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Unerreichbare Ziele
»Bist du dir sicher, dass ich dich nicht
wenigstens hineinbegleiten soll?«, fragte Hayden, der den Wagen vor
dem Hotel Fin de siècle zum Halten gebracht hatte und dafür bereits
ungeduldige Blicke des Portiers einfing.
»Nein, das brauchst du nicht.«
Seit sie das Restaurant verlassen hatten, nahm
Esthers Unruhe stetig zu. Dabei würde sie nichts anderes tun, als
Anders’ Auftrag auszuführen. Ein paar Worte und Erklärungen, das
war alles.Auch wenn die Erinnerung an diesen unberechenbaren Adam
sie nervös stimmte, war ihr durchaus klar, dass er sich keinen Deut
für sie interessierte. Dämonen machten sich nicht viel aus
Menschen, solange sie nicht als Opfer bestimmt waren. Und aus
Dienern anderer Herrn machten sie sich in der Regel noch
weniger.
»Es ist mir ein Rätsel, wie Anders mit jemandem
Geschäfte machen kann, der freiwillig in einem solchen Haus
absteigt. Sieht trotz des Pomps recht heruntergekommen aus, da
hilft auch kein roter Teppich«, setzte Hayden nach.
Esther hatte Hayden über Anders kennengelernt, der
die Anwaltskanzlei in Anspruch nahm, in der Hayden Teilhaber war.
Obwohl sie die meiste Zeit des Tages in Anders’ Gesellschaft
verbrachte, erstaunte es sie immer wieder, dass Hayden ihn trotzdem
besser beurteilen konnte. Sein Blick war von großer Klarheit, ihm
konnte man schlecht etwas vormachen. So war ihm auch ihre
Nervosität nicht entgangen.
»Und wenn schon? Das Hotel kann meinetwegen
aussehen, wie es will. Schließlich wollen wir hier ja nicht unsere
Flitterwochen verbringen.« Im nächsten Augenblick schämte Esther
sich über diese unangebracht ruppige Reaktion, doch Hayden lachte
nur.
»Nein, hier ganz bestimmt nicht. Aber über das
Thema Flitterwochen sollten wir uns in der nächsten Zeit
tatsächlich einmal Gedanken machen. Ruf mich an, wenn du deine
Angelegenheiten für heute geregelt hast, dann können wir uns noch
auf einen Drink treffen und uns über eine Reise nach Europa
unterhalten. Das wäre doch was, oder?«
Esther spürte beim Wort Europa einen eisernen Griff
um ihre Kehle, trotzdem nickte sie tapfer. »Ich werde es versuchen,
aber es könnte heute sehr spät werden, also warte bitte nicht auf
meinen Anruf.« Das war eine Lüge, denn sie hatte vor, möglichst
schnell mit diesem Adam fertigzuwerden. Aber bis sie Hayden das
nächste Mal wiedersah, musste sie sich ein Reiseziel einfallen
lassen, das Europa ausstach.
Innen machte das Fin de siècle mehr her, als man
von seiner schäbigen Fassade erwartete. Die Lobby war zwar nicht
übermäßig groß, aber die dunklen Holzwände und die mit Samt
bezogenen Sofas, zwischen denen niedrige Orienttische und
Drachenpalmen standen, verbreiteten eine angenehme Atmosphäre. Für
jemanden wie Hayden, der alles Klare und Moderne liebte, sah das
hier vermutlich nach verstaubter Vergangenheit aus, aber Esther
konnte elegante Gestalten umhergehen sehen, während Pagen
Schrankkoffer hievten.
Ohne sich dessen bewusst zu sein, entschied Esther
sich für eine kleine Auszeit, bevor sie sich ihrer Aufgabe stellen
würde. Zu sehr waren die letzten Stunden ein stetes Wechselbad der
Gefühle gewesen. Für ein paar Minuten in die Haut einer anderen
Frau zu schlüpfen, war da einfach zu verlockend.Vor allem,
weil die Lobby sie geradezu zu einer Zeitreise verführte. Um eine
aufrechte Haltung bemüht, als trüge sie statt eines Mieders ein
Korsett, setzte Esther sich auf eins der Sofas.Während sich ihre
innere Anspannung verlor, schloss sie die Augen und begann im
Geiste, eine Unterhaltung mit ihrer vornehmen Begleitung zu
spinnen.
Erst eine volltönende Männerstimme holte Esther in
die Gegenwart zurück. »Wenn ich gewusst hätte, wie sehr Ihnen diese
Umgebung zusagt, hätte ich mir mehr Zeit damit gelassen, zu Ihnen
zu kommen.«
Esther sprang vor Überraschung auf, bevor ihr
klarwurde, wie ertappt sie dadurch wirkte. Adam war auf der Hälfte
der Treppe stehen geblieben und musterte sie - ob nun amüsiert oder
kritisch konnte sie nicht sagen. Er sah tadellos gekleidet aus, nur
das nasse, zurückgekämmte Haar verriet, dass er eben erst vom Bett
unter die Dusche gestiegen war. Nicht etwa, weil er zu lange
geschlafen hätte … für einen solchen Fehlschluss kannte Esther sich
zu gut mit seinesgleichen aus.
»Entschuldigen Sie, aber ich habe noch nicht mit
Ihnen gerechnet.« Esther stockte. Warum hätte sie auch mit ihm
rechnen sollen? Schließlich hatte sie ihren Besuch noch nicht bei
der Rezeption angemeldet. »Haben Sie mich etwa eintreffen
sehen?«
Die Frage schien Adam zu amüsieren. »Mehr oder
weniger. Ihr Duft hat Sie verraten, wenn Sie es genau wissen
wollen.«
Obwohl er es leicht dahinsagte, färbten sich
Esthers Wangen rot, als habe er ihr ein vertrauliches Kompliment
gemacht. »Ich hoffe, ich störe Sie nicht? Wir können uns auch gern
zu einem späteren Zeitpunkt unterhalten«, brachte sie in einem
geschäftsmäßigen Ton hervor, nachdem sie ihre Verunsicherung
überwunden hatte.
Adam kam den Rest der Treppe herunter, ohne sie
dabei aus den Augen zu lassen. »Stören, wobei?«
Esthers Augenbrauen schnellten in die Höhe.
Entweder war dieser Mann vollkommen schamlos, oder er hatte in
seinem Zustand gestern gar nicht mehr mitbekommen, dass er sich vor
den Augen aller Gäste mit Anders’ Gefährtin vergnügt hatte. Von den
anderen Dingen, die vorgefallen waren, ganz zu schweigen. Esther
beschloss, direkt auf ihr Anliegen zu sprechen zu kommen.
»Anders wünscht, dass ich Sie mit Ihrer Aufgabe
vertraut mache, da ihm das Thema ein wenig unangenehm ist.«
Adam kam vor ihr zum Stehen, und unwillkürlich
streckte sie einen Arm vor, damit er einen gewissen Abstand
wahrte.
Einen Augenblick lang sah er überrascht auf ihren
grenzpfahlgleichen Arm, dann schenkte er ihr ein Lächeln, das
keineswegs beruhigend wirkte.
»Man könnte fast meinen, meine Gegenwart wäre Ihnen
unangenehm. Dabei kenne ich noch nicht einmal Ihren Namen.«
»Ja, das stimmt. Eigentlich hätten wir uns gestern
Abend bereits vorgestellt werden sollen. Aber dann waren Sie ja
zuerst damit beschäftigt, meinen Herrn zu küssen …« Esther hielt
unvermittelt inne. Was war nur los mit ihr? Für gewöhnlich hatte
sie sich vollkommen im Griff, wenn sie in Anders’Auftrag
handelte.
Adam wischte sich mit einer flüchtigen Bewegung
über die Lippen, als könne er kaum glauben, was er getan haben
sollte. »Es war kein Kuss im eigentlichen Sinne.«
Es klang überraschend entschuldigend, dann wurde
sein Ausdruck undurchdringlich. Derselbe Ausdruck wie auf der
Party, bis Anders den Dämon in ihm geweckt hatte. Daraufhin hatte
er lichterloh gebrannt. Eine Erinnerung, die sie nach wie vor in
Unruhe versetzte, so eindrucksvoll war die Reaktion dieses Mannes
auf Anders’ Gabe gewesen … und hatte etwas längst Vergessenes in
ihr geweckt, das sie nach wie vor nicht unter Kontrolle hatte,
verflixt.
Offenbar war ihr die Verstörung anzusehen, denn
Adam schüttelte amüsiert den Kopf.
»Es überrascht mich, ehrlich gesagt, dass die
Erinnerung Sie in Verlegenheit bringt. Als Anders’ Dienerin sollten
Sie an solche Szenen doch gewöhnt sein.«
»Das bin ich auch. Ich muss mich entschuldigen,
denn es steht mir keineswegs zu, darüber zu urteilen.«
»Ich nehme es Ihnen auch nicht weiter übel, wenn
Sie mir nun endlich Ihren Namen verraten.«
»Esther«, sagte sie nach kurzem Zögern.
»Nur Esther? Und dabei dachte ich immer, nur
unsereins würde sich Künstlernamen zulegen.«
Unwillkürlich entschlüpfte Esther ein überraschtes
»Oh«. Jetzt durfte sie auf keinen Fall die Nerven verlieren. Doch
zu ihrem Entsetzen spürte sie, wie sich Risse in ihre Fassade
gruben. Das Herz schlug wild in ihrer Brust, und sie konnte Adam
ansehen, dass ihm dieser Umstand keineswegs entging.
»Wie kommen Sie bloß darauf, dass es sich um einen
Künstlernamen handelt? Eine absurde Idee.«
Anstelle einer Antwort musterte Adam sie nur, dann
steckte er die Hände in die Hosentaschen und blickte zu einem der
bodentiefen Fenster hinaus.
Esther hatte im Laufe der Zeit viele von seiner Art
gesehen, schließlich zog Anders sie an wie das Licht die Motten.
Die meisten konnten den Dämon, der sie beherrschte, nur leidlich
verbergen. Einige wenige erregten dagegen kaum Verdacht, wie etwa
Rischka, die allerdings trotzdem nur selten von Anders’ Seite wich
- nun, zumindest bis dieser Herr hier aufgetaucht war.
Man erkannte sie also nur, wenn man wusste, wonach
man Ausschau halten musste. Mit dem Dämon zog eine Ausstrahlung
ein, die fremdartig war. Als würde sein dunkler Heiligenschein
durch die menschliche Hülle hindurchschimmern. Nur
bei Adam war es anderes. Er wirkte bedrohlich, als könne er sein
Temperament kaum zügeln.Von dem Dämon war jedoch keine Spur zu
erkennen. Zwar umgab Adam eine Fassade aus Distanziertheit, aber es
war die eines Menschen, der niemanden zu nah an sich herankommen
lassen wollte. Esther erkannte das deshalb so genau, weil sie sich
oft des gleichen Mittels bediente.
Nun, da sich ihr Puls wieder beruhigt hatte, begann
sie erneut: »Der Auftrag, mit dem Anders Sie betraut hat, dreht
sich im Wesentlichen um …«
»Seit ich in L. A. angekommen bin, habe ich das
Meer noch nicht gesehen«, unterbrach Adam sie, keineswegs grob,
aber doch sehr bestimmt. »Ich glaube, es ist noch nicht zu spät für
einen Ausflug.«
»Ich werde mich mit meinen Ausführungen
beeilen.«
»Das ist nicht notwendig, obwohl ich nichts dagegen
einzuwenden hätte, wenn Sie schnell machen würden, Esther.Wenn man
am Meer spazieren geht, gibt es nämlich nichts Besseres, als zu
schweigen und den Wellen zuzuhören.«
Esther schnappte vor Verblüffung nach Luft. »Sie
erwarten doch wohl nicht ernsthaft, dass ich Sie begleite?«
Allem Anschein nach doch, denn Adam hatte sich
bereits umgedreht und schlenderte in Richtung Ausgang. Einen Moment
lang überlegte sie, ob es sinnvoll war, ihn einfach ziehen zu
lassen. Allerdings würde dann nicht nur Anders mit ihr unzufrieden
sein … und außerdem kam ihr die Vorstellung eines Spaziergangs am
Meer gar nicht so abwegig vor. Es wäre bedeutend leichter, mit
diesem Mann zu sprechen, wenn man dabei aufs Wasser hinausblicken
konnte, anstatt unentwegt in diese Katzenaugen sehen zu müssen.
Obwohl alle Vernunft ihr widersprach, folgte sie Adam zum Ausgang
des Hotels.