Epilog
Die Nächte brachen bereits merklich früher an, und dem Regen wohnte eine würzige Nuance inne, ansonsten verriet nichts den angebrochenen Herbst. Selbst an diesem späten Abend, an dem das Wasser noch in Pfützen stand, hörte man von überall her das Summen der Klimaanlagen.
Der Mann, der gerade die Eingangstür hinter sich angelehnt hatte, trat unter demVerandadach vor und spähte nachdenklich in den Himmel. Die Wolkendecke riss auf, und einige Sterne waren zu erkennen. Doch selbst hier am Rand von L.A., wo die sorgsam gepflegten Häuser derjenigen standen, die den Stadtrummel nicht länger ertrugen, sorgte die künstliche Lichterflut dafür, dass die Sterne bestenfalls blasse Punkte am Firmament waren.Anders als in seiner Jugend auf einer der Obstplantagen, da hatte man nachts die Hand nicht vor Augen sehen können.
In Gedanken versunken, nahm er das Mundstück seiner Pfeife zwischen die Zähne und riss ein Streichholz an. Schwefelgeruch stieg ihm in die Nase. Und unwillkürlich fragte er sich, warum man diesen Geruch eigentlich immer mit dem Teufel in Verbindung brachte. Dabei hatten die Teufel, die er kennengelernt hatte, ganz anders gerochen: nach Muskat. Ganz fein, kaum wahrnehmbar. Ehe er sich’s versah, zog er die Nachtluft ein in der Hoffnung, nichts anderes als nassen Rasen und den Kirschholzduft seines Tabaks aufzuschnappen. Stattdessen war da jener würzige, fast scharfe Muskatduft, bei dem ihm jedes Mal ein Schauer über den Rücken lief.
Wie oft hatte er abends in den letzten Monaten auf dieser Veranda gestanden und in die Dunkelheit gestarrt, während ihm seine Sinne vorgaukelten, dass sich dort draußen etwas verbarg, das nach Muskat roch? Nie hatte sich etwas geregt, es hatte keinerlei Anzeichen gegeben, dass jemand sich hinter den alten Bäumen, deretwegen sie dieses Grundstück ausgewählt hatten, verbarg.
Nachdenklich stieß er den Rauch aus, der wie ein grauer Schleier vom Wind mitgerissen wurde. Dann bemerkte er eine Gestalt aus den Augenwinkeln. Sie stand tatsächlich zwischen den mächtigen Ahornstämmen, die Hände in den Hosentaschen, in aller Ruhe abwartend.
Obwohl sein Instinkt ihm riet, augenblicklich ins Haus zurückzukehren und nach seiner Waffe zu suchen, klopfte er den Pfeifenkopf im Aschenbecher aus, der auf dem Verandageländer für seine abendliche Stunde bereitstand. Dann schlenderte er zu den Bäumen hinüber, wohl wissend, dass er der dort wartenden Gestalt weder etwas vormachen noch ihr im Ernstfall etwas entgegensetzen konnte.
»Guten Abend, Hayden«, sagte Adam, dessen außergewöhnliche Gesichtszüge selbst im Halbdunkel zu erkennen waren.
Es wäre leicht für Hayden gewesen, sich einzureden, dass Esther vor allem der Schönheit dieses Mannes verfallen gewesen war, aber er zog es vor, sich nicht selbst zu belügen. »Eine herrliche Nacht, nicht wahr? Großartig für einen Spaziergang.«
Adam nickte, warf jedoch einen sehnsüchtigen Blick auf das Haus, in dessen oberer Etage ein Fenster erleuchtet war.
Während sie über den breiten Gehweg wanderten, schossen Hayden tausend Fragen durch den Kopf, doch keine fand ihren Weg über seine Lippen. Alle kreisten sie darum, was dieser Mann eigentlich wollte, der schweigend neben ihm herging.
»Ich bin heute Nacht nicht hergekommen, um dich zu beunruhigen«, unterbrach Adam die Stille.
»Es beunruhigt mich aber zu wissen, dass du jede Nacht draußen vor unserem Haus stehst. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Esther einen Verdacht hegt und anfängt, selbst nach dir Ausschau zu halten. Oder ist es vielleicht genau das, was du mit deinen Besuchen bezwecken willst?«
Adam schüttelte den Kopf. Dabei bemerkte Hayden den gequälten Zug in seinem Gesicht. »Du irrst dich. Ich bin heute das erste und letzte Mal hier, und zwar nicht, um Esther unter die Augen zu treten, sondern um meine damalige Entscheidung noch einmal zu bekräftigen. Damit dir klar ist, dass ich nie wieder vor sie treten werde. Du brauchst also keine Wache im Garten zu schieben oder dir Sorgen zu machen, dass mir plötzlich der Gedanke kommen könnte, sie zurückzuerobern.«
»Glaubst du denn, nach alldem, was auf der Lichtung geschehen ist, hättest du überhaupt noch eine Chance bei ihr? Du hast dich abgewandt. Du hast dich gegen eine gemeinsame Zukunft mir ihr entschieden. Esther ist eine stolze Frau.«
»Das ist sie«, erwiderte Adam ruhig. »Und vor allem hat sie ein friedliches Leben verdient, ein Leben, das du ihr - im Gegensatz zu mir - bieten kannst.An dieser Überzeugung hat sich bei mir nichts geändert und wird es auch nicht mehr. Ich will, dass Esther zufrieden ist, dass eine gute Zukunft vor ihr liegt, nachdem die Vergangenheit voller Fallen und Verletzungen gewesen ist.« Adam verstummte, als würde ihm schmerzlich bewusst werden, dass auch er ein Teil dieser Vergangenheit war. »Ich wollte aus zwei Gründen mit dir sprechen, bevor ich morgen früh Kalifornien verlasse. Zum einen wollte ich mich vergewissern, ob ihr Anders’ Herz auch wirklich an einem sicheren Ort verborgen habt.«
Hayden wog kurz ab, wie viel er Adam verraten konnte. Nachdem Esther ihn eingeweiht hatte, wozu Anders’ Gabe gediehen war, hatten sie lange darüber nachgedacht, wo sie das unvermindert schlagende Herz verstecken sollten, ohne dass es jemals wieder auffindbar sein würde. Sie hatten einen Ort gefunden, verbunden mit ihrer Hochzeitsreise nach Irland. Es war in vielerlei Hinsicht eine bedeutende Reise gewesen, die sie einander nähergebracht, aber vor allem Esther mit ihrer schmerzlichen Geschichte hatte abschließen lassen … sofern so etwas überhaupt möglich war.
»Du brauchst dir wegen des Herzens keine Sorgen zu machen, es wird nie wieder in Anders’ Brust schlagen.«
»Gut.«
Zu Haydens Erleichterung machte Adam keinerlei Anstalten, nachzufragen. Er hätte ihm nämlich unter keinen Umständen den Ort verraten, denn Esther hatte es allzu gut verstanden, ihm vor Augen zu führen, was ein wiedervereinter Dämon für die Menschheit bedeuten konnte.
»Auch ich habe die letzten Monate dazu genutzt, die zerschlagenen Teile, die von Anders übrig geblieben sind, in alle Himmelsrichtungen zu verteilen.« Adam fuhr sich mit der Hand durch die Haare, die für Haydens Geschmack eindeutig zu lang waren. »Zum anderen wollte ich dir versichern, dass Esther und du mich nie wieder zu sehen bekommen werdet. Und auch sonst keinen von unseresgleichen. Ihr seid also in Sicherheit.«
Hayden lag ein »Danke« auf der Zunge, aber er brachte es nicht heraus.
Vermutlich hätte Adam es ohnehin nicht gehört, denn sein Blick war bereits auf seinen grauen Wagen gerichtet, der ein Stück abseits des Hauses geparkt stand. Er holte den Schlüssel aus der Hosentasche hervor und spielte damit. Seine Augen huschten erneut zu dem Haus hinüber, das halb von den Ahornkronen bedeckt dalag.
»Hast du verstanden, was ich gesagt habe, Hayden? Es gibt keinen Grund für dich, länger hier draußen herumzustehen. Geh zu Esther und bleib dort.«
Ein gereizter Unterton hatte sich in Adams Stimme geschlichen, bei dem sich Haydens Brustkorb augenblicklich verengte. Er machte auf der Stelle kehrt und ging mit langen Schritten auf das Haus zu, dessen Licht in der oberen Etage immer noch einladend leuchtete.
 
Es war Adam fast unmöglich, den Blick von dem erleuchteten Fenster loszureißen. Es war ein lockendes Versprechen, dem er niemals nachgeben durfte. Obwohl Hayden längst verschwunden war, lag immer noch seine Spur auf der nächtlichen Straße und mit ihr ein Duft nach Apfelblüten.
Esther hatte ein zufriedenes Leben verdient, hatte er zu Hayden gesagt. Das war vielleicht nicht das, was sie sich wünschte, aber auf jeden Fall das, was sie brauchte. Doch ganz gleich, wie oft Adam diese Losung auch hervorbrachte, es gelang ihr nicht, ihn zu besänftigen.Wenn er sich nicht unentwegt kontrollierte, lief er sofort Gefahr, alle Vernunft über Bord zu werfen und Esther um eine weitere Chance zu bitten.
Wenn du dich ihr in Ruhe erklären möchtest … Mein altes Angebot steht noch: Haydens Blut gegen eine kleine Auszeit. Oder traust du dir etwa selbst nicht über den Weg, wenn ich nicht mit von der Partie bin?
Wie immer in den letzten Monaten schaltete sich der Dämon genau zum richtigen Zeitpunkt ein und löschte den Hoffnungsfunken, der nicht aufhören wollte zu glimmen.Auch dieses Mal schob Adam den Gedanken an Esther weit von sich und konzentrierte sich stattdessen darauf, seinen Plan zu Ende zu bringen.
Den Schlüsselbund in seiner Hand auf und ab tanzen lassend, stieg er in seinen Wagen ein. Kaum hatte er die Tür geschlossen, überwältigte ihn fast der aufdringliche Muskatduft.
»Du wirst in Zukunft vorsichtiger sein müssen, meine Gute. Hayden hat bemerkt, dass du vor seiner HaustürWache schiebst.«
Rischka sank tiefer in den Beifahrersitz. »Wunderbar. Und wie soll ich das anstellen, mich vielleicht in der Kanalisation verstecken?«
»Das ist mir gleich. Hauptsache, du machst es richtig.«
»Wenn ich deinen Wunsch erfülle, werde ich ja zweifelsohne noch ausreichend Gelegenheit dazu bekommen, meine Beschützerdienste zu perfektionieren. Wie viele Jahre hat eine junge Frau wie Esther wohl noch zu leben?« Der Ausdruck auf Adams Gesicht brachte Rischka sofort zum Verstummen.Allerdings nur für einen Moment, denn das hier war ihre letzte Chance, seine Bedingungen wenigstens ein klein wenig zu lockern. »Findest du nicht, dass du mir zu viel abverlangst?
»Ich verlange weder zu viel, noch erfüllst du mir einen Wunsch, Rischka. Du begleichst schlicht und ergreifend deine Schulden bei mir.Wenn du mich fragst, kommst du dabei sogar billig davon.«
Wütend grub Rischka ihre Fingernägel in die Lederpolster. Zumindest erlangte sie dadurch einen Hauch von Genugtuung. »Morgen früh gehen du und dein geliebter Jaguar also an Bord eines Schiffes und ihr lasst den Kontinent hinter euch?«
Adam nickte lediglich stumm. Gelegentlich sah es so aus, als würde er der Versuchung nachgeben und zum Haus hinüberblicken, doch er beherrschte sich.
»Etienne wird sich freuen, dich nach all den Jahren endlich wieder bei sich zu haben. Da Adalbert ihm doch endgültig verlorengegangen ist, dieser kleine Mistkerl. Du hättest Etiennes Bitte in den Wind schlagen und Adalbert jagen sollen, so wie er es verdient hat. Dieser Hang zur Menschenliebe ist einfach nur lächerlich.«
»Wie du meinst.«
Adam ist so schwer zu fassen zu bekommen wie ein Fisch im Wasser, gestand Rischka sich ein. Selbst, als er sich damals in Paris entschieden hatte, sich dem Willen des Dämons zu überlassen, war er nicht derartig kühl und unnahbar gewesen. Fast schien es, als wäre die Maske, die er früher aufgesetzt hatte, um seine Gefühle zu verstecken, zu seiner wahren Natur geworden. Nur beim Anblick des Fensters, in dem sich flüchtig Esthers Silhouette abzeichnete, kam der alte Adam hervor.Wenn es ihr nur ebenfalls gelingen würde, ihn zu erreichen, dachte Rischka sehnsüchtig.
»Bis Etienne, du und ich wieder einmal zu dritt beisammensitzen, wird es ja leider fast ein ganzes Menschenleben dauern. Dank meiner neuen wundervollen Aufgabe.«
»Selbstmitleid steht dir nicht gut zu Gesicht, wenn du mich fragst.«
»Meinst du, dein verzweifelter Ausdruck, der etwas von einem geprügelten Hund hat, stünde mir besser?«
Adam legte seinen Kopf zur Seite, bis die Wirbel knackten, dann startete er den Motor.
»Wollen wir wirklich so auseinandergehen?« Zärtlich streichelte Rischka über die Linie seines Nackens.
»Ehrlich gesagt, möchte ich dich nicht auf dem Rücksitz haben, nachdem du mir schon den Beifahrersitz zerkratzt hast. Aber ich fühle mich geschmeichelt, dass du mir trotz allem, was geschehen ist, eine derartige Verabschiedung zukommen lassen würdest.«
Wie Rasierklingen grub Rischka ihre Fingernägel in sein Fleisch, obwohl ihr die Wirkung ohne Adalberts Gift nicht die gleiche Befriedigung verschaffte. Doch Adam schmunzelte nur eine Spur verächtlich, als wisse er sie trotz ihrer Abgründe zu schätzen.
»Viel Spaß beim Menschsein-Spielen mit Etienne«, fauchte sie ihn unversöhnlich an. »Ihr werdet sicherlich eine großartige Zeit dabei haben, euch mit der osteuropäischen Sprache abzuplagen und so zu tun, als wäre der Rotwein in euren Gläsern Blut, wenn euch eure wahre Natur einmal zu übermannen droht. Aber die menschliche Seite zum Vorschein zu bringen, ist den Aufwand sicherlich wert.«
»Danke, Rischka«, sagte Adam. »Spaß können wir wohl beide die nächsten Jahre gebrauchen.« Er blinzelte ihr noch einmal zu, ehe sie wutschnaubend die Tür zuschlug. Dann lenkte er den Wagen in Richtung Hafen. Nicht mehr lange, dann würde das erste Rot den Morgen ankündigen, aber noch glänzten die nächtlichen Straßen vom Regen.
Nachtglanz - Heitmann, T: Nachtglanz
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