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Eine unter vielen
Auch nach knapp vier Jahren hatte New York nichts
von seinem faszinierenden Eindruck eingebüßt. Die Zwangspause in
den Auffanglagern nach der Ankunft war in dem Augenblick
verloschen, in dem die Türen hinter Eistir zugeschlagen wurden.
Auch die ärmlichen Unterkünfte, das Warten auf einen Job, das man
auf den verwahrlosten Straßen hinter sich brachte, waren vergessen.
Sogar die scheelen Blicke derjenigen, die sich als Einheimische
betrachteten, obwohl sie höchstens ein paar Jahre früher
eingewandert waren, änderten nichts an dem glänzenden Bild, das
sich tief eingeprägt hatte: eine strahlend erleuchtete Stadt voller
Menschen, denen sich Möglichkeiten boten, wenn sie nur den rechten
Willen an den Tag legten. Kein Vergleich zu dem endlosen Grün, dem
sie den Rücken gekehrt hatten, wo Tatendrang und Hoffnung ins Leere
liefen. Sogar Armut fühlte sich in New York anders an, wie ein
bitterer Geschmack, den man schon bald mit etwas Süßem übertönen
würde. Man brauchte nur die Fähigkeit auszuharren - und darin waren
sie alle unschlagbar gut, diese Kunst hatten sie aus ihrer Heimat
mitgebracht.
»Eistir! Was stehst du hier draußen herum, obwohl
die Musik doch drinnen spielt?«
Mit einem ungeduldigen Handwedeln nahm Eistir ihrem
nur ein knappes Jahr älteren Bruder den Wind aus den Segeln. »Na,
dann solltest du keine wertvolle Zeit verschwenden und
sofort wieder umkehren, Dillon. Wer weiß, an welchem Hals deine
Süße ansonsten hängt, wenn du zu lange wartest.«
»Mit siebzehn Jahren bist du eigentlich noch zu
jung, um schon so zynisch zu sein. Zwischen Caitlin und mir, das
ist Liebe! Wie kannst du daran nur zweifeln?« Es war genau diese
überschwängliche und stets einen Hauch zu theatralische Art, die
Eistir so sehr an Dillon liebte. Er brachte sie zum Lachen, und
wenn sie nicht aufpasste, riss er sie in seinem Sturm mit sich,
obwohl sie im Gegensatz zu ihm keine Flügel hatte. Dillon zwar auch
nicht, aber das hinderte ihn keineswegs am Fliegen.
Heute Abend saß der jungen Frau der Schalk im
Nacken, und sie hatte Lust, ihren Bruder ein wenig
aufzuziehen.
»Wenn die Liebe zwischen dir und Caitlin so
unendlich groß und alles übertreffend ist, dann brauchst du dir ja
keine Sorgen zu machen. Andernfalls müsste man schon mit der
Naivität eines Narren gesegnet sein, um einer ehemaligen
Animierdame über den Weg zu trauen. Vor allem, wenn man sie sich
selbst in einem Etablissement überlässt, das ihre frühere
Spielwiese gewesen ist.«
Für einen Moment sah es ganz danach aus, als machte
Dillon auf der Stelle kehrt, um sich mit eigenen Augen davon zu
überzeugen, dass Eistir auf keinen Fall mit ihrer Andeutung Recht
haben konnte. Dann breitete sich jedoch ein Lächeln über sein
gesamtes Gesicht aus, jenes Lächeln, das einen in Brand setzen
konnte.
Eigentlich wäre es nur fair gewesen, wenn Dillon an
meiner Stelle die roten Haare von unserem Vater geerbt hätte. Zu
seinem Naturell würden sie besser passen als zu mir, dachte Eistir
wie schon unzählige Male zuvor - wohl wissend, dass Dillon ihr
sofort widersprechen würde, weil er ihr Temperament für durchaus
entzündbar hielt. Es mochte besser verborgen sein, aber sobald es
erst einmal freigesetzt war, ließ es sich kaum bändigen.
In ihrer Familie gab es fast ausschließlich starke
Persönlichkeiten, doch das Leben, das sie geführt hatten, drohte
sie nach und nach zu zerbrechen. IhrVater war nicht mehr als ein
Mann, der eine unbändige Wut hegte, wie die weiß aufblitzende Narbe
unter Eistirs Auge auch nach Jahren noch bewies.
McKenna hatte seine halbwüchsige Tochter dabei
erwischt, wie sie sich an den Schminkutensilien ihrer Mutter
bediente, die aus nicht mehr als zwei Farbdosen und einem fast
aufgebrauchten Lippenstift bestanden. Niemand wusste, wie ihre
Mutter sie überhaupt erstanden hatte. Keine der anderen Frauen im
Dorf schminkte sich, eben weil man es nicht tat. Und vielleicht
auch, weil der einzige Laden nicht einmal eine ordentliche
Gesichtscreme führte. Obwohl über McKennas zurechtgemachte Frau im
Ort getuschelt wurde, hatte ihr Vater es nach jahrelanger Zankerei
aufgegeben, seiner Frau das Schminken auszutreiben.Ansonsten mochte
er sich mit seinen Fäusten stets durchsetzen, aber hier war sie
unnachgiebig geblieben.
Eistir hatte sich verträumt den dunkelblauen
Lidschatten aufgetragen, weniger aus dem Bedürfnis, sich
herauszuputzen, sondern weil die Farbe auf magische Weise ihr
Gesicht veränderte. Das Blau verband sich mit dem Grau ihrer Augen,
so dass sie an das Meer denken musste.
»Ich bin eine Meerjungfrau«, flüsterte sie und
konnte dabei den Blick nicht vom Spiegelbild über der Waschkommode
abwenden.
Wie lange ihr Vater bereits in der Tür gestanden
und sie beobachtet hatte, konnte sie später nicht sagen. Sehr lange
gewiss nicht, denn sein Zorn kochte viel zu schnell über.
»Eistir«, stieß er heiser vor Rage aus. Dann packte
er sie am Nacken. »Was tust du da? Dich wie eine Hure
anmalen?«
Nein, nur spielen, Papa, wollte sie ihm
antworten, doch der Griff in ihrem Nacken war so schmerzlich fest,
dass sie nur ein Wimmern hervorbrachte.
Ihr Schweigen nahm ihr Vater nur allzu bereitwillig
als Eingeständnis seiner wüsten Vermutungen an. In der einen
Sekunde gab er ihren Nacken frei, in der nächsten verpasste er ihr
einen groben Schlag gegen den Hinterkopf.
Eistir schlug mit dem Gesicht auf die Kommode auf,
wo der offene Porzellantiegel mit dem Lidschatten stand. Die
scharfe Kante grub sich tief in die Haut unter ihrem linken Auge.
Dabei verspürte Eistir keinen Schmerz, sondern hatte
merkwürdigerweise nur das Bild im Kopf, wie jemand eine
Messerklinge in Schnee trieb. Als sie sich benommen aufrichtete,
sah sie zunächst nur einen weißen Streifen, der sich dann rapide
mit Blut füllte, während sie immer noch nicht begriff, was
eigentlich geschah.
In der Zwischenzeit hatte ihr Vater den Arm bereits
zum nächsten Schlag erhoben, doch er fuhr nicht herunter. Ihr
älterer Bruder Niall, selbst schon fast ein Mann, hatte ihn
gepackt.
»Das wirst du nicht tun«, sagte Niall seinem Vater
mit seiner eindringlichen, oftmals sogar einschüchternden Stimme,
und dabei fing seine gerade verheilte Lippe wieder zu bluten
an.
Am Tag zuvor hatte McKenna nämlich feststellen
müssen, dass sein ältester Sohn nicht länger gewillt war, als
Blitzableiter für seine Wutausbrüche herzuhalten. Niall war grün
und blau geschlagen aus diesem Kräftemessen hervorgegangen, aber
sein alter Herr ebenfalls.
»Bist du noch da? Ich dachte, ich hätte mich klar
ausgedrückt, als ich dich aus dem Haus geworfen habe.«
»Mehr als klar«, erklärte Niall. »Ich hole nur, was
mir gehört. Eistir, geh und pack deine Sachen, ich nehme dich
mit.«
Ohne zu zögern, sprang Eistir auf und drückte sich
an ihrem Vater vorbei, der sie mit hasserfüllten Augen ansah,
während ihr das Blut über ihre eiskalten Wangen lief. Im letzten
Moment langte ihr Vater nach ihrem Arm, doch sie entkam ihm mit
einem leisen Aufschrei.
Während sie ihre wenigen Habseligkeiten
zusammenpackte, hörte sie Niall sagen: »Ich nehme nur, was du nie
gewollt hast. Dillon und Eistir gehen mit mir, denn ich habe
begriffen, dass du sie lieber totschlagen wirst, als ihnen dabei
zuzusehen, wie sie zu glücklichen Menschen werden.«
»Und ausgerechnet an deiner Seite sollen die beiden
glücklich werden?«, gab ihrVater bestimmt zurück. »Dafür bist du
mir viel zu ähnlich, mein Sohn. Alles, was du anfasst, zerfällt zu
Asche.«
»Wir werden sehen.«
Dabei wohnte Nialls Stimme eine Resignation inne,
dass Eistir ihre Sachen fast wieder in den Schrank zurückgelegt
hätte. Letztendlich siegte ihre Sehnsucht nach einem anderen Leben
und auch ein Stück weit ihre Liebe zu ihrem düsteren, oft abweisend
wirkenden Bruder, der sie tatsächlich mitnehmen wollte. Als sie mit
ihrem schmalen Bündel auf den Ausgang zuhielt, bemerkte sie im
Hauptraum ihre versteinert dastehende Mutter. Sie wollte gerade zu
ihr treten, da packte Niall sie fest am Oberarm und führte sie aus
dem Haus ihrer Kindheit, ohne ihr einen Blick zurück zu
gestatten.
Draußen wartete Dillon auf sie. Kreidebleich, als
hätte jemand sein inneres Feuer gelöscht. Als er seine Schwester
sah, flammte es jedoch sofort wieder auf. »Auf geht’s!«, sagte er
und lief los und sie ihm hinterher, während Niall ihnen wie ein
Schatten folgte.
Während der vielen durchweinten Nächte der
Überfahrt hatte Eistir oft über diesen Moment nachdenken müssen.
Ein Teil von ihr hasste Niall dafür, weil er nicht zugelassen
hatte, dass sie sich von ihrer Mutter verabschiedete, ein anderer
Teil akzeptierte seine Entscheidung. Es war wie bei dieser
biblischen Geschichte, in der man zur Salzsäule erstarrt, sobald
man zurückblickt. Wenn einem ein neues Leben angeboten wird, durfte
man nur nach vorne schauen. Diese Lehre hatte Eistir mehr
verinnerlicht als jede andere.
Nachdenklich starrte Eistir auf die nächtliche
Stadt und widerstand dem Verlangen, nach der alten Narbe unter
ihrem Auge zu tasten. Obwohl es ihr schwerfiel, warf sie ihre
plötzlich aufgekommene Traurigkeit ab und beschloss, Dillon lieber
noch ein wenig zu ärgern.
»Du stehst ja immer noch hier draußen, anstatt nach
deiner geliebten Caitlin zu sehen. Dieser bullige Geschäftsfreund
von Niall hat sie vorhin schon ausgiebig begutachtet. Du solltest
dich also besser sputen. Männer, die nur den Lohn eines
Hafenarbeiters aufweisen können, müssen schon mit Anwesenheit
glänzen, wenn sie ein schönes Ding wie Caitlin halten
wollen.«
»Du bist wirklich ein böses Mädchen«, sagte Dillon,
was bei ihm wie ein Kompliment klang. Er stellte sich dicht hinter
sie und legte ihr sein Jackett um die Schultern. Zwar war es eine
schöne Sommernacht, doch auf dem Dach des Hochhauses war wegen des
Windes davon wenig zu spüren. Bis eben hatte Eistir gar nicht
bemerkt, dass sie in ihrem Abendkleid und der dünnen Stola
fror.
»Was treibst du bloß allein hier draußen,
Schwesterherz?«
»Wie kann man zwanzig Stockwerke hoch über der
Stadt stehen und so eine dumme Frage stellen? Ich brauche mir die
Häuser mit ihren erleuchteten Fenstern nur anzusehen, dann ist es
fast so, als könne ich das Leben bereits greifen, das ich mir
aufbauen werde. Am liebsten sind mir die Ateliers und Bürofluchten,
wo Dinge getan werden, die sich nicht auf so unmittelbare
Angelegenheiten wie das Kochen der nächsten Mahlzeit oder aufs
Bettenmachen beziehen. Da will ich hin.«
»Wäre es für dein Geschlecht nicht eher angemessen,
sich nach einem netten Häuschen imVorort zu sehnen?«, fragte Dillon
scheinheilig, was ihm einen Ellbogenknuff in die Magengegend
einbrachte. Mit übertrieben schmerzverzerrtem Gesicht rieb er sich
die getroffene Stelle. »Wenn du nicht so widerspenstig wärst und
jedem unter die Nase reiben würdest, dass
du fest entschlossen bist, es in dieser Stadt aus eigener Kraft zu
etwas zu bringen, dann würde vielleicht sogar ein Kerl mit einem
Apartment mit Blick auf den Park bei dir anbeißen.« Dieses Mal war
Dillon darauf gefasst und wich ihrem Ellbogen geschickt aus.
»Vielleicht irre ich mich, aber ich glaube, Niall hat sogar schon
einen passenden Anwärter für dich ausgewählt. Ganz nach der
amerikanischen Sitte, nicht auf die Herkunft, sondern auf den
Geldbeutel achtend.«
»Komm mir jetzt nicht mit Niall.«
Wie immer gelang es Eistir nicht, den verletzlichen
Ton aus ihrer Stimme zu verdrängen, wenn sie von ihrem ältesten
Bruder sprach. Niall war die Achillesferse in ihrem neuen Leben,
denn sie wusste, dass sie sich ihrem willensstarken Bruder würde
widersetzen müssen, wenn sie tatsächlich ihren eigenen Weg gehen
wollte. Doch sich gegen Niall aufzulehnen, bereitete ihr beinahe
körperliche Schmerzen. Obwohl er oft unnahbar war, verband sie eine
Liebe, die sich nicht mit gemeinsamen Glücksmomenten oder
geschwisterlicher Zuneigung erklären ließ. Niall wohnte etwas von
einem dunklen Traum voller Abgründe inne, vor dem man sich
fürchtete und den man zugleich niemals aufgeben wollte. Weil die
Dunkelheit einen auf eine ganz besondere Weise in den Bann schlug.
Ganz anders als Dillon, der sie allein mit seinem Lachen
wärmte.
»Warum, bist du wieder einmal mit Niall
aneinandergeraten?«
»Aneinandergeraten kann man nur mit jemandem, den
man als echtes Gegenüber wahrnimmt. Für Niall bin ich kein
Gegenüber, sondern nur seine kleine Schwester, für die er auf
Biegen und Brechen das Beste will.Wobei das Beste natürlich das
ist, was Niall dafür hält.«
»Ich stimme dir ja zu, dass er ruhig etwas
nachgiebiger mit dir umgehen könnte. Aber du darfst nicht
vergessen, dass wir ohne ihn weder nach Amerika gekommen wären noch
würden
wir heute Abend in feinem Zwirn auf der Dachterrasse eines
vornehmen Clubs stehen.«
»Unsere Kleidung ist weder fein noch ist an diesem
Laden von Nialls sogenannten Freunden irgendetwas Vornehmes dran.
Es ist schlicht ein besser verpacktes Bordell, wohin die Herren
ihre Geliebten mitnehmen können, ohne dass die sich mit einer
schallenden Ohrfeige für die Abendgestaltung bedanken.«
»Da ist sie wieder, Eistirs größenwahnsinnige
Sichtweise. Ohne Niall würdest du dich weiterhin mit Aushilfsjobs
herumplagen müssen, bei denen man dich mit einer Handvoll
angefaulten Kartoffeln und einem Paar Socken entlohnt. Stattdessen
kannst du nun diese nette Ausbildung machen, in der man in
geheizten Büros auf Schreibmaschinen tippt. Du glaubst wirklich, du
hast was Besseres verdient, was, Süße?«
Für Dillon war das lediglich ihre typische
Flachserei, aber Eistir konnte das unmöglich auf sich sitzenlassen.
Mit einer kühlen Miene nahm sie sein Jackett von den Schultern und
hielt es ihm entgegen. Er hob abwehrend die Hände, während das
Lächeln eindeutig an Strahlkraft einbüßte.
»Nimm dein Jackett, oder ich lass es auf den Boden
fallen. Ich will nichts Unverdientes, verstehst du? Ich bin keins
von diesen billig zurechtgemachten Mädchen wie deine Caitlin, die
an der Bar darauf warten, dass ihnen jemand eine Zukunft schenkt,
bloß weil sie so süß anzusehen sind. Ich weiß zwar noch nicht, was
genau es ist, aber ich kann etwas, und deshalb werde ich mir selbst
etwas aufbauen.«
»Solche Reden schwingen und sich dann wundern, dass
Niall die Nerven verliert.«
Dillon schüttelte zwar den Kopf, aber Eistir
bemerkte trotzdem, dass er sie mit einer gewissen Achtung ansah.
Genau so wollte sie von ihren Mitmenschen angesehen werden, und sie
wusste, dass sie den nötigen Biss dazu hatte. Schließlich hatte
sie mit ihrem Elternhaus den schlimmsten Teil ihres Lebens hinter
sich gelassen.
»Niall verliert leicht die Nerven, weil er seine
Finger in zu vielen dreckigen Geschäften stecken hat«, hielt sie
übermütig dagegen, wobei ihr die Spitze gegen ihren Bruder wie
erwartet zusetzte. Ihr blieb jedoch nichts anderes übrig, als gegen
Niall zu sticheln, wenn sie sich eines Tages aus seiner eisernen
Fürsorge befreien wollte.
Nun fand Dillon sein Lachen doch wieder. »Na,
wenigstens hat Niall seine Finger überhaupt irgendwo drin - im
Gegensatz zu vielen anderen, die mit uns zusammen in New York
angekommen sind. Und jetzt komm mit in die Bar, ansonsten taucht
dein ungeliebter Bruder noch auf und hält dir eine Ansprache, die
sich gewaschen hat.«
»Nun tu doch nicht so, als ginge es dir lediglich
um mich. Du willst bloß schnellstmöglich zurück an die Bar, damit
Caitlin dein Bett nicht mit dem eines anderen verwechselt.«
Sofort ging Dillon darauf ein, da ihm dieses Thema
unendlich viel lieber war als die Geschäfte, denen Niall nun schon
seit fast einem Jahr nachging. Geschäfte, die er zumindest vor
seiner jüngeren Schwester gern verborgen hätte.Aber zum einen
lebten sie dafür zu eng beisammen, und zum anderen war Eistir viel
zu intelligent, um nicht zu begreifen, dass das florierendste
Geschäft für irische Immigranten in New York die Mafia war.
Wenn man dem Kalender Glauben schenkte, dann hätte
sich der Herbst von seiner goldenen Seite zeigen müssen.
Stattdessen hatten die wenigen Bäume, die man überhaupt zu Gesicht
bekam, ihr Laub bereits abgeworfen und streckten ihre toten Finger
tagaus, tagein in den grauen Himmel.
Eistir trat vor dem Ladengeschäft unablässig von
einem Fuß auf den anderen, was ihr jedoch wegen ihrer durchnässten
Schuhe nicht weiterhalf. Ihre Zehen fühlten sich vor Kälte
schon ganz taub an.Tapfer ein Lied vor sich hinsummend, raffte sie
den Pelzkragen ihres Mantels zusammen, wobei es ihr schwerfiel, den
muffigen Geruch zu ignorieren. Dillon hatte ihn ihr vor einigen
Tagen als Einstand für ihren ersten Job als Aushilfssekretärin in
einer Werbeagentur geschenkt, und zunächst hatte sie ihn vehement
abgelehnt.
»Nun sei nicht so schüchtern, schließlich hat er
kein Vermögen gekostet. Ist doch nur ein gebrauchtes Stück«, hatte
Dillon ihr, mit seiner Geduld am Ende, vorgehalten.
»Gebraucht oder nicht, das wenige Geld, das du am
Hafen verdienst, kannst du bald für was Besseres gebrauchen.«
»Ach, da liegt also unser Problem. Du hast mit
Caitlin gesprochen.« Dillon legte die Stirn in Falten, eine Miene,
die man bei ihm in der letzten Zeit häufiger sah, wie Eistir
unglücklich feststellte. »Nun, bis zum freudigen Ereignis sind es
ja noch fast sieben Monate. Mir bleibt also noch genug Zeit, um das
Geld für Windeln und eine Wiege anzuschaffen. Außerdem ist der
Mantel nicht irgendein beliebiges Geschenk, sondern eine Art
Glückwunsch zu deinem ersten Job. Hast dich ja ordentlich
angestrengt dafür.«
Daraufhin hatte Eistir den Mantel angenommen, mit
einem glücklichen Strahlen im Gesicht. Heute hatte sie ihren ersten
Lohn ausgezahlt bekommen - eine lächerlich geringe Summe für
unendlich viele und langweilige Stunden der Tipperei, aber sie war
stolz und wollte ihre Brüder ins Kino einladen.
An den Freitagabenden trafen sich die beiden Brüder
mit einigen anderen Männern aus dem Viertel in einem Hinterzimmer
zum Kartenspiel. Ein Blick auf die Uhr, die über dem Eingang zur
Subway hing, verriet Eistir, dass die Spielzeit eigentlich schon
vorbei sein musste. Die anderen Mitspieler mochten den Ausgang des
Ladens zwar erst deutlich später finden, eingelullt von
Zigarettenrauch und Whiskey, aber in Niall tickte ein inneres
Uhrwerk. Er wollte hören, wie es seiner Schwester
den Tag über ergangen war, bevor er sich zu seinen abendlichen
Geschäften absetzte. Außerdem ging es ihm gegen den Strich, wenn
einige Männer, mit denen er geschäftlich zu tun hatte, gleich nach
dem Ende des Spiels über ihre Angelegenheiten schwadronierten, die
für Dillons Ohren nicht bestimmt waren.
Mr Murray, der Besitzer des Ladens mit dem
auffällig angestaubten Inventar, hatte einmal seinen kahlen Kopf
zur Tür herausgestreckt und Eistir gefragt, warum sie - verflucht
noch mal - nicht einfach reinkäme und im Warmen wartete, bis die
Männer mit dem Spiel fertig wären? Doch Eistir hatte nur mit dem
Kopf geschüttelt. Nicht bloß, weil Mr Murray aussah wie ein Troll,
der einer Kindergeschichte entsprungen war, sondern weil sie mit
dieser Art von Gesellschaft möglichst wenig zu tun haben wollte.
Wenn Niall sich die Finger schmutzig machte, war das seine Sache,
denn sie liebte ihn trotzdem. Doch von den anderen Männern wollte
sie am liebsten nicht einmal die Namen kennen.
Als Dillon endlich in der Tür auftauchte, waren
sämtliche trüben Gedanken vergessen.
»Rate mal, was ich hier in meiner Manteltasche
habe«, platzte es aus Eistir heraus.
»Deine Hand, an der ein Verlobungsring von eurem
Starwerbeheini steckt, dem es gleich in der ersten Woche gelungen
ist, dich erfolgreich zu schwängern?«
»Dieser lahme Witz verrät nur, wie wenig Ahnung du
vom Thema Verlobung unter normalen Umständen hast. Es gibt auch
Männer, die sich verloben, ehe ihre Süße schwanger ist.«
Dillon lehnte sich vor und gab ihr einen Kuss auf
die Wange. »So hübsch und so unsäglich naiv. Also, läuft da
tatsächlich was mit einem Werbeheini?« Doch bevor er fortfahren
konnte, tauchte Nialls dunkle Silhouette neben ihnen auf.
»Über was für einen Unsinn redest du da,
Dillon?«
Wie immer spürte Eistir einen Stich beim Anblick
ihres ältesten Bruders. Anders als bei Dillon war Nialls Ausdruck
von einer düsteren Ernsthaftigkeit bestimmt, als würde er den
natürlichen Gegensatz zu seinem überschäumenden Bruder bilden.
Trotzdem wies er eine Anziehungskraft auf, die Eistir - wie auch
viele andere - beeindruckte: Niall war nicht nur eine
beeindruckende Persönlichkeit, sondern darüber hinaus ein gut
aussehender Mann mit klar geprägten Gesichtszügen und von schwarzen
Wimpern umrahmten Augen, deren eindringlichem Blick man sich nicht
entziehen konnte. Es war jedoch ein Fehler, in den ebenholzfarbenen
Augen zu versinken, denn das dunkle Glimmen in ihnen verriet viel
mehr über Nialls Wesen, das unleugbar von ihrem Vater geprägt
worden war.
»Ich möchte euch beide von meinem ersten Lohn ins
Kino einladen«, brachte Eistir hervor, während Niall sich zu einem
Begrüßungskuss vorbeugte. Er roch nach Metall und frischem
Schweiß.
»Das ist gut gemeint, aber das brauchst du nicht zu
tun.« Niall musterte sie eingehend wie immer, als könne er ihr
jeden Gedanken direkt vom Gesicht ablesen. »Kauf dir lieber etwas
Schönes, vielleicht einen Reif für dein Haar. Dann könntest du es
häufiger offen tragen.«
Unwillkürlich fuhr Eistirs Hand zu dem strengen
Knoten an ihrem Hinterkopf, als wolle sie das Haar lösen, um den
zärtlichen Tonfall in der Stimme ihres Bruders noch einmal
hervorzurufen.
Dillon lachte. »Oder du kaufst dir ein Paar
Handschuhe, dann laufen deine Finger auch nicht mehr vor Kälte blau
an.«
Dillons gute Laune blühte mit jedem Moment mehr
auf, während Nialls Blick auf das Ladeninnere gerichtet war, wo
sich nach und nach die Männer aus ihrer Spielrunde an der Theke
einfanden. Mittlerweile war es ihm ein Dorn im Auge, wenn Eistir
sich im Dunstkreis seiner Freunde aufhielt. Seit sie
ihre Ausbildung abgeschlossen hatte, sah er seine Schwester nicht
mehr an der Seite eines Landmanns, der sich am Hafen verdingte oder
gar ganz anderen Geschäften nachging. Der Gedanke an die
Werbeagentur gefiel ihm immer besser. Studierte Männer aus
ordentlichen Familien.Von ihnen dreien standen die Chancen für
Eistir in dieser Stadt am besten, und er würde nicht zulassen, dass
sie sie nicht wahrnahm.
»Ach, kommt schon, Jungs«, bettelte Eistir. »Lasst
euch von mir ins Kino einladen. Das habe ich mir doch
verdient.«
Augenblicklich nahm Niall sie ins Visier. »Geht es
hier um eine Einladung oder darum, zu beweisen, dass du endlich
diese elende Selbstbestimmtheit erreicht hast, mit der du uns
ständig in den Ohren liegst?«
»Niall, nun sei doch nicht so«, mischte Dillon sich
ein. »Was spricht denn gegen einen Kinobesuch? So grau, wie du um
die Nase bist, kann dir ein wenig Abwechslung nur guttun.«
Zunächst sah es so aus, als würde Niall zu einer
seiner strengen Erwiderungen ansetzen, aber dann lenkte er ein.
»Meinetwegen. Aber dann etwas Trauriges, etwas mit Seele. Eine von
diesen amerikanischen Komödien könnte ich jetzt nicht
ertragen.«
Als die Geschwister das Kino verließen, war es
bereits tiefste Nacht. Doch in den Straßenschluchten von New York
spielte das keine Rolle, die Dunkelheit wurde von unzähligen
Lichtern und Leuchtreklamen verdrängt. Mit einem wohligen Schaudern
dachte Eistir an die Schwärze, die sich vom Herbst bis ins Frühjahr
hinein über ihren Hof in Irland gelegt hatte. Undurchdringlich,
gerade so, als würde sie nach einem greifen. Da mochte das
Kunstlicht, das durch die fadenscheinigenVorhänge ihres Apartments
drang, ihr den Schlaf rauben, aber sie war sich sicher, niemals
wieder woanders als in einer Großstadt leben zu wollen.
Dillon legte ihr einen Arm um die Schultern, als
sie vor dem pompösen Eingang des Kinos stehen blieben, in das
selbst zu dieser Stunde noch neue Gäste strömten. Niall stand
leicht abseits von ihnen, um sich eine Zigarette anzuzünden. Er
konnte es nicht ausstehen, dass in den Vorführsälen geraucht werden
durfte, weil der Qualm die Bilder mit einem grauen Schleier
überzog. Immer wieder musste Dillon während derVorführung
beruhigend auf ihn einreden, damit er die rauchenden Gäste nicht
übermäßig anmaulte.
Nach wie vor beschäftigte es Eistir, wie zwei
Brüder bloß so unterschiedlich und gleichzeitig vertraut
miteinander sein konnten. Wie sie selbst in dieses Dreieck passte,
war ihr ohnehin ein Rätsel. Die Vorstellung, dass Dillon ihnen
verlorenging, sobald er eine Bleibe für die schwangere Caitlin und
sich gefunden hatte, bereitete ihr ordentliches Magengrimmen. Wie
sollte es ihr gelingen, den aufbrausenden Niall allein in der
Balance zu halten? Obwohl er es ihr alles andere als leichtmachte,
war sie Niall genauso zugetan wie Dillon. Hätte man sie vor die
Wahl gestellt, dann hätte sie tatsächlich nicht sagen können, wen
von beiden sie eigentlich bevorzugte.
»Ich muss zugeben, im Nachhinein bin ich
unglaublich froh, dass Niall uns in diesen alten Schinken über
Tristan und Isolde geschleppt hat. Der Ausdruck auf seinem Gesicht,
als es Tristan dahingerafft hat, war es absolut wert. In Nialls
Brust wohnt eben die schöne Seele eines Romantikers - er kann sogar
bei sterbenden Engländern mitleiden.«
»Das habe ich gehört«, sagte Niall, wobei er bei
jedem Wort Rauch ausstieß. Zur allgemeinen Überraschung brachte er
tatsächlich ein Lächeln zustande, das Eistir niemals vergessen
sollte. Mit einer lässigen Bewegung schnippte er die
Zigarettenkippe in den Rinnstein und schlenderte zu ihnen hinüber.
Ehe er sie jedoch erreichte, legte sich eine Hand auf seine
Schulter.
»Niall McKenna. Dachte ich mir doch, dass ich
richtig gesehen habe.« Der hochgewachsene Polizeibeamte nickte
seinem Kollegen zu, der keine Miene verzog. »Hast du dich
verlaufen? Ihr Hafenratten treibt euch doch ansonsten nicht
außerhalb eures Reviers herum.«
Augenblicklich war das Lächeln von Nialls Gesicht
verschwunden. Zurück blieb der Ausdruck eines Mannes, um den man
besser einen weiten Bogen machte, wenn man es nicht gerade auf eine
Auseinandersetzung anlegte. »Vielleicht hat mich ja der schmutzige
Gestank von ein paar Uniformträgern angezogen.«
Während die beiden Polizisten zeitgleich ihre
Schlagstöcke zogen, trat Dillon mit erhobenen Händen dazwischen.
»Hoho, kein Grund zur Aufregung. Alles bestens. So ein netter
Abend, überall sind gut gelaunte Leute unterwegs, darunter auch
einige Damen, und die wollen wir doch nicht erschrecken.«
»Noch eine McKenna-Ratte?«, fragte der Polizist
gereizt, doch zumindest senkte er den Schlagstock. Sein Kollege mit
dem versteinerten Gesicht folgte seinem Beispiel allerdings nicht,
wie Eistir beunruhigt feststellte.
»Jawohl, und zwar eine echte«, betonte Dillon, als
sei das der beste Witz, den er je gehört hatte. »Und da drüben
steht die dritte im McKenna-Bunde, wir haben uns mit unserer
Schwester nämlich gerade einen Film angeschaut. Große Liebe, mit
allem Drum und Dran.«
»Tatsächlich?« Der Schlagstock sank noch ein
weiteres Stück, als würde Dillons Redeschwall ihn niederdrücken.
Dann wanderte der Blick des Polizisten zu Eistir hinüber, woraufhin
sie automatisch errötete. »Das ist also McKennas kleine Schwester.
Hübsch. Das Gesicht sollte ich mir merken.«
»Nein, sollst du nicht«, fuhr Niall ihn mit rauer
Stimme an, den nervös tänzelnden Dillon ignorierend.
»Keine Sorge, ich will ihr schließlich nicht den
Hof machen. So einem Kleeblatt schaut man doch höchstens ein Mal
unter die Röcke.«
Weiter kam der Polizist nicht, denn Niall rammte
ihm bereits seine Faust ins Gesicht. Laut fluchend versuchte
Dillon, seinen Bruder zu packen, doch Niall schüttelte ihn ab und
schlug erneut auf den Mann ein, aus dessen Nase bereits Blut
spritzte. Zur Hilflosigkeit verdammt, stand Eistir daneben und
presste die Hand auf ihren Mund, dem unbedingt ein Schrei
entweichen wollte. Stattdessen stieß der Polizist einen dumpfen
Laut aus, als Nialls Faust seinen Magen fand. In diesem Moment kam
Leben in den zweiten Polizisten: Er warf den Schlagstock weg und
zerrte seine Pistole hervor. Eistir glaubte, trotz des um sie herum
ausbrechenden Tumults, das Geräusch zu hören, wie die Waffe
entsichert wurde. Auch Dillon fuhr herum, streckte die Hand nach
dem Mann aus, als wolle er ihn beruhigen. Da erscholl der Schuss,
und Dillon sank getroffen zusammen.
Nun brach endlich der Schrei aus Eistir hervor und
trennte sie von allem anderen. Sie konnte einfach nicht wieder
aufhören. Auf dem Boden lag ihr Bruder, regungslos, während sich
unter ihm eine rote Lache auftat.
Niall erstarrte für einige Atemzüge, dann ließ er
von dem erschlafften Mann ab und drehte sich dem Polizisten zu, der
immer noch mit der ausgerichteten Waffe dastand.
»Stehen bleiben«, keuchte der Mann, in dessen
Gesicht sich nun doch etwas regte.
Aber Niall dachte gar nicht daran.
Es brauchte nicht mehr als einen entschlossenen
Griff, dann hatte er die Waffe des Polizisten in der Hand. Er warf
Eistir noch einen Blick zu, den sie bloß starr erwidern konnte,
dann drückte er ab.