12
Von einem der auszog sich selbst zu vergessen
Der Wintergarten des Grand Hôtels galt nicht nur als wahres Schmuckstück, sondern sah auch wie ein Edelstein aus mit seiner quadratischen Form und dem sich nach oben hin verjüngenden Glasdach. Auf dem Boden lagen Orientteppiche, in den Kübeln wuchsen Palmen. In den locker verteilten Sitzgruppen saß das vornehme Publikum und trank Tee, eine moderne Erscheinung, die es auch den Damen ermöglichte, auszugehen.Waren Cafébesuche für sie doch undenkbar.
Mit einer theatralischen Geste, bei der Adam ein Schmunzeln unterdrücken musste, ließ Toska den Mantel von ihren Schultern gleiten und offenbarte ein für den Nachmittag äußerst tief dekolletiertes Kleid.Während er sich um die Mäntel kümmerte, ordnete sie ihr Haar, das lockig an ihren verschwitzen Schläfen klebte. Auch wenn der Pelz und das Wiedersehen mit ihrer verflossenen Liebe ihr kräftig eingeheizt hatten, so ließ sich Toska nicht im Geringsten gehen. Sie ist ein zähes Luder, dachte Adam amüsiert, als sie mit einem gewissen Besitzanspruch seinen Arm nahm und auf einen Tisch wies, der ihr genehm wäre. Natürlich der in der Mitte, welch große Überraschung.
»Nun«, sagte Toska, nachdem sie ihre Röcke geordnet hatte. »Dann lass einmal hören, was du dir ausgedacht hast, um mein Interesse zurückzugewinnen, Charles.«
Obwohl es nicht sonderlich schicklich war, streckte Adam seine langen Beine unter dem Tisch aus. Das Ganze bereitete ihm zunehmend Vergnügen. »Es wäre mir lieber, wenn du mich bei meinem richtigen Namen nennen würdest,Toska. Ich weiß nicht, was zwischen Charles und dir vorgefallen ist, aber wir beide wollen doch schön brav bei der Wahrheit bleiben.«
»Wahrheit?« Toska lächelte amüsiert. »Wenn du dich nach der Wahrheit sehnst, dann kannst du wirklich nicht Charles sein. Denn nichts verachtet er mehr als die Wahrheit. Bei ihm ist alles Lüge und Verwirrung.Willst du wirklich darauf bestehen, Charles’ Bruder zu sein?«
»Spricht etwas dagegen?«
»Nun ja, du bist mit der Behauptung aufgetreten, sein Zwillingsbruder zu sein.«
Toska hielt inne und studierte seinen Gesichtsausdruck. Adam spürte, dass sie etwas von ihm erwartete, doch er hatte keine Ahnung, um was es ihr gehen konnte. Also hielt er ihrem Blick so lange stand, bis sie ein nervöses Schnauben ausstieß und mit einem Silberlöffel zu spielen begann.
»Die Lösung des Geheimnisses ist, dass es in Wirklichkeit gar keinen Charles gibt. Wie kann er da einen Bruder haben, der nach ihm sucht?«
»Was soll das?« Plötzlich stieg Panik in Adam auf, die er jedoch sofort verdrängte. Diese Fährte konnte nicht ins Leere führen, dessen war er sich zu sicher.Alles an dieser jungen Frau war ein Versprechen darauf, ihm bei seiner Suche nach seinem verlorenen Ich zu helfen - auch wenn er sich ihr keineswegs verbunden fühlte. »Du hast mich selbst mit diesem Namen angesprochen, falls du das vergessen haben solltest, meine Liebe. Wenn du Freude an einer Lügengeschichte hast, dann spinn sie bitte raffinierter, ansonsten verliere ich unangemessen schnell das Interesse an deiner Gesellschaft.«
Toska sah ernsthaft erschrocken aus und legte ihm rasch eine Hand auf den Unterarm. »Bitte geh nicht. Damit wollte ich doch bloß sagen, dass Charles eine deiner Erfindungen war, genau wie dieser Remo, in dessen Haut du dir Paris ansehen wolltest. Ein Lebemann aus Italien, der sich keinen Deut um gesellschaftliche Konventionen schert und eintaucht in die Abenteuer dieser Weltstadt.Wir haben so getan, als würden wir uns zum ersten Mal hier im Wintergarten begegnen. Remo und Toska, zwei Reisende, die sich auf eine leidenschaftliche Affäre einlassen, bevor jeder wieder seines Weges geht. Deiner führte angeblich mit dem Orientexpress nach Konstantinopel. Habe ich doch geahnt, dass du nicht wirklich vorhast, mich zu verlassen.«
Langsam gewann Toska ihre alte Selbstsicherheit zurück. Ihre Hand blieb auf Adams Arm liegen, während sie sich in dem gepolsterten Stuhl zurücklehnte.
»Du liebst es, Identitäten zu erschaffen, wie Künstler Bilder malen oder Schriftsteller Geschichten erfinden. Und heute bist du also Adam auf der Suche nach seinem verlorenen Bruder Charles. Jenem Charles, der mir in Lucca den Kopf mit seinen romantischen Ideen verdreht hat. Ein angeblich mittelloser Musiker, der ziellos umherstreift. Du bist ein Schelm, wie er im Buche steht. Bestimmt war dieses Zusammentreffen im Foyer bis ins letzte Detail geplant. Fast hätte ich dir das Schauspiel sogar abgenommen, weil du dich als Adam vollkommen anderes bewegst und deine Ausstrahlung verändert ist. Düster, fast ein wenig bedrohlich. Ich war wirklich für einen Augenblick sprachlos, das muss ich dir lassen. Aber deine Augen verraten dich: Es kann einfach niemand anderen mit solchen Augen geben, die wie grüne Labradorite schimmern. Dieses irisierende, leicht metallische Farbenspiel ist einzigartig.Trotzdem - ein wirklich gut inszenierter Auftritt! Selbst dieser elegante Herr, der sich als dein Onkel ausgegeben hat, war ganz wunderbar. Nun, ich will ihm in nichts nachstehen.Also, was könnte Adam wohl von mir erwarten, welche Rolle soll ich spielen?« Klirrend ließ sie den Löffel auf die Untertasse fallen, als ihr plötzlich eine Idee kam. »Du möchtest mich dazu bringen, dass ich dir dein eigenes Kunstwerk namens Charles beschreibe, richtig? Darum geht es dir!«
Da war es wieder, Toskas siegessicheres Lächeln. Dieses Mal brachte es Adam dazu, die Armlehnen seines Sessels so fest zu umfassen, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Seine Kehle zog sich immer enger zusammen, und er fragte sich, wie viele verwirrende Fährten sein altes Ich mit seinen Spielchen wohl gelegt haben mochte. Wie oft würde er sich auf seiner Suche in einer Sackgasse wiederfinden, während er einem Mann hinterherlief, für den es offensichtlich ein Vergnügen gewesen war, Identitäten zu erschaffen? Ein Vergnügen oder vielleicht ein dunkler Zwang, um mit dem brechen zu können, der er eigentlich war …
Glücklicherweise ahnte Toska nichts von seiner Anspannung; sie war viel zu stolz darauf, den raffinierten Plan ihres Liebhabers durchschaut zu haben. »Gut, fangen wir an. Aber nur, weil mir ansonsten der Nachmittag zu lang wird, das sollst du ruhig wissen. Was möchtest du über dich - pardon - über Charles erfahren?«
»Ich interessiere mich nicht für Charles«, brachte Adam mühevoll hervor. »Ich will wissen, wer der Mann hinter der Maske war, die er aus welchen Gründen auch immer erschaffen hat.« Frustriert schnaufte er durch die Nase. »Falls es dir überhaupt jemals gelungen ist, einen Blick hinter die Fassade zu werfen.«
Toska gab vor, ein Lachen hinter ihrer Hand zu verstecken. »Also wirklich, was bist du bloß für ein schamloser Narzisst. Ich weiß, du glaubst eine gequälte Seele zu sein, die sich selbst nicht ertragen kann und sich deshalb ständig neu erschaffen will. Schließlich war das dein Lieblingsthema, sobald du zu viel Wein getrunken hattest. Dass du es nicht erträgst, du selbst zu sein. Aber glaub mir, jemand, der so viel Aufwand betreibt, um seine Vergangenheit auszulöschen, ist ganz vernarrt in sein Ich. Ansonsten würde man doch kein solches Aufhebens um die eigene Person machen, wenn du mich fragst.«
Mit einer schnellen Bewegung packte Adam sie am Handgelenk und drückte so fest zu, dass sie empört nach Luft schnappte. »Ich frage dich aber nicht. Es ist mir gleichgültig, was du über Charles denkst. Erzähl mir einfach, was ich geredet habe, wenn ich betrunken war.Wie lautet mein wahrer Name, aus welchem Land stamme ich?«, forderte er sie mit scharfem Ton auf, woraufhin Toska verängstigt blinzelte. Unvermittelt wurde er sich seiner Impulsivität bewusst und löste den Griff, wenn auch nur widerwillig. Ihre Unbeschwertheit angesichts eines Anliegens, das ihm alles bedeutete, reizte ihn.
»Ist ja schon gut, du Hitzkopf.Warum muss nur immer dein Temperament so schnell mit dir durchgehen?«
Mit einer Leidensmiene massierte Toska ihr Handgelenk, bis Adam sie schon anfahren wollte, endlich mit der Schauspielerei aufzuhören. Da bemerkte er die roten Fingerabdrücke auf ihrer Haut. Er hatte tatsächlich fester zugegriffen, als ihm bewusst gewesen war.
»Es tut mir leid, ich wollte dir nicht wehtun.«
Toska stieß ein bitteres Lachen aus. »Das sagst du immer - hinterher. Erst nimmst du dir, was du willst, ohne Rücksicht auf Verluste, und dann wirfst du einem eine Entschuldigung hin. Ich weiß wirklich nicht, warum ich mich überhaupt mit dir abgebe.«
Nachdenklich strich Adam sich die Haare aus der Stirn, während er versuchte, sich ein Bild von Toska zu machen - ohne daran zu denken, dass sie der Schlüssel zu seiner Vergangenheit war.Wäre sie ihm auf der Straße begegnet, hätte er sich nach ihr umgesehen? Nun, vielleicht um einen weiteren Blick auf ihre blonden Locken zu werfen oder um sich über ihre eitle, aber nichtsdestotrotz charmante Art zu amüsieren. Nur ein Bedürfnis, ihre Aufmerksamkeit zu erregen, um ein Recht auf ihre Nähe zu erwerben, löste sie keineswegs aus. Nein, da war kein Gefühl auf seiner Seite. Wie soll auch jemand, der einen blutrünstigen Dämon in sich trägt, etwas wie Zuwendung oder gar Liebe empfinden?, fragte er sich, und der bittere Geschmack der Enttäuschung breitete sich in seinem Rachen aus. Nun, vielleicht würde es dieser Frau zumindest gelingen, die Erinnerung zu wecken. Alles andere bedeutete, den Kampf aufzugeben und sich dem Willen des Dämons zu überlassen.
»Habe ich dich geliebt?«
Im ersten Moment sah es so aus, als würde Toska sich für ein künstliches Lachen als Reaktion auf diese unvermittelte Frage entscheiden. Dann schluckte sie und sagte leise: »Du hast es mir nie gesagt, obwohl du den ganzen Herbst und Winter mit mir in der Toskana verbracht hast, ohne auch nur einer anderen Frau hinterherzusehen. Aber ich bin … ich war verliebt in dich.«
Das Geständnis brachte Adam aus der Fassung. Mit einem Mal kam es ihm erbarmungslos vor,Toska derartig in die Ecke zu drängen, obwohl er allem Anschein nach schon genug Schindluder mit ihren Gefühlen getrieben hatte.
Doch gerade als er sich entschuldigen wollte, fügte sie noch einen Satz hinzu, der alles änderte: »Welche Frau kann einem so schönen Gesicht wie deinem schon widerstehen? Da ist es doch ganz gleich, ob du Charles, Adam oder wie auch immer heißen magst. Ich hätte mir jede von deinen verrückten Ideen angehört und jedes noch so absurde Spiel mitgemacht, solange du dafür an meiner Seite bleibst.« Toska lehnte sich aufreizend weit nach vorne, so dass ihr Dekolleté einen prachtvollen Anblick bot. »Wir zwei passen perfekt zueinander, weil wir beide nicht nach der Liebe suchen, sondern nach jemandem, der unsere Bedürfnisse erfüllt, ohne uns dafür zu verachten.Wenn ich dich ansehe, habe ich das Gefühl, ich blicke in einen Spiegel. Mag sein, dass du mich nicht geliebt hast, aber du hast mich gebraucht.Weil ich die Einzige war, die überhaupt wusste, dass es jemanden hinter der Maske gab, auch wenn ich diesen geheimnisvollen Fremden niemals kennengelernt habe.«
»Das hast du tatsächlich nicht, nicht wahr?«
Obwohl Adam registrierte, wie gefährlich ruhig, fast einschmeichelnd seine Stimme geworden war, kümmerte er sich nicht um dieses erste Anzeichen für einen Temperamentsausbruch. Plötzlich interessierte ihn nur noch der verführerische Duft, der von Toskas leicht geröteter Haut am Dekolleté aufstieg und ihre Erregung verriet. Das Rascheln ihrer Röcke, das berühmte Foufou, knisterte in seinen Ohren. Langsam, fast als hoffe er, sie würde ihn davon abhalten, streckte er die Hand aus, um eine der feinen Locken an ihren Schläfen zu berühren.Aber Toska dachte gar nicht daran, sich zurückzuziehen. Stattdessen schenkte sie ihm ein aufmunterndes Lächeln, das lockend ihre Lippen umspielte, die sie einen Hauch - einer Einladung gleich - öffnete.
Dabei hätte es keiner deutlichen Einladung bedurft, zumindest nicht für Adam. Seine Sinne spielten ihm ihre Lüsternheit mühelos zu. Und nach ihrem Geständnis sah er keinen Grund mehr, warum er sich zurückhalten sollte, da sich ihr Interesse mit seinem deckte.Wenn es schon keine Liebe in seinem alten Leben gegeben hatte, so zumindest Verlangen. Was schon einmal eine Verbesserung war, wie Adam zynisch dachte, hatte es ihn in den letzten Tagen doch nur nach Blut verlangt. Es sprach also nichts dagegen, dieser Lust, die eine rein menschliche war, ohne Hemmungen nachzugeben.
Hastig half Adam Toska auf und eilte mit ihr durchs Foyer die geschwungene Treppe hinauf, ohne einen Blick für den sichtlich aufgebrachten Mâitre de réception oder das belustigte Publikum übrigzuhaben.
Nachtglanz - Heitmann, T: Nachtglanz
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