34
Königsmord
Es war einer wahren Kraftanstrengung gleichgekommen, die mit halb geschlossenen Augen träumende Esther allein unter den zerwühlten Laken zurückzulassen. Jeder Flecken ihres Körpers erzählte von ihrer Vereinigung. Es fühlte sich falsch an, das Bett zu verlassen, und erst recht, sich etwas überzuziehen. Aber etwas anderes blieb Adam nicht übrig, wenn er Anders das Spielfeld nicht allein überlassen wollte. Von draußen drangen bereits erste Sonnstrahlen durch die Lücken der Vorhänge.
Darauf bedacht, einen Sicherheitsabstand zu Esther einzuhalten, die sich gerade tiefer in die Kissen kuschelte, wählte er die Rezeption an. »Ich möchte ein Ferngespräch anmelden«, erklärte er mit rauer Stimme.
Während er auf den Rückruf wartete, wanderte er unablässig im Zimmer auf und ab, den Blick überallhin gerichtet, nur nicht auf Esthers Rundungen, die sich unter dem weißen Laken verführerisch abzeichneten.
Was du brauchst, ist ein klarer Kopf, sagte er sich gleich einem Mantra. Denk nicht an die Frau in deinem Bett, sondern versuch dahinterzukommen, was Anders mit seiner Vorgehensweise bezwecken will. Warum hat er sich die Mühe gemacht, Esther zurückzuzwingen? Weil er wusste, dass ich ihr folgen würde. Aber warum die ganze Anstrengung, was will er wirklich von mir? Es kann doch nicht bloß damit zusammenhängen, dass ich seiner Gabe nicht so verfallen bin wie alle anderen.
Es muss einen Zusammenhang zwischen mir und meiner Gabe und den Entwicklungen in L.A. geben.Wenn man Lakas’ Opferungen beiseitelässt, dann bleiben an Auffälligkeiten noch Nias dämonenloser Tempel, Anders’ durch seine Gabe verbundene Gesellschaft und das tödliche Elixier, das Rischka Adalbert gestohlen hat.
Während Adam die Hände hinter dem Nacken verschränkte und seine Rückenmuskulatur dehnte, registrierte er das erregte Murmeln des Dämons in seinem Inneren. Auch dieser Kreatur ließen die Geschehnisse offenkundig keine Ruhe.
Blut und Einladung, Einladung und Blut … Einer von uns geht umher und nimmt, was man nicht tut. Einer und viele, vereint im Blut. Nein, keine Vereinigung mit dieser Brut. Ich bin einer, viele sind die anderen. Ja. Wer ist es, der versuchen könnte, mich aus meinem Tempel zu zerren, mich zu rauben?
Ja, wer könnte es sein, der hinter diesem Rätsel steht?, dachte Adam.
Bevor er jedoch auf diese Frage eine Antwort finden konnte, drehte sich die schlafende Esther auf den Rücken, wobei die Decke bis zu ihrer Hüfte herabrutschte. Bei dem Anblick überschlugen sich Adams Sinne, und er war nichts anderes mehr als ein von brennender Begierde heimgesuchter Mann. Nicht einmal für das ferne Murmeln des Dämons war noch Platz vorhanden.
Das Klingeln des Telefons riss ihn aus seiner Benommenheit. Hastig, bevor er es sich noch einmal anders überlegen konnte, sprach er in den Hörer: »Warten Sie, ich nehme das Gespräch an der Rezeption an.« Dann flüchtete er aus dem Zimmer.
 
Der Nachtportier war in eine Unterhaltung mit einem soeben angereisten Paar verstrickt, dem die Müdigkeit von der nächtlichen Fahrt mit dem Greyhound ins Gesicht geschrieben stand. Dass ihm kurz vor seiner Ablösung noch so viele Aufgaben ins Haus standen, gefiel dem blassen Mann nicht - was ihm um sechs Uhr morgens auch niemand übelnehmen konnte. Mit einer knappen Geste deutete er auf die vordere der beiden Telefonkabinen, die Adam mit einem gewissen Widerwillen betrat. Er konnte weder die Enge der Kabine noch die Vielzahl der haften gebliebenen Fährten anderer Gäste ausstehen. Geschieht dir recht, sagte er sich, als ihn die Überbleibsel eines penetranten Damenparfüms in die Nase stachen.
Als er die Hand auf den Telefonhörer legte, schluckte er unwillkürlich, dann bat er die Dame von der Vermittlung, das Gespräch durchzustellen.
Es herrschte Schweigen in der Leitung, während sich vor Adams innerem Auge das Bild eines Mannes mit silbernem Haar aufbaute, der in eleganter Pose in einem Sessel saß und den Hörer mit neugierigem Ausdruck an sein Ohr hielt, voller Erwartung, wie der erste Zug am anderen Ende der Leitung wohl ausfiele.
Adam musste sich räuspern, um seine vor Anspannung zugeschnürte Kehle so weit zu lockern, dass er überhaupt einen Ton herausbrachte.
»Etienne?«
Ein feines Lachen drang in sein Ohr. »Adam. Wie schön, deine Stimme wieder einmal zu hören. Allerdings mit einem Abstrich, weil du mich aus dem Bett geklingelt hast. Ich habe gerade ein Nachmittagsschläfchen gehalten. Dir ist der Zeitunterschied zwischen den Kontinenten doch bewusst, oder?«
»Mittagsschläfchen … Zeitunterschiede sind etwas für Leute, die schlafen. Du kannst nicht nur auf Schlaf verzichten, du bist nicht einmal imstande dazu«, entgegnete Adam eine Spur zu gereizt. Genau dies war einer der Gründe, warum er Etienne mied: Der Franzose rief in ihm stets ein schlechtes Gewissen wach, weil er fortgegangen war und den Kontakt fahrlässig schleifen ließ. Zwar hatte Etienne sich deswegen nie etwas anmerken lassen, aber das machte es nicht unbedingt besser. So viel Nonchalance machte Adam bockig.
»Du hast mich ertappt, zu schlafen gelingt mir nach wie vor nicht«, erwiderte Etienne im Plauderton. »Allerdings hält mich das nicht davon ab, mich dem menschlichen Rhythmus anzupassen. Wie auch immer, was kann ich für dich tun?«
»Licht ins Dunkel bringen - das hoffe ich zumindest. Ich bin vor einigen Tagen nach Los Angeles gekommen, weil Rischka mich um Hilfe gebeten hat. Oder vielmehr ihr Gefährte Anders.«
»Sieh an.« Etienne machte eine Pause, als müsse er den Gedanken erst einmal verdauen. »Und, bist du bereits in die dortige Gesellschaft eingeführt worden?«
Die Verbindung war nicht sonderlich gut, trotzdem bemerkte Adam die Vorsicht, mit der Etienne ihm plötzlich begegnete.
Adam ertappte sich dabei, wie er auf seiner Unterlippe kaute. Solche Übersprungshandlungen waren ihm eigentlich nicht zu eigen. »Mehr als das«, sagte er deshalb bestimmt. »König Anders hat sich wirklich Mühe gegeben, mich mit sämtlichen Seiten des Lebens in seinem Dunstkreis bekanntzumachen.«
»Erkennst du ihn denn als König an?«
»Nein, tue ich nicht. Eigentlich solltest du wissen, dass ich nicht sonderlich gut darin bin, vor jemandem in die Knie zu gehen, unabhängig davon, was er mir versprechen mag. Ganz im Gegensatz zu deinem Diener Adalbert. Falls du es noch nicht wissen solltest: Dein Getreuer hat kurzerhand den Herrn gewechselt.«
Dieses Mal kam es wider Erwarten zu keiner Denkpause bei Etienne. »Etwas in derArt habe ich mir bereits gedacht. Schließlich hat Adalbert sich schon lange nicht mehr gemeldet, und Rischka ist bei solchen Dingen keine große Hilfe, seit sie unter Anders’ Einfluss steht.« Etienne klang bedrückt, und auch bei Adam schlich sich zunehmend Unbehagen ein.
»Wie groß ist denn der Einfluss, den Anders auf unsere freiheitsliebende Rischka deiner Meinung nach nehmen kann?«
Etienne lachte trocken. »Allein, dass du mich danach fragst, beweist, wie unzugänglich du für Anders’ Gabe bist. Es wundert mich, ehrlich gesagt, dass er dich nicht sofort getötet hat. Jemand wie du stellt ein viel zu großes Risiko für seine Pläne dar.«
»Unsinn. Mich interessiert Anders’ friedlicher Dämonenstaat überhaupt nicht. Meinetwegen können seine Jünger nach seiner Pfeife tanzen und bis in alle Ewigkeit fröhliche Barbecues veranstalten. Nur weil ich kein Interesse daran habe, mit von der Partie zu sein, muss Anders mir noch lange nicht nach dem Leben trachten. Obwohl ich zugeben muss, dass er mir kräftig auf die Füße getreten ist, und ich komme nicht dahinter, warum. Hast du vielleicht eine Idee?«
Schweigen breitete sich aus und zerrte an Adams Nerven, bis er kurz davor war, Etienne anzublaffen, nur um den Druck loszuwerden. Er musste rasch herausfinden, was genau in L.A. gespielt wurde, damit er die Sache mit Anders klären konnte. Danach wartete schließlich noch eine unangenehme Aufgabe auf ihn, bevor er mit Esther die Stadt verlassen konnte.
Unvermittelt sagte Etienne: »Anders ist dir auf die Füße getreten, weil er nicht einfach ein Barbecue veranstalten will. Genauer gesagt, wird er das nur so lange tun, bis er seine eigentliche Gabe wirklich beherrscht. Deshalb habe ich Adalbert geschickt. Ein miserabler Schachzug, wie ich mir jetzt eingestehen muss.«
»Es ist mir ein Rätsel, wie du auf die Idee kommst, dass Anders seine Gabe noch nicht richtig beherrscht. Er ist hier der große Zirkusdirektor, selbst Rischka frisst ihm aus der Hand.«
Unwillkürlich hielt Adam inne, als er daran denken musste, wie Rischka Anders weggelockt hatte, ehe er Adams Dämon ein weiteres Mal stärken konnte. Nicht, dass er jemals schlau aus dieser Frau geworden war, aber nach diesem Erlebnis konnte er ihre Handlungen noch weniger als je zuvor nachvollziehen. Dafür waren sie einfach zu widersprüchlich.
Eine Sache ist gewiss: Dieses eigensüchtige Miststück tut nichts ohne einen triftigen Grund.Warum sie Anders wohl abgelenkt hat?
Offensichtlich nahm der Dämon Rischka die Unterbrechung immer noch übel, auch wenn er ihr mehr als reinen Eigennutz unterstellte. Dass der Dämon sich weiterhin mit dem Rätsel, das diese Stadt barg, beschäftigte, wunderte Adam mehr, als er sich eingestehen mochte. Nias Leiche hatte den Dämon unleugbar aus dem Gleichgewicht gebracht, so dass er nun unentwegt um die Frage kreiste, wer dafür verantwortlich war. Allmählich kam ihm der Verdacht, dass Anders beileibe nicht sein größtes Problem sein könnte.
Etienne hing unterdessen seinen eigenen Gedanken nach. »Es war ein Fehler von mir, den Jungen zu schicken. Ich hätte mich selbst der Angelegenheit annehmen sollen. Alt, aber kein Stück weise, leider, leider. Und zugegebenermaßen auch nicht besonders mutig.«
»Wovon redest du?«
»Von dem Königsmord natürlich, den in die Wege zu leiten mir Adalbert helfen sollte! Sag bloß, das hast du dir bislang noch nicht zusammengereimt. Du bist doch ansonsten so ein scharfsinniger Bursche. Hat Anders’ Gabe dir, wenn er schon nicht Besitz von dir ergriffen hat, zumindest die Sinne vernebelt?«
»Das war nicht Anders, sondern …« Adam biss sich auf die Zunge. »Erzähl mir lieber, was es mit diesem geplanten Königsmord auf sich hat.« Ein feines Geräusch drang an sein Ohr. Adam wusste instinktiv, dass Etienne mit dem Zeigefinger gegen sein Kinn tippte, um sich zu sammeln. »Etienne«, brummte er, »mir läuft die Zeit davon. Also lass deine Ansprüche an einen perfekten Vortrag fahren und erzähl mir einfach, was du da ins Rollen gebracht hast.«
»Oh, ich bin nur ein Rädchen unter vielen im Spiel des Dämons.«
»Die Untertreibung des Jahrhunderts«, unterbrach Adam wider besseres Wissen.
»Nein, wirklich.An manchen Tagen wundere ich mich sogar, wie der Dämon überhaupt Wurzeln in mir schlagen konnte. Meine Gabe ist - im Gegensatz zu anderen - ohne den geringsten Vorteil für ihn. Die Liebe zum Menschen, lachhaft.«
»Lassen wir das mal so stehen.Wenn du ein kleines Rädchen bist, wer sind dann die großen Zahnräder, an denen alles hängt?«
»Diejenigen natürlich, deren Gaben von besonderer Bedeutung sind. Vor einiger Zeit hat eine von unserer Art meinen Weg gekreuzt. Glücklicherweise, denn im Gegensatz zu Anders kann man sie nicht finden. Seine Gabe ist davon abhängig, dass unsereins von ihm angezogen wird wie die Motte vom Licht. Sie hingegen findet einen - das ist Teil ihrer Gabe. Sie ist das natürliche Gegenstück zu Anders. Sein Antipol.«
»Adalbert hat mir davon erzählt: Während Anders den einzelnen Dämon durch die Berührung stärkt, ist sie in der Lage, ihn zu schwächen.«
Adam konnte hören, wie Etienne scharf die Luft einzog. Der Verrat seines Dieners setzte ihm mehr zu, als er einzugestehen bereit war. »Wie auch immer, sie hat mir vieles über die Natur des Dämons offenbart. Einiges hatte ich allerdings bereits selbst herausgefunden.«
»Der Dämon ist eine zerschlagene …«
Gottheit.
»… Macht«, vollendete Adam den Satz zähneknirschend. »Eine Macht, die sich selbst nicht wieder zusammensetzen kann.«
»Es sei denn, jemand hilft ihr dabei. Der Zusammenschluss von menschlichem Tempel und dämonischem Bruchstück bringt Gaben hervor, und Anders’ Gabe besteht darin, die noch vorhandenen Bruchstücke zusammenzusetzen. Ich gehe davon aus, dass er bislang nur einen Bruchteil seiner Gabe erforscht hat. Es ist jedoch nur noch eine Frage der Zeit, bis er sie vollends beherrscht. Wie gefällt dir der Gedanke eines wiederauferstandenen Dämons, Adam?«
Anstelle einer Antwort brachte Adam lediglich ein Knurren zustande.
Etienne gab ein unterdrücktes Lachen von sich. »Genauso sehe ich das auch. Darum habe ich Adalbert geschickt, um herauszufinden, ob ich mit meiner Vermutung richtig liege. Anders muss aufgehalten werden … im Sinne von ausgelöscht.«
»Moment, mir fällt eine Sache ein: Wusste Anders von seinem Antipol? Ich meine, bevor Adalbert die Seiten gewechselt und vermutlich alles ausgeplaudert hat, was er von dir erfahren hat?«
»Nein, er wusste nichts von ihr.Woher auch? Sie muss einen finden, andersherum funktioniert es nicht. Zu mir kam sie, um mehr über die Bedeutung der Gaben zu erfahren. Die These, dass Anders die andere Seite der Medaille ist, geht allein auf meine Forschung zurück. Genau das sollte Adalbert mir bestätigen, dann hätte ich ihr meinen Verdacht mitgeteilt, wovor es mir - weiß Gott - graut. Ihre Nähe ist nicht leicht zu ertragen, musst du wissen. Als ob du in ein Schwarzes Loch blickst. Du verlierst jegliches Gewicht, das deine Füße normalerweise an die Erde bindet, und wirst von ihr angezogen. Es ist, als würdest du jeden Moment von einem endlosen Nichts absorbiert werden. Grauenhaft.«
Bevor Etienne sich weiter in Details verlieren konnte, unterbrach Adam ihn. »Ich weiß jetzt, warum Anders mich um jeden Preis an die Leine legen will: Ich soll für ihn jemanden finden, der sich nicht finden lässt. Seinen Antipol, seine Schwester. Sein treu ergebener Diener Adalbert hatte bereits versucht, meine Zusage zu diesem Auftrag zu erlangen.«
»Wenn du das glaubst, dann hast du nichts von dem verstanden, was ich dir erzählt habe«, entgegnete Etienne ungehalten. Für geistige Nachzügler hatte er kein Verständnis. »Zum jetzigen Zeitpunkt würde Anders seiner Schwester in einer Konfrontation unterlegen sein - und zu einer Konfrontation wird es zweifellos kommen, schließlich bilden die beiden einen unüberwindbaren Gegensatz. Nur weiß sie mit der Macht ihrer Gabe umzugehen, während Anders, bevor Adalbert zu ihm übergelaufen ist, vermutlich nicht einmal eine Ahnung von den wahren Ausmaßen seiner Gabe hatte. Wenn er sie bereits eingesetzt hätte, wüsstest du davon. Dann gäbe es nämlich schon längst niemanden von unseresgleichen mehr in der Stadt. Was ist eigentlich los mit dir, Adam? So langsam bist du doch sonst nie.«
Doch Adam kümmerte sich nicht um diesen Seitenhieb. Während die Kabine sekündlich mehr zu schrumpfen schien, so dass er kurz davorstand, die Tür aufzutreten, begriff er allmählich, wohin all die Spuren führten, auf die er seit seiner Ankunft in Los Angeles gestoßen war. Rischka hatte sich die von Lakas außer Kontrolle geratenen Opferungen zunutze gemacht, um ihn hierherzulocken. Sie hatte auf seine Jagdinstinkte vertraut, die ihn schon auf die Spur zu Nias Leiche bringen würden. Damit er aus dem Fund die richtigen Schlüsse zog, was sie ihm wegen ihrer Abhängigkeit von Anders’ Gabe nicht hatte sagen können:Anders hatte die wahre Bestimmung seiner Gabe entdeckt und bereits ausprobiert.
Plötzlich regte sein Dämon sich, drängte sich ihm auf. Doch Adam sah nicht nur ihn gleich einem Stück eines hundertfach zersplitterten Spiegels. Jeder einzelne Dämon seinesgleichen tauchte vor ihm auf, und kaum hatte Adam die vielen Bruchstücke im Geiste zusammengesetzt, blickte er schreckensbleich in den Spiegel hinein. Er starrte einem Dämon ins Antlitz, dem wiederauferstandenen Dämon.
Eine glutrot leuchtende Flamme in der Nacht, aus der sich eine Gestalt herausschälte. Ein betörend schönes und zugleich fremdartiges Wesen, das fern an einen jungen Menschen erinnerte, dem man nicht auf dem ersten Blick ansehen konnte, ob er nun männlich oder weiblich war.Anmutig beugte es sich vor und sah Adam mit einer Mischung aus Neugier und Herablassung durch den Spiegel an. Die Haut war weiß wie frisch gefallener Schnee. Und doch war sie nicht mehr als eine Maske, wenn man genauer hinsah. Dahinter pulsierte ein tiefes Rot, der reine Lebensstrom.
Adam glaubte, in den schwarz glänzenden Augen des Dämons verlorenzugehen, die Zeit und Raum außer Kraft zu setzen schienen. Eine Ahnung davon, was wahre Macht bedeutete, überkam ihn. Dieses Geschöpf, was auch immer es sein mochte, war in der Lage, sich alles zu nehmen, wonach ihm verlangte. Während Adam diese Erkenntnis noch zu verkraften versuchte, durchzog sich das pulsierende Rot im Inneren der Kreatur mit schwarzen Schlieren, und der Fluss des Lebens nahm langsam ab.
Die Augen des Dämons erzählten von einem nicht zu bändigenden Hunger, und seine Lippen bewegten sich, ohne dass ein Laut zu hören war. Adam verstand ihn auch so.
Sprich eine Einladung aus, damit ich meinen Hunger stillen kann, forderte er.
Panik brach in Adam aus. Die Vision war so echt und bedrohlich, dass er kaum an sich halten konnte. Ein verzweifelter Schrei brach aus, und es dauerte einen Moment, bis er begriff, dass er von seinem Dämon stammte.
Nein, dazu will ich nicht werden, klagte er. Ich werde meinen Tempel nicht aufgeben, um mit den anderen zu einem zu verschmelzen. Ich bin ich.
»Ganz meine Rede«, erwiderte Adam mit belegter Stimme, während er seine Finger lockerte, die den Telefonhörer umfasst hielten, als wollten sie ihn in seine Bestandteile zerlegen.
Immer noch stand ihm der ungezügelte Hunger gepaart mit einer erschreckenden Macht des Wesens vor Augen. Die Bezeichnung Gottheit ist vielleicht doch gar nicht so schlecht gewählt, gestand Adam sich ein, während ein wildes Lachen seine Kehle hinaufzusteigen drohte. Er schloss die Augen, bis sie zu tränen begannen, doch das Spiegelbild hatte sich auf seiner Netzhaut eingebrannt. Reiß dich zusammen, fuhr er sich selbst an. Das hier ist erst der Anfang vom Ende. Jetzt weißt du wenigstens, was gespielt wird.
»Adam?«, hörte er Etiennes aufgeregte Stimme. »Adam, bist du noch da? Sag doch was, mein Junge.«
»Um die Entwicklung von Anders’ Gabe brauchen wir uns allem Anschein nach keine Sorgen mehr zu machen. Es sieht nämlich ganz danach aus, als ob er sie bereits zum Einsatz gebracht hat. Ich habe einen verlassenenTempel gefunden, Etienne. Wohin geht ein Dämon wohl, der kein Haus mehr hat, das ihn in dieser Welt hält?«
»Zu Anders, weil er die einzelnen Splitter des Dämons wieder zusammenfügen kann.«
Wieder eins werden, aufgehen im Ganzen, eine Einladung, die man nicht ablehnen darf. Aber ich werde sie ablehnen, ganz gleich, wie zwingend sie ist. Ja, das werde ich!, sagte der Dämon und wiederholte die Sätze wie eine Art Losung, von der er selbst nicht recht überzeugt war.
»Du musst sofort die Stadt verlassen, Adam. Du magst dich Anders vielleicht entziehen können, das heißt aber noch lange nicht, dass du ihm gewachsen bist. Komm zu mir, und wir werden seine Schwester gemeinsam aufsuchen. Ich kann den Weg zu ihr finden, nachdem sie ein Mal zu mir gekommen ist. Es ist ihre Aufgabe, sich Anders zu stellen. Sie ist sein natürliches Gegengewicht.«
»Nichts lieber als das.« Adam rieb sich immer noch die Augenlider, hinter denen das Abbild des wiederauferstandenen Dämons aufblitzte. »Ich kann bloß nicht so ohne weiteres von hier fortgehen.«
»Wenn es wegen Rischka ist …«
»Ich habe eine Frau kennen- und lieben gelernt, Etienne. Anders hat etwas gegen sie in der Hand, womit er sie zum Bleiben zwingen kann. Und wenn sie bleibt, bleibe ich auch.«
»Adam!«, schrie Etienne aufgebracht, wobei sich seine Stimme vor Furcht überschlug. »Adam, du kannst auf keinen Fall bleiben, du musst sofort …«
Doch da hatte Adam bereits aufgelegt. In die Kabine hatte sich ein zarter Apfelduft geschlichen. Draußen an der Rezeption wartete Esther auf ihn. Das war alles, was für ihn zählen durfte.
Nachtglanz - Heitmann, T: Nachtglanz
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