32
Eine unter vielen
Auch nach knapp vier Jahren hatte New York nichts von seinem faszinierenden Eindruck eingebüßt. Die Zwangspause in den Auffanglagern nach der Ankunft war in dem Augenblick verloschen, in dem die Türen hinter Eistir zugeschlagen wurden. Auch die ärmlichen Unterkünfte, das Warten auf einen Job, das man auf den verwahrlosten Straßen hinter sich brachte, waren vergessen. Sogar die scheelen Blicke derjenigen, die sich als Einheimische betrachteten, obwohl sie höchstens ein paar Jahre früher eingewandert waren, änderten nichts an dem glänzenden Bild, das sich tief eingeprägt hatte: eine strahlend erleuchtete Stadt voller Menschen, denen sich Möglichkeiten boten, wenn sie nur den rechten Willen an den Tag legten. Kein Vergleich zu dem endlosen Grün, dem sie den Rücken gekehrt hatten, wo Tatendrang und Hoffnung ins Leere liefen. Sogar Armut fühlte sich in New York anders an, wie ein bitterer Geschmack, den man schon bald mit etwas Süßem übertönen würde. Man brauchte nur die Fähigkeit auszuharren - und darin waren sie alle unschlagbar gut, diese Kunst hatten sie aus ihrer Heimat mitgebracht.
»Eistir! Was stehst du hier draußen herum, obwohl die Musik doch drinnen spielt?«
Mit einem ungeduldigen Handwedeln nahm Eistir ihrem nur ein knappes Jahr älteren Bruder den Wind aus den Segeln. »Na, dann solltest du keine wertvolle Zeit verschwenden und sofort wieder umkehren, Dillon. Wer weiß, an welchem Hals deine Süße ansonsten hängt, wenn du zu lange wartest.«
»Mit siebzehn Jahren bist du eigentlich noch zu jung, um schon so zynisch zu sein. Zwischen Caitlin und mir, das ist Liebe! Wie kannst du daran nur zweifeln?« Es war genau diese überschwängliche und stets einen Hauch zu theatralische Art, die Eistir so sehr an Dillon liebte. Er brachte sie zum Lachen, und wenn sie nicht aufpasste, riss er sie in seinem Sturm mit sich, obwohl sie im Gegensatz zu ihm keine Flügel hatte. Dillon zwar auch nicht, aber das hinderte ihn keineswegs am Fliegen.
Heute Abend saß der jungen Frau der Schalk im Nacken, und sie hatte Lust, ihren Bruder ein wenig aufzuziehen.
»Wenn die Liebe zwischen dir und Caitlin so unendlich groß und alles übertreffend ist, dann brauchst du dir ja keine Sorgen zu machen. Andernfalls müsste man schon mit der Naivität eines Narren gesegnet sein, um einer ehemaligen Animierdame über den Weg zu trauen. Vor allem, wenn man sie sich selbst in einem Etablissement überlässt, das ihre frühere Spielwiese gewesen ist.«
Für einen Moment sah es ganz danach aus, als machte Dillon auf der Stelle kehrt, um sich mit eigenen Augen davon zu überzeugen, dass Eistir auf keinen Fall mit ihrer Andeutung Recht haben konnte. Dann breitete sich jedoch ein Lächeln über sein gesamtes Gesicht aus, jenes Lächeln, das einen in Brand setzen konnte.
Eigentlich wäre es nur fair gewesen, wenn Dillon an meiner Stelle die roten Haare von unserem Vater geerbt hätte. Zu seinem Naturell würden sie besser passen als zu mir, dachte Eistir wie schon unzählige Male zuvor - wohl wissend, dass Dillon ihr sofort widersprechen würde, weil er ihr Temperament für durchaus entzündbar hielt. Es mochte besser verborgen sein, aber sobald es erst einmal freigesetzt war, ließ es sich kaum bändigen.
In ihrer Familie gab es fast ausschließlich starke Persönlichkeiten, doch das Leben, das sie geführt hatten, drohte sie nach und nach zu zerbrechen. IhrVater war nicht mehr als ein Mann, der eine unbändige Wut hegte, wie die weiß aufblitzende Narbe unter Eistirs Auge auch nach Jahren noch bewies.
McKenna hatte seine halbwüchsige Tochter dabei erwischt, wie sie sich an den Schminkutensilien ihrer Mutter bediente, die aus nicht mehr als zwei Farbdosen und einem fast aufgebrauchten Lippenstift bestanden. Niemand wusste, wie ihre Mutter sie überhaupt erstanden hatte. Keine der anderen Frauen im Dorf schminkte sich, eben weil man es nicht tat. Und vielleicht auch, weil der einzige Laden nicht einmal eine ordentliche Gesichtscreme führte. Obwohl über McKennas zurechtgemachte Frau im Ort getuschelt wurde, hatte ihr Vater es nach jahrelanger Zankerei aufgegeben, seiner Frau das Schminken auszutreiben.Ansonsten mochte er sich mit seinen Fäusten stets durchsetzen, aber hier war sie unnachgiebig geblieben.
Eistir hatte sich verträumt den dunkelblauen Lidschatten aufgetragen, weniger aus dem Bedürfnis, sich herauszuputzen, sondern weil die Farbe auf magische Weise ihr Gesicht veränderte. Das Blau verband sich mit dem Grau ihrer Augen, so dass sie an das Meer denken musste.
»Ich bin eine Meerjungfrau«, flüsterte sie und konnte dabei den Blick nicht vom Spiegelbild über der Waschkommode abwenden.
Wie lange ihr Vater bereits in der Tür gestanden und sie beobachtet hatte, konnte sie später nicht sagen. Sehr lange gewiss nicht, denn sein Zorn kochte viel zu schnell über.
»Eistir«, stieß er heiser vor Rage aus. Dann packte er sie am Nacken. »Was tust du da? Dich wie eine Hure anmalen?«
Nein, nur spielen, Papa, wollte sie ihm antworten, doch der Griff in ihrem Nacken war so schmerzlich fest, dass sie nur ein Wimmern hervorbrachte.
Ihr Schweigen nahm ihr Vater nur allzu bereitwillig als Eingeständnis seiner wüsten Vermutungen an. In der einen Sekunde gab er ihren Nacken frei, in der nächsten verpasste er ihr einen groben Schlag gegen den Hinterkopf.
Eistir schlug mit dem Gesicht auf die Kommode auf, wo der offene Porzellantiegel mit dem Lidschatten stand. Die scharfe Kante grub sich tief in die Haut unter ihrem linken Auge. Dabei verspürte Eistir keinen Schmerz, sondern hatte merkwürdigerweise nur das Bild im Kopf, wie jemand eine Messerklinge in Schnee trieb. Als sie sich benommen aufrichtete, sah sie zunächst nur einen weißen Streifen, der sich dann rapide mit Blut füllte, während sie immer noch nicht begriff, was eigentlich geschah.
In der Zwischenzeit hatte ihr Vater den Arm bereits zum nächsten Schlag erhoben, doch er fuhr nicht herunter. Ihr älterer Bruder Niall, selbst schon fast ein Mann, hatte ihn gepackt.
»Das wirst du nicht tun«, sagte Niall seinem Vater mit seiner eindringlichen, oftmals sogar einschüchternden Stimme, und dabei fing seine gerade verheilte Lippe wieder zu bluten an.
Am Tag zuvor hatte McKenna nämlich feststellen müssen, dass sein ältester Sohn nicht länger gewillt war, als Blitzableiter für seine Wutausbrüche herzuhalten. Niall war grün und blau geschlagen aus diesem Kräftemessen hervorgegangen, aber sein alter Herr ebenfalls.
»Bist du noch da? Ich dachte, ich hätte mich klar ausgedrückt, als ich dich aus dem Haus geworfen habe.«
»Mehr als klar«, erklärte Niall. »Ich hole nur, was mir gehört. Eistir, geh und pack deine Sachen, ich nehme dich mit.«
Ohne zu zögern, sprang Eistir auf und drückte sich an ihrem Vater vorbei, der sie mit hasserfüllten Augen ansah, während ihr das Blut über ihre eiskalten Wangen lief. Im letzten Moment langte ihr Vater nach ihrem Arm, doch sie entkam ihm mit einem leisen Aufschrei.
Während sie ihre wenigen Habseligkeiten zusammenpackte, hörte sie Niall sagen: »Ich nehme nur, was du nie gewollt hast. Dillon und Eistir gehen mit mir, denn ich habe begriffen, dass du sie lieber totschlagen wirst, als ihnen dabei zuzusehen, wie sie zu glücklichen Menschen werden.«
»Und ausgerechnet an deiner Seite sollen die beiden glücklich werden?«, gab ihrVater bestimmt zurück. »Dafür bist du mir viel zu ähnlich, mein Sohn. Alles, was du anfasst, zerfällt zu Asche.«
»Wir werden sehen.«
Dabei wohnte Nialls Stimme eine Resignation inne, dass Eistir ihre Sachen fast wieder in den Schrank zurückgelegt hätte. Letztendlich siegte ihre Sehnsucht nach einem anderen Leben und auch ein Stück weit ihre Liebe zu ihrem düsteren, oft abweisend wirkenden Bruder, der sie tatsächlich mitnehmen wollte. Als sie mit ihrem schmalen Bündel auf den Ausgang zuhielt, bemerkte sie im Hauptraum ihre versteinert dastehende Mutter. Sie wollte gerade zu ihr treten, da packte Niall sie fest am Oberarm und führte sie aus dem Haus ihrer Kindheit, ohne ihr einen Blick zurück zu gestatten.
Draußen wartete Dillon auf sie. Kreidebleich, als hätte jemand sein inneres Feuer gelöscht. Als er seine Schwester sah, flammte es jedoch sofort wieder auf. »Auf geht’s!«, sagte er und lief los und sie ihm hinterher, während Niall ihnen wie ein Schatten folgte.
Während der vielen durchweinten Nächte der Überfahrt hatte Eistir oft über diesen Moment nachdenken müssen. Ein Teil von ihr hasste Niall dafür, weil er nicht zugelassen hatte, dass sie sich von ihrer Mutter verabschiedete, ein anderer Teil akzeptierte seine Entscheidung. Es war wie bei dieser biblischen Geschichte, in der man zur Salzsäule erstarrt, sobald man zurückblickt. Wenn einem ein neues Leben angeboten wird, durfte man nur nach vorne schauen. Diese Lehre hatte Eistir mehr verinnerlicht als jede andere.
Nachdenklich starrte Eistir auf die nächtliche Stadt und widerstand dem Verlangen, nach der alten Narbe unter ihrem Auge zu tasten. Obwohl es ihr schwerfiel, warf sie ihre plötzlich aufgekommene Traurigkeit ab und beschloss, Dillon lieber noch ein wenig zu ärgern.
»Du stehst ja immer noch hier draußen, anstatt nach deiner geliebten Caitlin zu sehen. Dieser bullige Geschäftsfreund von Niall hat sie vorhin schon ausgiebig begutachtet. Du solltest dich also besser sputen. Männer, die nur den Lohn eines Hafenarbeiters aufweisen können, müssen schon mit Anwesenheit glänzen, wenn sie ein schönes Ding wie Caitlin halten wollen.«
»Du bist wirklich ein böses Mädchen«, sagte Dillon, was bei ihm wie ein Kompliment klang. Er stellte sich dicht hinter sie und legte ihr sein Jackett um die Schultern. Zwar war es eine schöne Sommernacht, doch auf dem Dach des Hochhauses war wegen des Windes davon wenig zu spüren. Bis eben hatte Eistir gar nicht bemerkt, dass sie in ihrem Abendkleid und der dünnen Stola fror.
»Was treibst du bloß allein hier draußen, Schwesterherz?«
»Wie kann man zwanzig Stockwerke hoch über der Stadt stehen und so eine dumme Frage stellen? Ich brauche mir die Häuser mit ihren erleuchteten Fenstern nur anzusehen, dann ist es fast so, als könne ich das Leben bereits greifen, das ich mir aufbauen werde. Am liebsten sind mir die Ateliers und Bürofluchten, wo Dinge getan werden, die sich nicht auf so unmittelbare Angelegenheiten wie das Kochen der nächsten Mahlzeit oder aufs Bettenmachen beziehen. Da will ich hin.«
»Wäre es für dein Geschlecht nicht eher angemessen, sich nach einem netten Häuschen imVorort zu sehnen?«, fragte Dillon scheinheilig, was ihm einen Ellbogenknuff in die Magengegend einbrachte. Mit übertrieben schmerzverzerrtem Gesicht rieb er sich die getroffene Stelle. »Wenn du nicht so widerspenstig wärst und jedem unter die Nase reiben würdest, dass du fest entschlossen bist, es in dieser Stadt aus eigener Kraft zu etwas zu bringen, dann würde vielleicht sogar ein Kerl mit einem Apartment mit Blick auf den Park bei dir anbeißen.« Dieses Mal war Dillon darauf gefasst und wich ihrem Ellbogen geschickt aus. »Vielleicht irre ich mich, aber ich glaube, Niall hat sogar schon einen passenden Anwärter für dich ausgewählt. Ganz nach der amerikanischen Sitte, nicht auf die Herkunft, sondern auf den Geldbeutel achtend.«
»Komm mir jetzt nicht mit Niall.«
Wie immer gelang es Eistir nicht, den verletzlichen Ton aus ihrer Stimme zu verdrängen, wenn sie von ihrem ältesten Bruder sprach. Niall war die Achillesferse in ihrem neuen Leben, denn sie wusste, dass sie sich ihrem willensstarken Bruder würde widersetzen müssen, wenn sie tatsächlich ihren eigenen Weg gehen wollte. Doch sich gegen Niall aufzulehnen, bereitete ihr beinahe körperliche Schmerzen. Obwohl er oft unnahbar war, verband sie eine Liebe, die sich nicht mit gemeinsamen Glücksmomenten oder geschwisterlicher Zuneigung erklären ließ. Niall wohnte etwas von einem dunklen Traum voller Abgründe inne, vor dem man sich fürchtete und den man zugleich niemals aufgeben wollte. Weil die Dunkelheit einen auf eine ganz besondere Weise in den Bann schlug. Ganz anders als Dillon, der sie allein mit seinem Lachen wärmte.
»Warum, bist du wieder einmal mit Niall aneinandergeraten?«
»Aneinandergeraten kann man nur mit jemandem, den man als echtes Gegenüber wahrnimmt. Für Niall bin ich kein Gegenüber, sondern nur seine kleine Schwester, für die er auf Biegen und Brechen das Beste will.Wobei das Beste natürlich das ist, was Niall dafür hält.«
»Ich stimme dir ja zu, dass er ruhig etwas nachgiebiger mit dir umgehen könnte. Aber du darfst nicht vergessen, dass wir ohne ihn weder nach Amerika gekommen wären noch würden wir heute Abend in feinem Zwirn auf der Dachterrasse eines vornehmen Clubs stehen.«
»Unsere Kleidung ist weder fein noch ist an diesem Laden von Nialls sogenannten Freunden irgendetwas Vornehmes dran. Es ist schlicht ein besser verpacktes Bordell, wohin die Herren ihre Geliebten mitnehmen können, ohne dass die sich mit einer schallenden Ohrfeige für die Abendgestaltung bedanken.«
»Da ist sie wieder, Eistirs größenwahnsinnige Sichtweise. Ohne Niall würdest du dich weiterhin mit Aushilfsjobs herumplagen müssen, bei denen man dich mit einer Handvoll angefaulten Kartoffeln und einem Paar Socken entlohnt. Stattdessen kannst du nun diese nette Ausbildung machen, in der man in geheizten Büros auf Schreibmaschinen tippt. Du glaubst wirklich, du hast was Besseres verdient, was, Süße?«
Für Dillon war das lediglich ihre typische Flachserei, aber Eistir konnte das unmöglich auf sich sitzenlassen. Mit einer kühlen Miene nahm sie sein Jackett von den Schultern und hielt es ihm entgegen. Er hob abwehrend die Hände, während das Lächeln eindeutig an Strahlkraft einbüßte.
»Nimm dein Jackett, oder ich lass es auf den Boden fallen. Ich will nichts Unverdientes, verstehst du? Ich bin keins von diesen billig zurechtgemachten Mädchen wie deine Caitlin, die an der Bar darauf warten, dass ihnen jemand eine Zukunft schenkt, bloß weil sie so süß anzusehen sind. Ich weiß zwar noch nicht, was genau es ist, aber ich kann etwas, und deshalb werde ich mir selbst etwas aufbauen.«
»Solche Reden schwingen und sich dann wundern, dass Niall die Nerven verliert.«
Dillon schüttelte zwar den Kopf, aber Eistir bemerkte trotzdem, dass er sie mit einer gewissen Achtung ansah. Genau so wollte sie von ihren Mitmenschen angesehen werden, und sie wusste, dass sie den nötigen Biss dazu hatte. Schließlich hatte sie mit ihrem Elternhaus den schlimmsten Teil ihres Lebens hinter sich gelassen.
»Niall verliert leicht die Nerven, weil er seine Finger in zu vielen dreckigen Geschäften stecken hat«, hielt sie übermütig dagegen, wobei ihr die Spitze gegen ihren Bruder wie erwartet zusetzte. Ihr blieb jedoch nichts anderes übrig, als gegen Niall zu sticheln, wenn sie sich eines Tages aus seiner eisernen Fürsorge befreien wollte.
Nun fand Dillon sein Lachen doch wieder. »Na, wenigstens hat Niall seine Finger überhaupt irgendwo drin - im Gegensatz zu vielen anderen, die mit uns zusammen in New York angekommen sind. Und jetzt komm mit in die Bar, ansonsten taucht dein ungeliebter Bruder noch auf und hält dir eine Ansprache, die sich gewaschen hat.«
»Nun tu doch nicht so, als ginge es dir lediglich um mich. Du willst bloß schnellstmöglich zurück an die Bar, damit Caitlin dein Bett nicht mit dem eines anderen verwechselt.«
Sofort ging Dillon darauf ein, da ihm dieses Thema unendlich viel lieber war als die Geschäfte, denen Niall nun schon seit fast einem Jahr nachging. Geschäfte, die er zumindest vor seiner jüngeren Schwester gern verborgen hätte.Aber zum einen lebten sie dafür zu eng beisammen, und zum anderen war Eistir viel zu intelligent, um nicht zu begreifen, dass das florierendste Geschäft für irische Immigranten in New York die Mafia war.
 
Wenn man dem Kalender Glauben schenkte, dann hätte sich der Herbst von seiner goldenen Seite zeigen müssen. Stattdessen hatten die wenigen Bäume, die man überhaupt zu Gesicht bekam, ihr Laub bereits abgeworfen und streckten ihre toten Finger tagaus, tagein in den grauen Himmel.
Eistir trat vor dem Ladengeschäft unablässig von einem Fuß auf den anderen, was ihr jedoch wegen ihrer durchnässten Schuhe nicht weiterhalf. Ihre Zehen fühlten sich vor Kälte schon ganz taub an.Tapfer ein Lied vor sich hinsummend, raffte sie den Pelzkragen ihres Mantels zusammen, wobei es ihr schwerfiel, den muffigen Geruch zu ignorieren. Dillon hatte ihn ihr vor einigen Tagen als Einstand für ihren ersten Job als Aushilfssekretärin in einer Werbeagentur geschenkt, und zunächst hatte sie ihn vehement abgelehnt.
»Nun sei nicht so schüchtern, schließlich hat er kein Vermögen gekostet. Ist doch nur ein gebrauchtes Stück«, hatte Dillon ihr, mit seiner Geduld am Ende, vorgehalten.
»Gebraucht oder nicht, das wenige Geld, das du am Hafen verdienst, kannst du bald für was Besseres gebrauchen.«
»Ach, da liegt also unser Problem. Du hast mit Caitlin gesprochen.« Dillon legte die Stirn in Falten, eine Miene, die man bei ihm in der letzten Zeit häufiger sah, wie Eistir unglücklich feststellte. »Nun, bis zum freudigen Ereignis sind es ja noch fast sieben Monate. Mir bleibt also noch genug Zeit, um das Geld für Windeln und eine Wiege anzuschaffen. Außerdem ist der Mantel nicht irgendein beliebiges Geschenk, sondern eine Art Glückwunsch zu deinem ersten Job. Hast dich ja ordentlich angestrengt dafür.«
Daraufhin hatte Eistir den Mantel angenommen, mit einem glücklichen Strahlen im Gesicht. Heute hatte sie ihren ersten Lohn ausgezahlt bekommen - eine lächerlich geringe Summe für unendlich viele und langweilige Stunden der Tipperei, aber sie war stolz und wollte ihre Brüder ins Kino einladen.
An den Freitagabenden trafen sich die beiden Brüder mit einigen anderen Männern aus dem Viertel in einem Hinterzimmer zum Kartenspiel. Ein Blick auf die Uhr, die über dem Eingang zur Subway hing, verriet Eistir, dass die Spielzeit eigentlich schon vorbei sein musste. Die anderen Mitspieler mochten den Ausgang des Ladens zwar erst deutlich später finden, eingelullt von Zigarettenrauch und Whiskey, aber in Niall tickte ein inneres Uhrwerk. Er wollte hören, wie es seiner Schwester den Tag über ergangen war, bevor er sich zu seinen abendlichen Geschäften absetzte. Außerdem ging es ihm gegen den Strich, wenn einige Männer, mit denen er geschäftlich zu tun hatte, gleich nach dem Ende des Spiels über ihre Angelegenheiten schwadronierten, die für Dillons Ohren nicht bestimmt waren.
Mr Murray, der Besitzer des Ladens mit dem auffällig angestaubten Inventar, hatte einmal seinen kahlen Kopf zur Tür herausgestreckt und Eistir gefragt, warum sie - verflucht noch mal - nicht einfach reinkäme und im Warmen wartete, bis die Männer mit dem Spiel fertig wären? Doch Eistir hatte nur mit dem Kopf geschüttelt. Nicht bloß, weil Mr Murray aussah wie ein Troll, der einer Kindergeschichte entsprungen war, sondern weil sie mit dieser Art von Gesellschaft möglichst wenig zu tun haben wollte. Wenn Niall sich die Finger schmutzig machte, war das seine Sache, denn sie liebte ihn trotzdem. Doch von den anderen Männern wollte sie am liebsten nicht einmal die Namen kennen.
Als Dillon endlich in der Tür auftauchte, waren sämtliche trüben Gedanken vergessen.
»Rate mal, was ich hier in meiner Manteltasche habe«, platzte es aus Eistir heraus.
»Deine Hand, an der ein Verlobungsring von eurem Starwerbeheini steckt, dem es gleich in der ersten Woche gelungen ist, dich erfolgreich zu schwängern?«
»Dieser lahme Witz verrät nur, wie wenig Ahnung du vom Thema Verlobung unter normalen Umständen hast. Es gibt auch Männer, die sich verloben, ehe ihre Süße schwanger ist.«
Dillon lehnte sich vor und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »So hübsch und so unsäglich naiv. Also, läuft da tatsächlich was mit einem Werbeheini?« Doch bevor er fortfahren konnte, tauchte Nialls dunkle Silhouette neben ihnen auf.
»Über was für einen Unsinn redest du da, Dillon?«
Wie immer spürte Eistir einen Stich beim Anblick ihres ältesten Bruders. Anders als bei Dillon war Nialls Ausdruck von einer düsteren Ernsthaftigkeit bestimmt, als würde er den natürlichen Gegensatz zu seinem überschäumenden Bruder bilden. Trotzdem wies er eine Anziehungskraft auf, die Eistir - wie auch viele andere - beeindruckte: Niall war nicht nur eine beeindruckende Persönlichkeit, sondern darüber hinaus ein gut aussehender Mann mit klar geprägten Gesichtszügen und von schwarzen Wimpern umrahmten Augen, deren eindringlichem Blick man sich nicht entziehen konnte. Es war jedoch ein Fehler, in den ebenholzfarbenen Augen zu versinken, denn das dunkle Glimmen in ihnen verriet viel mehr über Nialls Wesen, das unleugbar von ihrem Vater geprägt worden war.
»Ich möchte euch beide von meinem ersten Lohn ins Kino einladen«, brachte Eistir hervor, während Niall sich zu einem Begrüßungskuss vorbeugte. Er roch nach Metall und frischem Schweiß.
»Das ist gut gemeint, aber das brauchst du nicht zu tun.« Niall musterte sie eingehend wie immer, als könne er ihr jeden Gedanken direkt vom Gesicht ablesen. »Kauf dir lieber etwas Schönes, vielleicht einen Reif für dein Haar. Dann könntest du es häufiger offen tragen.«
Unwillkürlich fuhr Eistirs Hand zu dem strengen Knoten an ihrem Hinterkopf, als wolle sie das Haar lösen, um den zärtlichen Tonfall in der Stimme ihres Bruders noch einmal hervorzurufen.
Dillon lachte. »Oder du kaufst dir ein Paar Handschuhe, dann laufen deine Finger auch nicht mehr vor Kälte blau an.«
Dillons gute Laune blühte mit jedem Moment mehr auf, während Nialls Blick auf das Ladeninnere gerichtet war, wo sich nach und nach die Männer aus ihrer Spielrunde an der Theke einfanden. Mittlerweile war es ihm ein Dorn im Auge, wenn Eistir sich im Dunstkreis seiner Freunde aufhielt. Seit sie ihre Ausbildung abgeschlossen hatte, sah er seine Schwester nicht mehr an der Seite eines Landmanns, der sich am Hafen verdingte oder gar ganz anderen Geschäften nachging. Der Gedanke an die Werbeagentur gefiel ihm immer besser. Studierte Männer aus ordentlichen Familien.Von ihnen dreien standen die Chancen für Eistir in dieser Stadt am besten, und er würde nicht zulassen, dass sie sie nicht wahrnahm.
»Ach, kommt schon, Jungs«, bettelte Eistir. »Lasst euch von mir ins Kino einladen. Das habe ich mir doch verdient.«
Augenblicklich nahm Niall sie ins Visier. »Geht es hier um eine Einladung oder darum, zu beweisen, dass du endlich diese elende Selbstbestimmtheit erreicht hast, mit der du uns ständig in den Ohren liegst?«
»Niall, nun sei doch nicht so«, mischte Dillon sich ein. »Was spricht denn gegen einen Kinobesuch? So grau, wie du um die Nase bist, kann dir ein wenig Abwechslung nur guttun.«
Zunächst sah es so aus, als würde Niall zu einer seiner strengen Erwiderungen ansetzen, aber dann lenkte er ein. »Meinetwegen. Aber dann etwas Trauriges, etwas mit Seele. Eine von diesen amerikanischen Komödien könnte ich jetzt nicht ertragen.«
 
Als die Geschwister das Kino verließen, war es bereits tiefste Nacht. Doch in den Straßenschluchten von New York spielte das keine Rolle, die Dunkelheit wurde von unzähligen Lichtern und Leuchtreklamen verdrängt. Mit einem wohligen Schaudern dachte Eistir an die Schwärze, die sich vom Herbst bis ins Frühjahr hinein über ihren Hof in Irland gelegt hatte. Undurchdringlich, gerade so, als würde sie nach einem greifen. Da mochte das Kunstlicht, das durch die fadenscheinigenVorhänge ihres Apartments drang, ihr den Schlaf rauben, aber sie war sich sicher, niemals wieder woanders als in einer Großstadt leben zu wollen.
Dillon legte ihr einen Arm um die Schultern, als sie vor dem pompösen Eingang des Kinos stehen blieben, in das selbst zu dieser Stunde noch neue Gäste strömten. Niall stand leicht abseits von ihnen, um sich eine Zigarette anzuzünden. Er konnte es nicht ausstehen, dass in den Vorführsälen geraucht werden durfte, weil der Qualm die Bilder mit einem grauen Schleier überzog. Immer wieder musste Dillon während derVorführung beruhigend auf ihn einreden, damit er die rauchenden Gäste nicht übermäßig anmaulte.
Nach wie vor beschäftigte es Eistir, wie zwei Brüder bloß so unterschiedlich und gleichzeitig vertraut miteinander sein konnten. Wie sie selbst in dieses Dreieck passte, war ihr ohnehin ein Rätsel. Die Vorstellung, dass Dillon ihnen verlorenging, sobald er eine Bleibe für die schwangere Caitlin und sich gefunden hatte, bereitete ihr ordentliches Magengrimmen. Wie sollte es ihr gelingen, den aufbrausenden Niall allein in der Balance zu halten? Obwohl er es ihr alles andere als leichtmachte, war sie Niall genauso zugetan wie Dillon. Hätte man sie vor die Wahl gestellt, dann hätte sie tatsächlich nicht sagen können, wen von beiden sie eigentlich bevorzugte.
»Ich muss zugeben, im Nachhinein bin ich unglaublich froh, dass Niall uns in diesen alten Schinken über Tristan und Isolde geschleppt hat. Der Ausdruck auf seinem Gesicht, als es Tristan dahingerafft hat, war es absolut wert. In Nialls Brust wohnt eben die schöne Seele eines Romantikers - er kann sogar bei sterbenden Engländern mitleiden.«
»Das habe ich gehört«, sagte Niall, wobei er bei jedem Wort Rauch ausstieß. Zur allgemeinen Überraschung brachte er tatsächlich ein Lächeln zustande, das Eistir niemals vergessen sollte. Mit einer lässigen Bewegung schnippte er die Zigarettenkippe in den Rinnstein und schlenderte zu ihnen hinüber. Ehe er sie jedoch erreichte, legte sich eine Hand auf seine Schulter.
»Niall McKenna. Dachte ich mir doch, dass ich richtig gesehen habe.« Der hochgewachsene Polizeibeamte nickte seinem Kollegen zu, der keine Miene verzog. »Hast du dich verlaufen? Ihr Hafenratten treibt euch doch ansonsten nicht außerhalb eures Reviers herum.«
Augenblicklich war das Lächeln von Nialls Gesicht verschwunden. Zurück blieb der Ausdruck eines Mannes, um den man besser einen weiten Bogen machte, wenn man es nicht gerade auf eine Auseinandersetzung anlegte. »Vielleicht hat mich ja der schmutzige Gestank von ein paar Uniformträgern angezogen.«
Während die beiden Polizisten zeitgleich ihre Schlagstöcke zogen, trat Dillon mit erhobenen Händen dazwischen. »Hoho, kein Grund zur Aufregung. Alles bestens. So ein netter Abend, überall sind gut gelaunte Leute unterwegs, darunter auch einige Damen, und die wollen wir doch nicht erschrecken.«
»Noch eine McKenna-Ratte?«, fragte der Polizist gereizt, doch zumindest senkte er den Schlagstock. Sein Kollege mit dem versteinerten Gesicht folgte seinem Beispiel allerdings nicht, wie Eistir beunruhigt feststellte.
»Jawohl, und zwar eine echte«, betonte Dillon, als sei das der beste Witz, den er je gehört hatte. »Und da drüben steht die dritte im McKenna-Bunde, wir haben uns mit unserer Schwester nämlich gerade einen Film angeschaut. Große Liebe, mit allem Drum und Dran.«
»Tatsächlich?« Der Schlagstock sank noch ein weiteres Stück, als würde Dillons Redeschwall ihn niederdrücken. Dann wanderte der Blick des Polizisten zu Eistir hinüber, woraufhin sie automatisch errötete. »Das ist also McKennas kleine Schwester. Hübsch. Das Gesicht sollte ich mir merken.«
»Nein, sollst du nicht«, fuhr Niall ihn mit rauer Stimme an, den nervös tänzelnden Dillon ignorierend.
»Keine Sorge, ich will ihr schließlich nicht den Hof machen. So einem Kleeblatt schaut man doch höchstens ein Mal unter die Röcke.«
Weiter kam der Polizist nicht, denn Niall rammte ihm bereits seine Faust ins Gesicht. Laut fluchend versuchte Dillon, seinen Bruder zu packen, doch Niall schüttelte ihn ab und schlug erneut auf den Mann ein, aus dessen Nase bereits Blut spritzte. Zur Hilflosigkeit verdammt, stand Eistir daneben und presste die Hand auf ihren Mund, dem unbedingt ein Schrei entweichen wollte. Stattdessen stieß der Polizist einen dumpfen Laut aus, als Nialls Faust seinen Magen fand. In diesem Moment kam Leben in den zweiten Polizisten: Er warf den Schlagstock weg und zerrte seine Pistole hervor. Eistir glaubte, trotz des um sie herum ausbrechenden Tumults, das Geräusch zu hören, wie die Waffe entsichert wurde. Auch Dillon fuhr herum, streckte die Hand nach dem Mann aus, als wolle er ihn beruhigen. Da erscholl der Schuss, und Dillon sank getroffen zusammen.
Nun brach endlich der Schrei aus Eistir hervor und trennte sie von allem anderen. Sie konnte einfach nicht wieder aufhören. Auf dem Boden lag ihr Bruder, regungslos, während sich unter ihm eine rote Lache auftat.
Niall erstarrte für einige Atemzüge, dann ließ er von dem erschlafften Mann ab und drehte sich dem Polizisten zu, der immer noch mit der ausgerichteten Waffe dastand.
»Stehen bleiben«, keuchte der Mann, in dessen Gesicht sich nun doch etwas regte.
Aber Niall dachte gar nicht daran.
Es brauchte nicht mehr als einen entschlossenen Griff, dann hatte er die Waffe des Polizisten in der Hand. Er warf Eistir noch einen Blick zu, den sie bloß starr erwidern konnte, dann drückte er ab.
Nachtglanz - Heitmann, T: Nachtglanz
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