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Von einem der auszog sich selbst zu
vergessen
Der Wintergarten des Grand Hôtels galt nicht nur
als wahres Schmuckstück, sondern sah auch wie ein Edelstein aus mit
seiner quadratischen Form und dem sich nach oben hin verjüngenden
Glasdach. Auf dem Boden lagen Orientteppiche, in den Kübeln wuchsen
Palmen. In den locker verteilten Sitzgruppen saß das vornehme
Publikum und trank Tee, eine moderne Erscheinung, die es auch den
Damen ermöglichte, auszugehen.Waren Cafébesuche für sie doch
undenkbar.
Mit einer theatralischen Geste, bei der Adam ein
Schmunzeln unterdrücken musste, ließ Toska den Mantel von ihren
Schultern gleiten und offenbarte ein für den Nachmittag äußerst
tief dekolletiertes Kleid.Während er sich um die Mäntel kümmerte,
ordnete sie ihr Haar, das lockig an ihren verschwitzen Schläfen
klebte. Auch wenn der Pelz und das Wiedersehen mit ihrer
verflossenen Liebe ihr kräftig eingeheizt hatten, so ließ sich
Toska nicht im Geringsten gehen. Sie ist ein zähes Luder, dachte
Adam amüsiert, als sie mit einem gewissen Besitzanspruch seinen Arm
nahm und auf einen Tisch wies, der ihr genehm wäre. Natürlich der
in der Mitte, welch große Überraschung.
»Nun«, sagte Toska, nachdem sie ihre Röcke geordnet
hatte. »Dann lass einmal hören, was du dir ausgedacht hast, um mein
Interesse zurückzugewinnen, Charles.«
Obwohl es nicht sonderlich schicklich war, streckte
Adam seine langen Beine unter dem Tisch aus. Das Ganze bereitete
ihm zunehmend Vergnügen. »Es wäre mir lieber, wenn du mich bei
meinem richtigen Namen nennen würdest,Toska. Ich weiß nicht, was
zwischen Charles und dir vorgefallen ist, aber wir beide wollen
doch schön brav bei der Wahrheit bleiben.«
»Wahrheit?« Toska lächelte amüsiert. »Wenn du dich
nach der Wahrheit sehnst, dann kannst du wirklich nicht Charles
sein. Denn nichts verachtet er mehr als die Wahrheit. Bei ihm ist
alles Lüge und Verwirrung.Willst du wirklich darauf bestehen,
Charles’ Bruder zu sein?«
»Spricht etwas dagegen?«
»Nun ja, du bist mit der Behauptung aufgetreten,
sein Zwillingsbruder zu sein.«
Toska hielt inne und studierte seinen
Gesichtsausdruck. Adam spürte, dass sie etwas von ihm erwartete,
doch er hatte keine Ahnung, um was es ihr gehen konnte. Also hielt
er ihrem Blick so lange stand, bis sie ein nervöses Schnauben
ausstieß und mit einem Silberlöffel zu spielen begann.
»Die Lösung des Geheimnisses ist, dass es in
Wirklichkeit gar keinen Charles gibt. Wie kann er da einen Bruder
haben, der nach ihm sucht?«
»Was soll das?« Plötzlich stieg Panik in Adam auf,
die er jedoch sofort verdrängte. Diese Fährte konnte nicht ins
Leere führen, dessen war er sich zu sicher.Alles an dieser jungen
Frau war ein Versprechen darauf, ihm bei seiner Suche nach seinem
verlorenen Ich zu helfen - auch wenn er sich ihr keineswegs
verbunden fühlte. »Du hast mich selbst mit diesem Namen
angesprochen, falls du das vergessen haben solltest, meine Liebe.
Wenn du Freude an einer Lügengeschichte hast, dann spinn sie bitte
raffinierter, ansonsten verliere ich unangemessen schnell das
Interesse an deiner Gesellschaft.«
Toska sah ernsthaft erschrocken aus und legte ihm
rasch eine
Hand auf den Unterarm. »Bitte geh nicht. Damit wollte ich doch
bloß sagen, dass Charles eine deiner Erfindungen war, genau wie
dieser Remo, in dessen Haut du dir Paris ansehen wolltest. Ein
Lebemann aus Italien, der sich keinen Deut um gesellschaftliche
Konventionen schert und eintaucht in die Abenteuer dieser
Weltstadt.Wir haben so getan, als würden wir uns zum ersten Mal
hier im Wintergarten begegnen. Remo und Toska, zwei Reisende, die
sich auf eine leidenschaftliche Affäre einlassen, bevor jeder
wieder seines Weges geht. Deiner führte angeblich mit dem
Orientexpress nach Konstantinopel. Habe ich doch geahnt, dass du
nicht wirklich vorhast, mich zu verlassen.«
Langsam gewann Toska ihre alte Selbstsicherheit
zurück. Ihre Hand blieb auf Adams Arm liegen, während sie sich in
dem gepolsterten Stuhl zurücklehnte.
»Du liebst es, Identitäten zu erschaffen, wie
Künstler Bilder malen oder Schriftsteller Geschichten erfinden. Und
heute bist du also Adam auf der Suche nach seinem verlorenen Bruder
Charles. Jenem Charles, der mir in Lucca den Kopf mit seinen
romantischen Ideen verdreht hat. Ein angeblich mittelloser Musiker,
der ziellos umherstreift. Du bist ein Schelm, wie er im Buche
steht. Bestimmt war dieses Zusammentreffen im Foyer bis ins letzte
Detail geplant. Fast hätte ich dir das Schauspiel sogar abgenommen,
weil du dich als Adam vollkommen anderes bewegst und deine
Ausstrahlung verändert ist. Düster, fast ein wenig bedrohlich. Ich
war wirklich für einen Augenblick sprachlos, das muss ich dir
lassen. Aber deine Augen verraten dich: Es kann einfach niemand
anderen mit solchen Augen geben, die wie grüne Labradorite
schimmern. Dieses irisierende, leicht metallische Farbenspiel ist
einzigartig.Trotzdem - ein wirklich gut inszenierter Auftritt!
Selbst dieser elegante Herr, der sich als dein Onkel ausgegeben
hat, war ganz wunderbar. Nun, ich will ihm in nichts
nachstehen.Also, was könnte Adam
wohl von mir erwarten, welche Rolle soll ich spielen?« Klirrend
ließ sie den Löffel auf die Untertasse fallen, als ihr plötzlich
eine Idee kam. »Du möchtest mich dazu bringen, dass ich dir dein
eigenes Kunstwerk namens Charles beschreibe, richtig? Darum geht es
dir!«
Da war es wieder, Toskas siegessicheres Lächeln.
Dieses Mal brachte es Adam dazu, die Armlehnen seines Sessels so
fest zu umfassen, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Seine Kehle
zog sich immer enger zusammen, und er fragte sich, wie viele
verwirrende Fährten sein altes Ich mit seinen Spielchen wohl gelegt
haben mochte. Wie oft würde er sich auf seiner Suche in einer
Sackgasse wiederfinden, während er einem Mann hinterherlief, für
den es offensichtlich ein Vergnügen gewesen war, Identitäten zu
erschaffen? Ein Vergnügen oder vielleicht ein dunkler Zwang, um mit
dem brechen zu können, der er eigentlich war …
Glücklicherweise ahnte Toska nichts von seiner
Anspannung; sie war viel zu stolz darauf, den raffinierten Plan
ihres Liebhabers durchschaut zu haben. »Gut, fangen wir an. Aber
nur, weil mir ansonsten der Nachmittag zu lang wird, das sollst du
ruhig wissen. Was möchtest du über dich - pardon - über Charles
erfahren?«
»Ich interessiere mich nicht für Charles«, brachte
Adam mühevoll hervor. »Ich will wissen, wer der Mann hinter der
Maske war, die er aus welchen Gründen auch immer erschaffen hat.«
Frustriert schnaufte er durch die Nase. »Falls es dir überhaupt
jemals gelungen ist, einen Blick hinter die Fassade zu
werfen.«
Toska gab vor, ein Lachen hinter ihrer Hand zu
verstecken. »Also wirklich, was bist du bloß für ein schamloser
Narzisst. Ich weiß, du glaubst eine gequälte Seele zu sein, die
sich selbst nicht ertragen kann und sich deshalb ständig neu
erschaffen will. Schließlich war das dein Lieblingsthema, sobald du
zu viel Wein getrunken hattest. Dass du es nicht erträgst, du
selbst zu sein. Aber glaub mir, jemand, der so viel Aufwand
betreibt, um
seine Vergangenheit auszulöschen, ist ganz vernarrt in sein Ich.
Ansonsten würde man doch kein solches Aufhebens um die eigene
Person machen, wenn du mich fragst.«
Mit einer schnellen Bewegung packte Adam sie am
Handgelenk und drückte so fest zu, dass sie empört nach Luft
schnappte. »Ich frage dich aber nicht. Es ist mir gleichgültig, was
du über Charles denkst. Erzähl mir einfach, was ich geredet habe,
wenn ich betrunken war.Wie lautet mein wahrer Name, aus welchem
Land stamme ich?«, forderte er sie mit scharfem Ton auf, woraufhin
Toska verängstigt blinzelte. Unvermittelt wurde er sich seiner
Impulsivität bewusst und löste den Griff, wenn auch nur
widerwillig. Ihre Unbeschwertheit angesichts eines Anliegens, das
ihm alles bedeutete, reizte ihn.
»Ist ja schon gut, du Hitzkopf.Warum muss nur immer
dein Temperament so schnell mit dir durchgehen?«
Mit einer Leidensmiene massierte Toska ihr
Handgelenk, bis Adam sie schon anfahren wollte, endlich mit der
Schauspielerei aufzuhören. Da bemerkte er die roten Fingerabdrücke
auf ihrer Haut. Er hatte tatsächlich fester zugegriffen, als ihm
bewusst gewesen war.
»Es tut mir leid, ich wollte dir nicht
wehtun.«
Toska stieß ein bitteres Lachen aus. »Das sagst du
immer - hinterher. Erst nimmst du dir, was du willst, ohne
Rücksicht auf Verluste, und dann wirfst du einem eine
Entschuldigung hin. Ich weiß wirklich nicht, warum ich mich
überhaupt mit dir abgebe.«
Nachdenklich strich Adam sich die Haare aus der
Stirn, während er versuchte, sich ein Bild von Toska zu machen -
ohne daran zu denken, dass sie der Schlüssel zu seiner
Vergangenheit war.Wäre sie ihm auf der Straße begegnet, hätte er
sich nach ihr umgesehen? Nun, vielleicht um einen weiteren Blick
auf ihre blonden Locken zu werfen oder um sich über ihre eitle,
aber nichtsdestotrotz charmante Art zu amüsieren. Nur
ein Bedürfnis, ihre Aufmerksamkeit zu erregen, um ein Recht auf
ihre Nähe zu erwerben, löste sie keineswegs aus. Nein, da war kein
Gefühl auf seiner Seite. Wie soll auch jemand, der einen
blutrünstigen Dämon in sich trägt, etwas wie Zuwendung oder gar
Liebe empfinden?, fragte er sich, und der bittere Geschmack der
Enttäuschung breitete sich in seinem Rachen aus. Nun, vielleicht
würde es dieser Frau zumindest gelingen, die Erinnerung zu wecken.
Alles andere bedeutete, den Kampf aufzugeben und sich dem Willen
des Dämons zu überlassen.
»Habe ich dich geliebt?«
Im ersten Moment sah es so aus, als würde Toska
sich für ein künstliches Lachen als Reaktion auf diese
unvermittelte Frage entscheiden. Dann schluckte sie und sagte
leise: »Du hast es mir nie gesagt, obwohl du den ganzen Herbst und
Winter mit mir in der Toskana verbracht hast, ohne auch nur einer
anderen Frau hinterherzusehen. Aber ich bin … ich war verliebt in
dich.«
Das Geständnis brachte Adam aus der Fassung. Mit
einem Mal kam es ihm erbarmungslos vor,Toska derartig in die Ecke
zu drängen, obwohl er allem Anschein nach schon genug Schindluder
mit ihren Gefühlen getrieben hatte.
Doch gerade als er sich entschuldigen wollte, fügte
sie noch einen Satz hinzu, der alles änderte: »Welche Frau kann
einem so schönen Gesicht wie deinem schon widerstehen? Da ist es
doch ganz gleich, ob du Charles, Adam oder wie auch immer heißen
magst. Ich hätte mir jede von deinen verrückten Ideen angehört und
jedes noch so absurde Spiel mitgemacht, solange du dafür an meiner
Seite bleibst.« Toska lehnte sich aufreizend weit nach vorne, so
dass ihr Dekolleté einen prachtvollen Anblick bot. »Wir zwei passen
perfekt zueinander, weil wir beide nicht nach der Liebe suchen,
sondern nach jemandem, der unsere Bedürfnisse erfüllt, ohne uns
dafür zu verachten.Wenn ich dich ansehe, habe ich das Gefühl, ich
blicke in einen Spiegel. Mag sein, dass du mich nicht geliebt hast,
aber du hast mich
gebraucht.Weil ich die Einzige war, die überhaupt wusste, dass es
jemanden hinter der Maske gab, auch wenn ich diesen geheimnisvollen
Fremden niemals kennengelernt habe.«
»Das hast du tatsächlich nicht, nicht wahr?«
Obwohl Adam registrierte, wie gefährlich ruhig,
fast einschmeichelnd seine Stimme geworden war, kümmerte er sich
nicht um dieses erste Anzeichen für einen Temperamentsausbruch.
Plötzlich interessierte ihn nur noch der verführerische Duft, der
von Toskas leicht geröteter Haut am Dekolleté aufstieg und ihre
Erregung verriet. Das Rascheln ihrer Röcke, das berühmte
Foufou, knisterte in seinen Ohren. Langsam, fast als hoffe
er, sie würde ihn davon abhalten, streckte er die Hand aus, um eine
der feinen Locken an ihren Schläfen zu berühren.Aber Toska dachte
gar nicht daran, sich zurückzuziehen. Stattdessen schenkte sie ihm
ein aufmunterndes Lächeln, das lockend ihre Lippen umspielte, die
sie einen Hauch - einer Einladung gleich - öffnete.
Dabei hätte es keiner deutlichen Einladung bedurft,
zumindest nicht für Adam. Seine Sinne spielten ihm ihre Lüsternheit
mühelos zu. Und nach ihrem Geständnis sah er keinen Grund mehr,
warum er sich zurückhalten sollte, da sich ihr Interesse mit seinem
deckte.Wenn es schon keine Liebe in seinem alten Leben gegeben
hatte, so zumindest Verlangen. Was schon einmal eine Verbesserung
war, wie Adam zynisch dachte, hatte es ihn in den letzten Tagen
doch nur nach Blut verlangt. Es sprach also nichts dagegen, dieser
Lust, die eine rein menschliche war, ohne Hemmungen
nachzugeben.
Hastig half Adam Toska auf und eilte mit ihr durchs
Foyer die geschwungene Treppe hinauf, ohne einen Blick für den
sichtlich aufgebrachten Mâitre de réception oder das belustigte
Publikum übrigzuhaben.