Langweiler, der seinen Versuch einer Unterhaltung einfach ignoriert hatte und seit dem Start unablässig aus dem Fenster starrte, als gäbe es dort etwas Interessanteres als Wolken und - eine gefühlte Ewigkeit später - den nächtlichen Ozean zu sehen? Trotzdem hatte er den jungen Mann unentwegt anstarren müssen und war nervös zusammengezuckt, wenn dieser sich einmal geregt hatte.
Dass ein Mann in einem modisch eleganten Anzug, der sich weder für die angebotene Tageszeitung noch für Kaffee und schon gar nicht für die aufregende Figur der Stewardess interessierte, ihm den Angstschweiß auf die Stirn trieb, war doch einfach unmöglich, oder? Ganz gleich jedoch, wie sehr er diesen Instinkt infrage stellte, sein Herz raste, und es gelang ihm nicht einmal, ein Nickerchen zu halten, obwohl er todmüde war und sein erster Tag in Los Angeles ihm einiges abverlangen würde. Seine Nebenniere pumpte unbeeindruckt Adrenalin ins Blut, bis er völlig durchgeschwitzt war und sich mehr als je zuvor wie ein kleines Tier fühlte, das man in einem Raubtierkäfig seinem Schicksal überlassen hatte.
Dabei hatte Adam sein Bestes gegeben, den Mann nicht unnötig zu beunruhigen. Nicht etwa aus Mitleid.Von dieser Art Typ gab es unzählige in Städten und Vororten, auf einen mehr oder weniger kam es da kaum an.Außerdem dünstete der Mann etwas aus, das einige unangenehme Vorlieben verriet. Nicht, dass Adam sich daran störte. Im Laufe der Zeit hatte er einige perverse Zeitvertreibe der Menschen kennengelernt, und wenn es dabei nur um Latex ging, zählte diese Vorliebe sogar zu den harmloseren.
Trotzdem hätte er viel dafür gegeben, diesen schwitzenden Fleischberg mit einem Tritt aus der Maschine zu befördern. Dabei ging es ihm nicht nur um den Angstgestank, der den Dämon weckte. Auch seine Sinne beherrschte Adam mittlerweile so weit, dass er sie nach Wunsch ausblenden konnte und sie ihm deshalb nicht mehr über seinen Sitzpartner verrieten, als ihm lieb war. Was ihn ärgerte, waren seine auf den Plan gerufenen Jagdinstinkte. Sie wollten die leichte Beute stellen - vermutlich aus Langeweile und weil der Dämon sie anpeitschte, ohne dass er etwas dagegen ausrichten konnte.
Der Dicke fürchtet sich, er wittert das Raubtier, das ihn im Auge hat.Was würde wohl geschehen, wenn er plötzlich begriffe, dass er zu Recht Angst hat. Eine tödliche Angst.
Der Dämon wollte nichts von dem Latexfreund, aber er vertrieb sich die Zeit gern damit, Adam ein wenig zu quälen. Ein stetiger Beweis seiner Dominanz, die er auch nach all dieser langen Zeit nicht müde wurde zu demonstrieren. Vielleicht ließ sein Diener sich ja dazu herab, doch noch etwas Unangebrachtes zu tun, nur um das Prickeln in seinem Inneren endlich zu besänftigen.
Adam kannte dieses Spielchen und wusste aus leidlicher Erfahrung, dass in so einem Fall nur stures Ausharren half. In einer Propellermaschine, die gerade mal ein Dutzend Passagiere fasste und den größten Flughafen Kaliforniens ansteuerte, ließe sich ein Blutbad nur auf eine sehr radikale Weise verschleiern. Und er verspürte kein Verlangen, vom Feuer gezeichnet und zerschlagen aus Trümmern hervorzukriechen, damit der Dämon sich angemessen unterhalten fühlte.
Kaum ertönte der Aufruf, man könne die Maschine nun verlassen, sprang der Geschäftsmann auf und packte sich sogleich keuchend an die Brust. Aus rein anerzogener Höflichkeit nickte er Adam zum Abschied zu, dann schwankte er davon. Adam gewährte ihm einen Vorsprung und erhob sich erst, als ihm die dunkelhaarige Stewardess, die sich nur allzu gern fürsorglich um ihn gekümmert hätte, ein Lächeln zuwarf. Mit einem Griff hatte er seine Tasche aus der Ablage geangelt und war an ihr vorbei, ehe sie auch nur ein Wort an ihn richten konnte.
Ihre Haarfarbe war schön, ein weicher Glanz wie bei dunkler Schokolade. Mir gefallen solche Haare, ließ der Dämon ihn wissen.
Wie gewöhnlich ging Adam auf ein solches Geplänkel nicht ein.Wenn es dem Dämon ernst gewesen wäre, wäre er natürlich sofort umgekehrt, um die Dunkelhaarige anzusprechen. Aber so schwieg er und hielt sein Gesicht dem blassen Sonnenlicht hin, das durch den Winterhimmel brach. Nicht weit von ihm entfernt dröhnte Baulärm, wo mit Hochdruck an der Fertigstellung eines seltsam anmutenden Gebäudes gearbeitet wurde, das auf vier spinnenartigen Beinen stand und den Flughafen überragte.
Ein UFO, frisch gelandet im Jahre 1961, dachte Adam, während er die Flughafenhalle durchschritt, um ein Taxi zu suchen. Ja, die Stadt könnte mir gefallen.An welch anderem Ort würde man das Unwahrscheinliche nicht nur erwarten, sondern es sogar als gewöhnlichen Bestandteil des Alltags akzeptieren?
 
Ungeduldig ging Rischka in der Empfangshalle des Hotels Fin de siècle auf und ab. Die mit poliertem Mahagoniholz ausstaffierten Wände und die Samtvorhänge zerrten an ihren Nerven, um die es an diesem frühen Nachmittag nicht zum Besten bestellt war. Erneut zupfte sie am Kragen ihres Pelzmantels, dessen Leopardenmuster den Barkeeper fesselte, der um diese Uhrzeit noch nichts zu tun hatte. Ihr Mantel, die Nähte ihrer Strümpfe, die Höhe ihrer Absätze … Und sofort wanderte sein Blick ein weiteres Mal aufwärts. Normalerweise hätte Rischka nichts dagegen einzuwenden gehabt, das Unterhaltungsprogramm für einen Kerl zu geben - aber nicht heute, da ihr die Anspannung den Nacken hochkroch wie eine kalte Hand.
Mit extra laut klackernden Schritten hielt sie auf den Barkeeper zu, der bei jedem Klack sichtlich zusammenzuckte. Mit auf den Tresen aufgestützten Unterarmen beugte sie sich so weit vor, wie es ihr möglich war, und sagte: »Jetzt sieh noch einmal gründlich hin, und dann will ich deinen aufdringlichen Blick nie wieder auf mir spüren. Ansonsten werde ich dafür sorgen, dass du nacheinander deine Augäpfel runterschluckst. Glaub mir, Süßer, das ist keine leere Drohung, hohe Absätze sind zu einigem zu gebrauchen.«
Noch ehe der Barkeeper seine Fassung zurückgewinnen konnte, drehte Rischka sich um und verharrte plötzlich mitten in der Bewegung. Adam stand in der Bogentür, die in die Bar führte. Angelehnt, die Hände in den Hosentaschen vergraben und sichtlich amüsiert. Zwar lächelte er keineswegs, aber Rischka kannte ihn gut genug, um zu wissen, wann ihm etwas Vergnügen bereitete.
»Du hast deine Anschleichtechnik wirklich perfektioniert«, sagte sie anstelle einer Begrüßung.
»Ganz im Gegensatz zu dir. Die Maschinengewehrsalven deiner Absätze haben fast das Hotel zum Einsturz gebracht.«
»Warum musstest du dich auch unbedingt in einem solch heruntergekommenen Schuppen einquartieren?«
Adam machte ein betrübtes Gesicht. »Und dabei dachte ich, du hast eine empfängliche Ader für Sentimentalität. Samtvorhänge und Holzvertäfelung … wie bei unserem ersten Treffen.«
Bevor Rischka sich zu einer Antwort hinreißen ließ, musterte sie ihn eingehend. Er machte sich über sie lustig, zweifelsohne. Adam gab keinen Deut auf die Vergangenheit, genau wie sie. Vielmehr noch war Zeit etwas, das für ihn nicht zu existieren schien. Zwar passte er sich wohl oder übel den gängigen Moden an, aber der Zeitgeist vermochte ihn nicht zu berühren. Er war immer Adam. Seit er in jenem über sieben Jahrzehnte zurückliegenden Morgengrauen seine Vergangenheit verloren hatte, hatte er auch keine neue hinzugewonnen. Wie der Dämon, der ihn beherrschte, lebte er vollkommen in der Gegenwart, nichts hinterließ Spuren. Zumindest nicht, seit er sich entschlossen hatte, den Widerstand gegen den Dämon aufzugeben. Nur die drei Tage in Paris hatten sich eingebrannt, auch wenn Adam alles dafür tat, es zu verbergen. Nicht nur vor anderen, sondern auch vor sich selbst.
»Du hättest gleich anrufen sollen, als du am LAX gelandet bist. Dann hätte ich dir verraten, dass die Goldenen Fünfziger leider gerade vorbei sind. Kein Mensch wohnt heutzutage mehr in West Hollywood, nur Einheimische und schreckliche Touristen, die die Bars und Nachtclubs bevölkern, als handele es sich um einen Jahrmarkt.«
Adam zuckte gleichgültig mit der Schulter. »Das Hotel mag seine beste Zeit hinter sich haben, aber mir gefällt diese leicht heruntergekommene Atmosphäre. Das ganze Viertel strahlt so einen Charme des Ausgedienten aus. Würde mich trotzdem nicht überraschen, wenn hier deutlich mehr Leben herrscht als in den Hügeln, in die du dich zurückgezogen hast. Aber in deinem Geschäft ist es sicherlich klüger, die Leute zu sich kommen zu lassen, anstatt ihnen auf der Straße zu begegnen. Dann kann man höhere Preise verlangen.«
Rischka machte eine wegwerfende Handbewegung. »Nach wie vor ein Mistkerl. Manche Dinge ändern sich eben nie.«
Sie setzten sich in eine Nische der verwaisten Bar, wo sie vom Barkeeper ignoriert wurden, der mit einem verbissenen Gesichtsausdruck Gläser polierte. Das rote Leder der Sitzbank wies Brandstellen auf, und Rischka kitzelte Staub in der Nase, während Adam seine langen Beine wenig gentlemanlike ausstreckte. Ein Zeichen, dass er sich wohlfühlte, also ließ sie es ihm durchgehen. Betont langsam zog sie einen Handschuh aus und strich durch sein schweres Haar, woraufhin er ihr einen Blick aus den Augenwinkeln zuwarf und die Beine anzog.
»Kannst du immer noch keine Berührungen ertragen?«
Mit einer Drehung des Kopfes brachte Adam sie dazu, die Hand zurückzuziehen, obwohl sie das eigentlich nicht wollte. »Ich habe kein Problem mit Berührungen. Ich will nur nicht mehr - und du weißt, woran das liegt.«
»Der Geruch des Dämons, er widert dich an. Was bin ich froh, dass meine Nase nicht in der Lage ist, diesen angeblich so abstoßenden Muskatduft wahrzunehmen.«Vordergründig klang Rischka mitfühlend, aber Adam entging ihr unzufriedener Unterton keineswegs.
»Du bist die aufregendste Frau, die mir je begegnet ist«, versicherte er sogleich und nahm ihre Hand. Jene Hand, die noch mit einem Handschuh versehen war, so dass das dünne Leder eine Barriere bildete.
Rischkas Lippen verwandelten sich in einen schmalen Strich. Dieses Geständnis hatte er ihr im Laufe der Jahre, in denen sie sich immer wieder begegnet waren, stets aufs Neue gemacht. Er meinte es tatsächlich ernst. Aber sie bemerkte auch, wie lustlos er es sagte, und genau das quälte sie. Alles an ihm lockte sie, sie wollte ihn zu ihrem Eigentum machen. Und obwohl Adam, seit er sich dem Dämon verschrieben hatte, ansonsten alles zu tun bereit war, was sie wünschte, war ihr diese eine Sache verwehrt geblieben. Mittlerweile sollte sie vermutlich darüber hinweg sein, ihn nicht verführen zu können, aber es fühlte sich nichtsdestotrotz wie ein Stachel in ihrem Fleisch an.
Jetzt sorgte der Stachel dafür, dass sie Adam unbedingt eine Gemeinheit an den Kopf werfen musste, um die Qual zu lindern: »Du bist der Erste, von dem ich gehört habe, dass der Beherrscher ihn zum Eunuchen gemacht hat. Eine wahre Verschwendung.«
Während die Wärme in seinen Augen deutlich abkühlte, hoben sich seine Lippen zu einem Lächeln. »Sei doch froh, Rischka. Denn selbst wenn mich der Geruch des Dämons nicht abstoßen würde, hielte ich mich von dir fern. Ansonsten wäre es schließlich, als würde ich das Bett mit meiner Mutter teilen.«
»Du bist widerlich«, zischte Rischka ihn an, fing sich jedoch sofort wieder. »Ich könnte dich zwingen, indem ich deinen Beherrscher verführe. Du weißt, dass er nur darauf wartet, seitdem ich ihn einmal auf meine ganz spezielle Art berührt habe.«
Das Lächeln auf Adams Gesicht ließ keinen Deut nach. »Wenn du das tun würdest, müsste ich dich leider umbringen. Denn ich mag dich zwar lieben wie eine Mutter, aber es ist mir bislang noch nie gelungen, in Extremsituationen gegen meine Instinkte zu handeln. Du weißt ja, wie rachsüchtig ich bin. Dann könnte dich nicht einmal Lakas retten. Wo treibt sich dein Schatten überhaupt herum?«
»Oh, Lakas …« Rischka zog die Schultern hoch, obwohl sie damit verriet, wie unangenehm ihr das Thema war. »Nun ja, wie soll ich es sagen … Er ist nicht da.«
Verblüfft zog Adam die Augenbrauen nach oben. »Das ist neu. Ich hätte darauf getippt, dass es ihm unmöglich ist, sich weiter als drei Schritte von dir zu entfernen, weil ansonsten die Nabelschnur reißt.«
»Nun übertreib doch nicht gleich so maßlos. Lakas und ich sind zwar eine lange Strecke des Weges gemeinsam gegangen, aber das bedeutet doch nicht, dass wir einander jemals verbunden waren.« Verstohlen blickte Rischka zur Bar hinüber. Zu gern hätte sie sich anstelle eines Drinks jetzt das Blut des Barkeepers genehmigt, um den inneren Druck wegzuspülen, den dieses Thema bei ihr auslöste. Stattdessen begnügte sie sich mit einem Seufzen. »Als ich vor einigen Monaten hierhergekommen bin, hat Lakas mich begleitet. Im Gegensatz zu ihm habe ich in dieser Stadt allerdings ein Zuhause gefunden, während er weitergezogen ist.«
»Kann es sein, dass du einen wesentlichen Teil der Geschichte aussparst?«, hakte Adam grinsend nach. Zweifelsohne gefiel es ihm ausgesprochen gut, zu erfahren, dass sich Lakas nicht in derselben Stadt aufhielt wie er. Die alte Feindschaft zwischen ihnen war auch nach der langen Zeit nicht eingeschlafen, sondern hatte sich vielmehr verschärft.
»Aussparen klingt bei dir wie lügen. Als ob ich das nötig hätte. Es ist nur so, dass ich einen Gefährten gefunden habe …«
Adam stieß pfeifend die Luft zwischen den Zähnen aus, was ihm einen strafenden Blick von Rischka einbrachte.
»Er ist ein echter Freigeist, der mir den Raum zugesteht, den ich brauche. Und spar dir gefälligst jeden dummen Kommentar darüber, wie dieser Raum wohl aussehen mag.«
»Hatte ich gar nicht vor.«
Rischkas Miene machte deutlich, dass sie ihm nicht im Geringsten glaubte. »Jedenfalls konnte Lakas sich mit der neuen Situation nicht arrangieren und hat sich dazu entschieden, es auf eigene Faust zu versuchen. Eigentlich hatte ich erwartet, dass er schnurstracks zu mir zurückkehrt, sobald er einmal festgestellt hat, welche Vorteile unser Bündnis birgt. Leider habe ich bislang nichts mehr von ihm gehört und mache mir mittlerweile doch so meine Gedanken, wie es ihm geht. Darum hatte ich dich gebeten, seine Schwester aus Kambodscha mitzubringen. Das hätte es mir um einiges leichter gemacht, ihn zurückzulocken. Warum bist du meinem Wunsch nicht nachgekommen?«
»Zum einen, weil sich Truss nichts sagen lässt. Diese Erfahrung hast du doch selbst schon ausreichend machen können.« Gemächlich streckte Adam wieder die Beine unter dem Tisch aus und spielte gedankenverloren mit Rischkas Hand. »Und zum anderen, weil es ihr dort inmitten von Tod und Verderben ausgesprochen gut gefällt. Es wird sicherlich noch eine ganze Weile dauern, bis ein anderes Schlachtfeld Truss aus dem Urwald lockt.«
»Ihr Bruder vermisst sie.«
Adam stieß einen verächtlichen Laut aus. »Weil er nur ein schwaches Abbild von ihr ist. Ansonsten würde er jetzt wohl kaum schmollend in einer Ecke sitzen und darauf warten, dass du ihn heimlockst. Er würde schlicht und ergreifend seinen eigenen Weg gehen. So, wie Truss es macht. Sie lebt die Mördergrube ihres Herzens wenigstens auf eigene Rechnung aus.«
»Lakas glaubt, dass du ihm seine Schwester gestohlen hast.«
»Das verrät nur, wie wenig er überhaupt von uns und unseren Gaben versteht.Truss und ich haben uns so lange gemeinsam herumgetrieben, bis der Dämon es leid war.Wir brauchen einander nicht, um zu jagen und zu töten.«
»Es macht euch gemeinsam nur mehr Spaß.« Noch während sie den Satz aussprach, wusste Rischka, dass sie einen Fehler begangen hatte. Adam mochte dem Beherrscher opfern und sich voll und ganz seinem Willen zur Verfügung stellen, aber er verspürte keinerlei Vergnügen an seinen Taten. Nichts und niemand schien ihm diesen Widerwillen austreiben zu können. Seine Achillesferse - und man tat gut daran, sie nicht zu berühren. Hastig wandte sie sich einem anderen Thema zu. »Es gibt übrigens Neuigkeiten von Etienne. Ich weiß, du schreibst ihm höchstens mal einige Zeilen und meidest ansonsten aufs Peinlichste seine Nähe.Vielleicht möchtest du sie ja trotzdem hören.«
Als Etiennes Name fiel, wurde Adams Gesicht blank - wie immer, wenn er seine Gefühle besonders sorgfältig verstecken wollte -, und er nickte steif.
»Etienne hat einen jungen Mann namens Adalbert wie eine Art Ziehsohn bei sich aufgenommen. Ein höflicher und ausgesprochen anpassungsfähiger Bursche - auch wenn Etienne bestimmt behaupten würde, dass er nicht anpassungsfähig, sondern vielmehr neugierig sei und sich deshalb wie ein guter Forscher ins Milieu einzufügen versteht.« Mit einem Spitzen der Lippen deutete Rischka an, was sie von dieser Art zu denken hielt: nicht viel. »Wie auch immer, ich habe selten einen Menschen getroffen, an dem der Dämon weniger Interesse gezeigt hätte als an diesem Adalbert, wenn du verstehst, was ich meine.« Rischka schüttelte den Kopf, als sähe sie es geradezu als eine Frechheit an, wenn der Körper eines Menschen nicht als Gefäß für den Beherrscher taugte. Dabei war dies der entscheidende Nenner, der die Dienerschaft vereinte. »Vermutlich müsste man ihn einen Diener nennen - und Adalbert bezeichnet sich selbst auch so. Aber du kennst ja Etienne: Diener sind etwas, das sich Beherrscher halten, aber keineswegs Menschenfreunde. Er hat Adalbert alles über unseren Beherrscher erzählt, bevor er ihn zu uns geschickt hat. Man könnte geradezu sagen, dass die beiden ein gemeinsames Hobby betreiben: Dämonenforschung. Und zwar mit Leidenschaft.«
»Wirklich ein hübsches Hobby. Und warum hat sich dieses Traumteam aufgespalten?«
»Etienne hat wohl gerade eine Lehrtätigkeit an einer Universität angenommen, von der ich nicht einmal genau weiß, wo sie auf der Landkarte zu finden ist. Irgendwo in Osteuropa … Jedenfalls war es ihm trotz der hochinteressanten Gerüchte, die Los Angeles umwehen, unmöglich, höchstpersönlich Feldforschung zu betreiben. Darum müssen wir mit seinem Diener vorliebnehmen. Etiennes Studium der Menschen hat eben Vorrang, das steht bei ihm nach wie vor über allem. Eine Schande.«
»Dann hat Etienne seinen Traum von der Menschlichkeit, die neben dem Dämon existieren kann, also immer noch nicht aufgegeben.« Ein Schmunzeln schlich sich auf Adams Gesicht. »Ganz schön zäh, der alte Bursche. Nach all den Rückschlägen sollte eigentlich selbst ein Idealist wie er aufgegeben haben. Und, willst du mir vielleicht verraten, welch spannendes Gerücht dieser Adalbert hier im Auftrag seines Meisters auf Echtheit überprüfen soll?«
»Es wundert mich, ehrlich gesagt, dass du der Angelegenheit noch nicht selbst auf die Schliche gekommen bist. Verblassen deine Jagdinstinkte etwa, oder sind sie seit Kambodscha einfach nur verwöhnt und reagieren ausschließlich auf allerfeinste Spuren?«
Rischka freute sich inständig darüber, als sie Adam mit diesem Seitenhieb ein Lachen entlockte. Noch mehr freute sie sich allerdings darüber, dass er weiterhin mit ihren Fingern spielte, sehr gefühlvoll, genau wie sie es mochte, zumindest zu Anfang.
»Du musst wissen, das Gerücht ist wirklich spektakulär und hat schon so manchen von unserer Sorte angelockt. Ich kann dir allerdings aus erster Hand verraten, dass es sich keineswegs nur um ein Gerücht handelt.«
Erwartungsvoll hielt Rischka inne, doch Adam tat ihr nicht den Gefallen, nachzufragen. So schwer zu fassen wie eh und je, gestand sie sich ein. Dass sie seine Unnahbarkeit anlockte, über Gebühr herausforderte, verdrängte sie hingegen schleunigst. Sie war es, die hier den Kurs angeben wollte, und er nahm ohnehin schon mehr Einfluss auf das Gespräch, als ihr lieb war. Nichts, was Adam betraf, war jemals einfach. Immer war es ein Kampf, ein Zerren und Ziehen … Und genau das machte ihn so unwiderstehlich.
Als er den Kopf zur Seite neigte, befürchtete Rischka tatsächlich für einen Augenblick, er könnte ihre Gedanken lesen. Hastig wandte sie sich einem unverfänglichen Thema zu.
»Jedenfalls hat Etienne seinen Adalbert losgeschickt, damit er etwas Bestimmtes für ihn in Erfahrung bringt. Ich habe dich zwar aus einem anderen Grund hierhergebeten, aber auch Etiennes Anliegen dürfte für dich von Interesse sein. Es ist sozusagen der Bonus bei unserem Geschäft.«
»Ach, sieh an.Wenn das mal kein Zufall ist.«
Adam lehnte sich in das Polster zurück und strich sich das Haar aus der Stirn, das für die gegenwärtige Mode eine Spur zu lang war.Vermutlich hatte er noch keine Gelegenheit gefunden, diese Nachlässigkeit in Ordnung zu bringen. Denn auch wenn ihm die Länge stand, so fiel er damit nur unnötig auf. Rischka würde einen Termin beim Barbier ausmachen müssen, denn von ihr ließ er sich die Haare ganz gewiss nicht schneiden. Leider.
»Und, willst du mich jetzt endlich in das große Geheimnis einweihen, warum du mich hierherbestellt hast, oder gefällt es dir, meine Geduld weiterhin auf die Probe zu stellen?«
Rischka lachte, woraufhin der Blick des Barkeepers sekundenlang an ihren vollen Lippen hing - bevor er kreidebleich wurde und sich wieder dem Polieren der Gläser widmete, als ginge es dabei um sein Leben.Was es zweifelsohne auch tat.
»Ich denke, ich quäle dich noch ein bisschen, da sich mir schon einmal die Chance dazu bietet. Wer weiß, wann die nächste Gelegenheit dazu besteht.« Adams Augen verengten sich zu prüfenden Schlitzen, eine ihr so vertraute Reaktion, dass sie erneut lachen musste. »Sag bloß, dein Raubtierinstinkt verrät dir nicht, dass ich mich auf keinen Fall von dir in die Ecke drängen und mir das Geheimnis gegen meinen Willen rauben lasse. Da solltest du mich eigentlich besser kennen.«
Adams Züge wurden weich, und plötzlich haftete ihnen etwas ausgesprochen Einnehmendes an, während er eine von ihren Locken um seinen Finger wickelte, um sie dann langsam zurückgleiten zu lassen.
»Vielleicht kommt es ja bloß darauf an, wie weit ich zu gehen bereit wäre, um es dir zu entlocken.«
Rischka wich zurück, unentschieden, ob sie ihm eine Ohrfeige geben oder sich vielmehr an seine Brust schmiegen sollte. Sein Selbstvertrauen in seine Fähigkeiten war ungefähr genauso groß wie sein Widerwille gegen den Geruch des Dämons. Sie wusste nicht, was sie mehr in Rage versetzte. Mit einer undamenhaften Eile stand sie auf und holte eine elfenbeinfarbene Visitenkarte aus ihrer Handtasche hervor, auf der nicht mehr als ein Straßenname und ein feiner Kreis geprägt waren.
»Heute am frühen Abend treffen wir uns bei dieser Adresse. Du würdest gut daran tun, dich ein wenig zurückzuhalten. Nicht jeder ist so nachsichtig wie ich.«
Während Adam die Visitenkarte studierte, wobei ihn besonders der Kreis zu fesseln schien, drehte Rischka sich um und verließ das Hotel, das sie mit seinem Alter zu erdrücken drohte. Erinnerungen waren etwas, das sie nicht im Geringsten zu schätzen wusste.
Nachtglanz - Heitmann, T: Nachtglanz
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