8
Unerreichbare Ziele
»Bist du dir sicher, dass ich dich nicht wenigstens hineinbegleiten soll?«, fragte Hayden, der den Wagen vor dem Hotel Fin de siècle zum Halten gebracht hatte und dafür bereits ungeduldige Blicke des Portiers einfing.
»Nein, das brauchst du nicht.«
Seit sie das Restaurant verlassen hatten, nahm Esthers Unruhe stetig zu. Dabei würde sie nichts anderes tun, als Anders’ Auftrag auszuführen. Ein paar Worte und Erklärungen, das war alles.Auch wenn die Erinnerung an diesen unberechenbaren Adam sie nervös stimmte, war ihr durchaus klar, dass er sich keinen Deut für sie interessierte. Dämonen machten sich nicht viel aus Menschen, solange sie nicht als Opfer bestimmt waren. Und aus Dienern anderer Herrn machten sie sich in der Regel noch weniger.
»Es ist mir ein Rätsel, wie Anders mit jemandem Geschäfte machen kann, der freiwillig in einem solchen Haus absteigt. Sieht trotz des Pomps recht heruntergekommen aus, da hilft auch kein roter Teppich«, setzte Hayden nach.
Esther hatte Hayden über Anders kennengelernt, der die Anwaltskanzlei in Anspruch nahm, in der Hayden Teilhaber war. Obwohl sie die meiste Zeit des Tages in Anders’ Gesellschaft verbrachte, erstaunte es sie immer wieder, dass Hayden ihn trotzdem besser beurteilen konnte. Sein Blick war von großer Klarheit, ihm konnte man schlecht etwas vormachen. So war ihm auch ihre Nervosität nicht entgangen.
»Und wenn schon? Das Hotel kann meinetwegen aussehen, wie es will. Schließlich wollen wir hier ja nicht unsere Flitterwochen verbringen.« Im nächsten Augenblick schämte Esther sich über diese unangebracht ruppige Reaktion, doch Hayden lachte nur.
»Nein, hier ganz bestimmt nicht. Aber über das Thema Flitterwochen sollten wir uns in der nächsten Zeit tatsächlich einmal Gedanken machen. Ruf mich an, wenn du deine Angelegenheiten für heute geregelt hast, dann können wir uns noch auf einen Drink treffen und uns über eine Reise nach Europa unterhalten. Das wäre doch was, oder?«
Esther spürte beim Wort Europa einen eisernen Griff um ihre Kehle, trotzdem nickte sie tapfer. »Ich werde es versuchen, aber es könnte heute sehr spät werden, also warte bitte nicht auf meinen Anruf.« Das war eine Lüge, denn sie hatte vor, möglichst schnell mit diesem Adam fertigzuwerden. Aber bis sie Hayden das nächste Mal wiedersah, musste sie sich ein Reiseziel einfallen lassen, das Europa ausstach.
 
Innen machte das Fin de siècle mehr her, als man von seiner schäbigen Fassade erwartete. Die Lobby war zwar nicht übermäßig groß, aber die dunklen Holzwände und die mit Samt bezogenen Sofas, zwischen denen niedrige Orienttische und Drachenpalmen standen, verbreiteten eine angenehme Atmosphäre. Für jemanden wie Hayden, der alles Klare und Moderne liebte, sah das hier vermutlich nach verstaubter Vergangenheit aus, aber Esther konnte elegante Gestalten umhergehen sehen, während Pagen Schrankkoffer hievten.
Ohne sich dessen bewusst zu sein, entschied Esther sich für eine kleine Auszeit, bevor sie sich ihrer Aufgabe stellen würde. Zu sehr waren die letzten Stunden ein stetes Wechselbad der Gefühle gewesen. Für ein paar Minuten in die Haut einer anderen Frau zu schlüpfen, war da einfach zu verlockend.Vor allem, weil die Lobby sie geradezu zu einer Zeitreise verführte. Um eine aufrechte Haltung bemüht, als trüge sie statt eines Mieders ein Korsett, setzte Esther sich auf eins der Sofas.Während sich ihre innere Anspannung verlor, schloss sie die Augen und begann im Geiste, eine Unterhaltung mit ihrer vornehmen Begleitung zu spinnen.
Erst eine volltönende Männerstimme holte Esther in die Gegenwart zurück. »Wenn ich gewusst hätte, wie sehr Ihnen diese Umgebung zusagt, hätte ich mir mehr Zeit damit gelassen, zu Ihnen zu kommen.«
Esther sprang vor Überraschung auf, bevor ihr klarwurde, wie ertappt sie dadurch wirkte. Adam war auf der Hälfte der Treppe stehen geblieben und musterte sie - ob nun amüsiert oder kritisch konnte sie nicht sagen. Er sah tadellos gekleidet aus, nur das nasse, zurückgekämmte Haar verriet, dass er eben erst vom Bett unter die Dusche gestiegen war. Nicht etwa, weil er zu lange geschlafen hätte … für einen solchen Fehlschluss kannte Esther sich zu gut mit seinesgleichen aus.
»Entschuldigen Sie, aber ich habe noch nicht mit Ihnen gerechnet.« Esther stockte. Warum hätte sie auch mit ihm rechnen sollen? Schließlich hatte sie ihren Besuch noch nicht bei der Rezeption angemeldet. »Haben Sie mich etwa eintreffen sehen?«
Die Frage schien Adam zu amüsieren. »Mehr oder weniger. Ihr Duft hat Sie verraten, wenn Sie es genau wissen wollen.«
Obwohl er es leicht dahinsagte, färbten sich Esthers Wangen rot, als habe er ihr ein vertrauliches Kompliment gemacht. »Ich hoffe, ich störe Sie nicht? Wir können uns auch gern zu einem späteren Zeitpunkt unterhalten«, brachte sie in einem geschäftsmäßigen Ton hervor, nachdem sie ihre Verunsicherung überwunden hatte.
Adam kam den Rest der Treppe herunter, ohne sie dabei aus den Augen zu lassen. »Stören, wobei?«
Esthers Augenbrauen schnellten in die Höhe. Entweder war dieser Mann vollkommen schamlos, oder er hatte in seinem Zustand gestern gar nicht mehr mitbekommen, dass er sich vor den Augen aller Gäste mit Anders’ Gefährtin vergnügt hatte. Von den anderen Dingen, die vorgefallen waren, ganz zu schweigen. Esther beschloss, direkt auf ihr Anliegen zu sprechen zu kommen.
»Anders wünscht, dass ich Sie mit Ihrer Aufgabe vertraut mache, da ihm das Thema ein wenig unangenehm ist.«
Adam kam vor ihr zum Stehen, und unwillkürlich streckte sie einen Arm vor, damit er einen gewissen Abstand wahrte.
Einen Augenblick lang sah er überrascht auf ihren grenzpfahlgleichen Arm, dann schenkte er ihr ein Lächeln, das keineswegs beruhigend wirkte.
»Man könnte fast meinen, meine Gegenwart wäre Ihnen unangenehm. Dabei kenne ich noch nicht einmal Ihren Namen.«
»Ja, das stimmt. Eigentlich hätten wir uns gestern Abend bereits vorgestellt werden sollen. Aber dann waren Sie ja zuerst damit beschäftigt, meinen Herrn zu küssen …« Esther hielt unvermittelt inne. Was war nur los mit ihr? Für gewöhnlich hatte sie sich vollkommen im Griff, wenn sie in Anders’Auftrag handelte.
Adam wischte sich mit einer flüchtigen Bewegung über die Lippen, als könne er kaum glauben, was er getan haben sollte. »Es war kein Kuss im eigentlichen Sinne.«
Es klang überraschend entschuldigend, dann wurde sein Ausdruck undurchdringlich. Derselbe Ausdruck wie auf der Party, bis Anders den Dämon in ihm geweckt hatte. Daraufhin hatte er lichterloh gebrannt. Eine Erinnerung, die sie nach wie vor in Unruhe versetzte, so eindrucksvoll war die Reaktion dieses Mannes auf Anders’ Gabe gewesen … und hatte etwas längst Vergessenes in ihr geweckt, das sie nach wie vor nicht unter Kontrolle hatte, verflixt.
Offenbar war ihr die Verstörung anzusehen, denn Adam schüttelte amüsiert den Kopf.
»Es überrascht mich, ehrlich gesagt, dass die Erinnerung Sie in Verlegenheit bringt. Als Anders’ Dienerin sollten Sie an solche Szenen doch gewöhnt sein.«
»Das bin ich auch. Ich muss mich entschuldigen, denn es steht mir keineswegs zu, darüber zu urteilen.«
»Ich nehme es Ihnen auch nicht weiter übel, wenn Sie mir nun endlich Ihren Namen verraten.«
»Esther«, sagte sie nach kurzem Zögern.
»Nur Esther? Und dabei dachte ich immer, nur unsereins würde sich Künstlernamen zulegen.«
Unwillkürlich entschlüpfte Esther ein überraschtes »Oh«. Jetzt durfte sie auf keinen Fall die Nerven verlieren. Doch zu ihrem Entsetzen spürte sie, wie sich Risse in ihre Fassade gruben. Das Herz schlug wild in ihrer Brust, und sie konnte Adam ansehen, dass ihm dieser Umstand keineswegs entging.
»Wie kommen Sie bloß darauf, dass es sich um einen Künstlernamen handelt? Eine absurde Idee.«
Anstelle einer Antwort musterte Adam sie nur, dann steckte er die Hände in die Hosentaschen und blickte zu einem der bodentiefen Fenster hinaus.
Esther hatte im Laufe der Zeit viele von seiner Art gesehen, schließlich zog Anders sie an wie das Licht die Motten. Die meisten konnten den Dämon, der sie beherrschte, nur leidlich verbergen. Einige wenige erregten dagegen kaum Verdacht, wie etwa Rischka, die allerdings trotzdem nur selten von Anders’ Seite wich - nun, zumindest bis dieser Herr hier aufgetaucht war.
Man erkannte sie also nur, wenn man wusste, wonach man Ausschau halten musste. Mit dem Dämon zog eine Ausstrahlung ein, die fremdartig war. Als würde sein dunkler Heiligenschein durch die menschliche Hülle hindurchschimmern. Nur bei Adam war es anderes. Er wirkte bedrohlich, als könne er sein Temperament kaum zügeln.Von dem Dämon war jedoch keine Spur zu erkennen. Zwar umgab Adam eine Fassade aus Distanziertheit, aber es war die eines Menschen, der niemanden zu nah an sich herankommen lassen wollte. Esther erkannte das deshalb so genau, weil sie sich oft des gleichen Mittels bediente.
Nun, da sich ihr Puls wieder beruhigt hatte, begann sie erneut: »Der Auftrag, mit dem Anders Sie betraut hat, dreht sich im Wesentlichen um …«
»Seit ich in L. A. angekommen bin, habe ich das Meer noch nicht gesehen«, unterbrach Adam sie, keineswegs grob, aber doch sehr bestimmt. »Ich glaube, es ist noch nicht zu spät für einen Ausflug.«
»Ich werde mich mit meinen Ausführungen beeilen.«
»Das ist nicht notwendig, obwohl ich nichts dagegen einzuwenden hätte, wenn Sie schnell machen würden, Esther.Wenn man am Meer spazieren geht, gibt es nämlich nichts Besseres, als zu schweigen und den Wellen zuzuhören.«
Esther schnappte vor Verblüffung nach Luft. »Sie erwarten doch wohl nicht ernsthaft, dass ich Sie begleite?«
Allem Anschein nach doch, denn Adam hatte sich bereits umgedreht und schlenderte in Richtung Ausgang. Einen Moment lang überlegte sie, ob es sinnvoll war, ihn einfach ziehen zu lassen. Allerdings würde dann nicht nur Anders mit ihr unzufrieden sein … und außerdem kam ihr die Vorstellung eines Spaziergangs am Meer gar nicht so abwegig vor. Es wäre bedeutend leichter, mit diesem Mann zu sprechen, wenn man dabei aufs Wasser hinausblicken konnte, anstatt unentwegt in diese Katzenaugen sehen zu müssen. Obwohl alle Vernunft ihr widersprach, folgte sie Adam zum Ausgang des Hotels.
Nachtglanz - Heitmann, T: Nachtglanz
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