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Königsmord
Es war einer wahren Kraftanstrengung
gleichgekommen, die mit halb geschlossenen Augen träumende Esther
allein unter den zerwühlten Laken zurückzulassen. Jeder Flecken
ihres Körpers erzählte von ihrer Vereinigung. Es fühlte sich falsch
an, das Bett zu verlassen, und erst recht, sich etwas überzuziehen.
Aber etwas anderes blieb Adam nicht übrig, wenn er Anders das
Spielfeld nicht allein überlassen wollte. Von draußen drangen
bereits erste Sonnstrahlen durch die Lücken der Vorhänge.
Darauf bedacht, einen Sicherheitsabstand zu Esther
einzuhalten, die sich gerade tiefer in die Kissen kuschelte, wählte
er die Rezeption an. »Ich möchte ein Ferngespräch anmelden«,
erklärte er mit rauer Stimme.
Während er auf den Rückruf wartete, wanderte er
unablässig im Zimmer auf und ab, den Blick überallhin gerichtet,
nur nicht auf Esthers Rundungen, die sich unter dem weißen Laken
verführerisch abzeichneten.
Was du brauchst, ist ein klarer Kopf, sagte er sich
gleich einem Mantra. Denk nicht an die Frau in deinem Bett, sondern
versuch dahinterzukommen, was Anders mit seiner Vorgehensweise
bezwecken will. Warum hat er sich die Mühe gemacht, Esther
zurückzuzwingen? Weil er wusste, dass ich ihr folgen würde. Aber
warum die ganze Anstrengung, was will er wirklich von mir? Es kann
doch nicht bloß damit zusammenhängen, dass ich seiner Gabe nicht so
verfallen bin wie alle anderen.
Es muss einen Zusammenhang zwischen mir und meiner
Gabe und den Entwicklungen in L.A. geben.Wenn man Lakas’ Opferungen
beiseitelässt, dann bleiben an Auffälligkeiten noch Nias
dämonenloser Tempel, Anders’ durch seine Gabe verbundene
Gesellschaft und das tödliche Elixier, das Rischka Adalbert
gestohlen hat.
Während Adam die Hände hinter dem Nacken
verschränkte und seine Rückenmuskulatur dehnte, registrierte er das
erregte Murmeln des Dämons in seinem Inneren. Auch dieser Kreatur
ließen die Geschehnisse offenkundig keine Ruhe.
Blut und Einladung, Einladung und Blut … Einer
von uns geht umher und nimmt, was man nicht tut. Einer und viele,
vereint im Blut. Nein, keine Vereinigung mit dieser Brut. Ich bin
einer, viele sind die anderen. Ja. Wer ist es, der versuchen
könnte, mich aus meinem Tempel zu zerren, mich zu rauben?
Ja, wer könnte es sein, der hinter diesem Rätsel
steht?, dachte Adam.
Bevor er jedoch auf diese Frage eine Antwort finden
konnte, drehte sich die schlafende Esther auf den Rücken, wobei die
Decke bis zu ihrer Hüfte herabrutschte. Bei dem Anblick
überschlugen sich Adams Sinne, und er war nichts anderes mehr als
ein von brennender Begierde heimgesuchter Mann. Nicht einmal für
das ferne Murmeln des Dämons war noch Platz vorhanden.
Das Klingeln des Telefons riss ihn aus seiner
Benommenheit. Hastig, bevor er es sich noch einmal anders überlegen
konnte, sprach er in den Hörer: »Warten Sie, ich nehme das Gespräch
an der Rezeption an.« Dann flüchtete er aus dem Zimmer.
Der Nachtportier war in eine Unterhaltung mit
einem soeben angereisten Paar verstrickt, dem die Müdigkeit von der
nächtlichen Fahrt mit dem Greyhound ins Gesicht geschrieben stand.
Dass ihm kurz vor seiner Ablösung noch so viele Aufgaben
ins Haus standen, gefiel dem blassen Mann nicht - was ihm um sechs
Uhr morgens auch niemand übelnehmen konnte. Mit einer knappen Geste
deutete er auf die vordere der beiden Telefonkabinen, die Adam mit
einem gewissen Widerwillen betrat. Er konnte weder die Enge der
Kabine noch die Vielzahl der haften gebliebenen Fährten anderer
Gäste ausstehen. Geschieht dir recht, sagte er sich, als ihn die
Überbleibsel eines penetranten Damenparfüms in die Nase
stachen.
Als er die Hand auf den Telefonhörer legte,
schluckte er unwillkürlich, dann bat er die Dame von der
Vermittlung, das Gespräch durchzustellen.
Es herrschte Schweigen in der Leitung, während sich
vor Adams innerem Auge das Bild eines Mannes mit silbernem Haar
aufbaute, der in eleganter Pose in einem Sessel saß und den Hörer
mit neugierigem Ausdruck an sein Ohr hielt, voller Erwartung, wie
der erste Zug am anderen Ende der Leitung wohl ausfiele.
Adam musste sich räuspern, um seine vor Anspannung
zugeschnürte Kehle so weit zu lockern, dass er überhaupt einen Ton
herausbrachte.
»Etienne?«
Ein feines Lachen drang in sein Ohr. »Adam. Wie
schön, deine Stimme wieder einmal zu hören. Allerdings mit einem
Abstrich, weil du mich aus dem Bett geklingelt hast. Ich habe
gerade ein Nachmittagsschläfchen gehalten. Dir ist der
Zeitunterschied zwischen den Kontinenten doch bewusst, oder?«
»Mittagsschläfchen … Zeitunterschiede sind etwas
für Leute, die schlafen. Du kannst nicht nur auf Schlaf verzichten,
du bist nicht einmal imstande dazu«, entgegnete Adam eine Spur zu
gereizt. Genau dies war einer der Gründe, warum er Etienne mied:
Der Franzose rief in ihm stets ein schlechtes Gewissen wach, weil
er fortgegangen war und den Kontakt fahrlässig schleifen ließ. Zwar
hatte Etienne sich deswegen nie etwas anmerken
lassen, aber das machte es nicht unbedingt besser. So viel
Nonchalance machte Adam bockig.
»Du hast mich ertappt, zu schlafen gelingt mir nach
wie vor nicht«, erwiderte Etienne im Plauderton. »Allerdings hält
mich das nicht davon ab, mich dem menschlichen Rhythmus anzupassen.
Wie auch immer, was kann ich für dich tun?«
»Licht ins Dunkel bringen - das hoffe ich
zumindest. Ich bin vor einigen Tagen nach Los Angeles gekommen,
weil Rischka mich um Hilfe gebeten hat. Oder vielmehr ihr Gefährte
Anders.«
»Sieh an.« Etienne machte eine Pause, als müsse er
den Gedanken erst einmal verdauen. »Und, bist du bereits in die
dortige Gesellschaft eingeführt worden?«
Die Verbindung war nicht sonderlich gut, trotzdem
bemerkte Adam die Vorsicht, mit der Etienne ihm plötzlich
begegnete.
Adam ertappte sich dabei, wie er auf seiner
Unterlippe kaute. Solche Übersprungshandlungen waren ihm eigentlich
nicht zu eigen. »Mehr als das«, sagte er deshalb bestimmt. »König
Anders hat sich wirklich Mühe gegeben, mich mit sämtlichen Seiten
des Lebens in seinem Dunstkreis bekanntzumachen.«
»Erkennst du ihn denn als König an?«
»Nein, tue ich nicht. Eigentlich solltest du
wissen, dass ich nicht sonderlich gut darin bin, vor jemandem in
die Knie zu gehen, unabhängig davon, was er mir versprechen mag.
Ganz im Gegensatz zu deinem Diener Adalbert. Falls du es noch nicht
wissen solltest: Dein Getreuer hat kurzerhand den Herrn
gewechselt.«
Dieses Mal kam es wider Erwarten zu keiner
Denkpause bei Etienne. »Etwas in derArt habe ich mir bereits
gedacht. Schließlich hat Adalbert sich schon lange nicht mehr
gemeldet, und Rischka ist bei solchen Dingen keine große Hilfe,
seit sie unter Anders’ Einfluss steht.« Etienne klang bedrückt, und
auch bei Adam schlich sich zunehmend Unbehagen ein.
»Wie groß ist denn der Einfluss, den Anders auf
unsere freiheitsliebende Rischka deiner Meinung nach nehmen
kann?«
Etienne lachte trocken. »Allein, dass du mich
danach fragst, beweist, wie unzugänglich du für Anders’ Gabe bist.
Es wundert mich, ehrlich gesagt, dass er dich nicht sofort getötet
hat. Jemand wie du stellt ein viel zu großes Risiko für seine Pläne
dar.«
»Unsinn. Mich interessiert Anders’ friedlicher
Dämonenstaat überhaupt nicht. Meinetwegen können seine Jünger nach
seiner Pfeife tanzen und bis in alle Ewigkeit fröhliche Barbecues
veranstalten. Nur weil ich kein Interesse daran habe, mit von der
Partie zu sein, muss Anders mir noch lange nicht nach dem Leben
trachten. Obwohl ich zugeben muss, dass er mir kräftig auf die Füße
getreten ist, und ich komme nicht dahinter, warum. Hast du
vielleicht eine Idee?«
Schweigen breitete sich aus und zerrte an Adams
Nerven, bis er kurz davor war, Etienne anzublaffen, nur um den
Druck loszuwerden. Er musste rasch herausfinden, was genau in L.A.
gespielt wurde, damit er die Sache mit Anders klären konnte. Danach
wartete schließlich noch eine unangenehme Aufgabe auf ihn, bevor er
mit Esther die Stadt verlassen konnte.
Unvermittelt sagte Etienne: »Anders ist dir auf
die Füße getreten, weil er nicht einfach ein Barbecue
veranstalten will. Genauer gesagt, wird er das nur so lange tun,
bis er seine eigentliche Gabe wirklich beherrscht. Deshalb habe ich
Adalbert geschickt. Ein miserabler Schachzug, wie ich mir jetzt
eingestehen muss.«
»Es ist mir ein Rätsel, wie du auf die Idee kommst,
dass Anders seine Gabe noch nicht richtig beherrscht. Er ist hier
der große Zirkusdirektor, selbst Rischka frisst ihm aus der
Hand.«
Unwillkürlich hielt Adam inne, als er daran denken
musste, wie Rischka Anders weggelockt hatte, ehe er Adams Dämon ein
weiteres Mal stärken konnte. Nicht, dass er jemals schlau aus
dieser Frau geworden war, aber nach diesem Erlebnis konnte er ihre
Handlungen noch weniger als je zuvor nachvollziehen. Dafür waren
sie einfach zu widersprüchlich.
Eine Sache ist gewiss: Dieses eigensüchtige
Miststück tut nichts ohne einen triftigen Grund.Warum sie Anders
wohl abgelenkt hat?
Offensichtlich nahm der Dämon Rischka die
Unterbrechung immer noch übel, auch wenn er ihr mehr als reinen
Eigennutz unterstellte. Dass der Dämon sich weiterhin mit dem
Rätsel, das diese Stadt barg, beschäftigte, wunderte Adam mehr, als
er sich eingestehen mochte. Nias Leiche hatte den Dämon unleugbar
aus dem Gleichgewicht gebracht, so dass er nun unentwegt um die
Frage kreiste, wer dafür verantwortlich war. Allmählich kam ihm der
Verdacht, dass Anders beileibe nicht sein größtes Problem sein
könnte.
Etienne hing unterdessen seinen eigenen Gedanken
nach. »Es war ein Fehler von mir, den Jungen zu schicken. Ich hätte
mich selbst der Angelegenheit annehmen sollen. Alt, aber kein Stück
weise, leider, leider. Und zugegebenermaßen auch nicht besonders
mutig.«
»Wovon redest du?«
»Von dem Königsmord natürlich, den in die Wege zu
leiten mir Adalbert helfen sollte! Sag bloß, das hast du dir
bislang noch nicht zusammengereimt. Du bist doch ansonsten so ein
scharfsinniger Bursche. Hat Anders’ Gabe dir, wenn er schon nicht
Besitz von dir ergriffen hat, zumindest die Sinne vernebelt?«
»Das war nicht Anders, sondern …« Adam biss sich
auf die Zunge. »Erzähl mir lieber, was es mit diesem geplanten
Königsmord auf sich hat.« Ein feines Geräusch drang an sein Ohr.
Adam wusste instinktiv, dass Etienne mit dem Zeigefinger gegen sein
Kinn tippte, um sich zu sammeln. »Etienne«, brummte er, »mir läuft
die Zeit davon. Also lass deine Ansprüche an einen perfekten
Vortrag fahren und erzähl mir einfach, was du da ins Rollen
gebracht hast.«
»Oh, ich bin nur ein Rädchen unter vielen im Spiel
des Dämons.«
»Die Untertreibung des Jahrhunderts«, unterbrach
Adam wider besseres Wissen.
»Nein, wirklich.An manchen Tagen wundere ich mich
sogar, wie der Dämon überhaupt Wurzeln in mir schlagen konnte.
Meine Gabe ist - im Gegensatz zu anderen - ohne den geringsten
Vorteil für ihn. Die Liebe zum Menschen, lachhaft.«
»Lassen wir das mal so stehen.Wenn du ein kleines
Rädchen bist, wer sind dann die großen Zahnräder, an denen alles
hängt?«
»Diejenigen natürlich, deren Gaben von besonderer
Bedeutung sind. Vor einiger Zeit hat eine von unserer Art meinen
Weg gekreuzt. Glücklicherweise, denn im Gegensatz zu Anders kann
man sie nicht finden. Seine Gabe ist davon abhängig, dass unsereins
von ihm angezogen wird wie die Motte vom Licht. Sie hingegen findet
einen - das ist Teil ihrer Gabe. Sie ist das natürliche Gegenstück
zu Anders. Sein Antipol.«
»Adalbert hat mir davon erzählt: Während Anders den
einzelnen Dämon durch die Berührung stärkt, ist sie in der Lage,
ihn zu schwächen.«
Adam konnte hören, wie Etienne scharf die Luft
einzog. Der Verrat seines Dieners setzte ihm mehr zu, als er
einzugestehen bereit war. »Wie auch immer, sie hat mir vieles über
die Natur des Dämons offenbart. Einiges hatte ich allerdings
bereits selbst herausgefunden.«
»Der Dämon ist eine zerschlagene …«
Gottheit.
»… Macht«, vollendete Adam den Satz
zähneknirschend. »Eine Macht, die sich selbst nicht wieder
zusammensetzen kann.«
»Es sei denn, jemand hilft ihr dabei. Der
Zusammenschluss von menschlichem Tempel und dämonischem Bruchstück
bringt Gaben hervor, und Anders’ Gabe besteht darin, die noch
vorhandenen Bruchstücke zusammenzusetzen. Ich gehe davon aus, dass
er bislang nur einen Bruchteil seiner Gabe erforscht hat. Es ist
jedoch nur noch eine Frage der Zeit, bis er sie vollends
beherrscht. Wie gefällt dir der Gedanke eines wiederauferstandenen
Dämons, Adam?«
Anstelle einer Antwort brachte Adam lediglich ein
Knurren zustande.
Etienne gab ein unterdrücktes Lachen von sich.
»Genauso sehe ich das auch. Darum habe ich Adalbert geschickt, um
herauszufinden, ob ich mit meiner Vermutung richtig liege. Anders
muss aufgehalten werden … im Sinne von ausgelöscht.«
»Moment, mir fällt eine Sache ein: Wusste Anders
von seinem Antipol? Ich meine, bevor Adalbert die Seiten gewechselt
und vermutlich alles ausgeplaudert hat, was er von dir erfahren
hat?«
»Nein, er wusste nichts von ihr.Woher auch? Sie
muss einen finden, andersherum funktioniert es nicht. Zu mir kam
sie, um mehr über die Bedeutung der Gaben zu erfahren. Die These,
dass Anders die andere Seite der Medaille ist, geht allein auf
meine Forschung zurück. Genau das sollte Adalbert mir bestätigen,
dann hätte ich ihr meinen Verdacht mitgeteilt, wovor es mir - weiß
Gott - graut. Ihre Nähe ist nicht leicht zu ertragen, musst du
wissen. Als ob du in ein Schwarzes Loch blickst. Du verlierst
jegliches Gewicht, das deine Füße normalerweise an die Erde bindet,
und wirst von ihr angezogen. Es ist, als würdest du jeden Moment
von einem endlosen Nichts absorbiert werden. Grauenhaft.«
Bevor Etienne sich weiter in Details verlieren
konnte, unterbrach Adam ihn. »Ich weiß jetzt, warum Anders mich um
jeden Preis an die Leine legen will: Ich soll für ihn jemanden
finden, der sich nicht finden lässt. Seinen Antipol, seine
Schwester. Sein treu ergebener Diener Adalbert hatte bereits
versucht, meine Zusage zu diesem Auftrag zu erlangen.«
»Wenn du das glaubst, dann hast du nichts von dem
verstanden, was ich dir erzählt habe«, entgegnete Etienne
ungehalten. Für geistige Nachzügler hatte er kein Verständnis. »Zum
jetzigen Zeitpunkt würde Anders seiner Schwester in einer
Konfrontation unterlegen sein - und zu einer Konfrontation wird es
zweifellos kommen, schließlich bilden die beiden einen
unüberwindbaren Gegensatz. Nur weiß sie mit der Macht ihrer
Gabe umzugehen, während Anders, bevor Adalbert zu ihm übergelaufen
ist, vermutlich nicht einmal eine Ahnung von den wahren Ausmaßen
seiner Gabe hatte. Wenn er sie bereits eingesetzt hätte, wüsstest
du davon. Dann gäbe es nämlich schon längst niemanden von
unseresgleichen mehr in der Stadt. Was ist eigentlich los mit dir,
Adam? So langsam bist du doch sonst nie.«
Doch Adam kümmerte sich nicht um diesen Seitenhieb.
Während die Kabine sekündlich mehr zu schrumpfen schien, so dass er
kurz davorstand, die Tür aufzutreten, begriff er allmählich, wohin
all die Spuren führten, auf die er seit seiner Ankunft in Los
Angeles gestoßen war. Rischka hatte sich die von Lakas außer
Kontrolle geratenen Opferungen zunutze gemacht, um ihn
hierherzulocken. Sie hatte auf seine Jagdinstinkte vertraut, die
ihn schon auf die Spur zu Nias Leiche bringen würden. Damit er aus
dem Fund die richtigen Schlüsse zog, was sie ihm wegen ihrer
Abhängigkeit von Anders’ Gabe nicht hatte sagen können:Anders hatte
die wahre Bestimmung seiner Gabe entdeckt und bereits
ausprobiert.
Plötzlich regte sein Dämon sich, drängte sich ihm
auf. Doch Adam sah nicht nur ihn gleich einem Stück eines
hundertfach zersplitterten Spiegels. Jeder einzelne Dämon
seinesgleichen tauchte vor ihm auf, und kaum hatte Adam die vielen
Bruchstücke im Geiste zusammengesetzt, blickte er schreckensbleich
in den Spiegel hinein. Er starrte einem Dämon ins Antlitz, dem
wiederauferstandenen Dämon.
Eine glutrot leuchtende Flamme in der Nacht, aus
der sich eine Gestalt herausschälte. Ein betörend schönes und
zugleich fremdartiges Wesen, das fern an einen jungen Menschen
erinnerte, dem man nicht auf dem ersten Blick ansehen konnte, ob er
nun männlich oder weiblich war.Anmutig beugte es sich vor und sah
Adam mit einer Mischung aus Neugier und Herablassung durch den
Spiegel an. Die Haut war weiß wie frisch gefallener Schnee. Und
doch war sie nicht mehr als eine Maske, wenn man genauer hinsah.
Dahinter pulsierte ein tiefes Rot, der reine Lebensstrom.
Adam glaubte, in den schwarz glänzenden Augen des
Dämons verlorenzugehen, die Zeit und Raum außer Kraft zu setzen
schienen. Eine Ahnung davon, was wahre Macht bedeutete, überkam
ihn. Dieses Geschöpf, was auch immer es sein mochte, war in der
Lage, sich alles zu nehmen, wonach ihm verlangte. Während Adam
diese Erkenntnis noch zu verkraften versuchte, durchzog sich das
pulsierende Rot im Inneren der Kreatur mit schwarzen Schlieren, und
der Fluss des Lebens nahm langsam ab.
Die Augen des Dämons erzählten von einem nicht zu
bändigenden Hunger, und seine Lippen bewegten sich, ohne dass ein
Laut zu hören war. Adam verstand ihn auch so.
Sprich eine Einladung aus, damit ich meinen
Hunger stillen kann, forderte er.
Panik brach in Adam aus. Die Vision war so echt und
bedrohlich, dass er kaum an sich halten konnte. Ein verzweifelter
Schrei brach aus, und es dauerte einen Moment, bis er begriff, dass
er von seinem Dämon stammte.
Nein, dazu will ich nicht werden, klagte er.
Ich werde meinen Tempel nicht aufgeben, um mit den anderen zu
einem zu verschmelzen. Ich bin ich.
»Ganz meine Rede«, erwiderte Adam mit belegter
Stimme, während er seine Finger lockerte, die den Telefonhörer
umfasst hielten, als wollten sie ihn in seine Bestandteile
zerlegen.
Immer noch stand ihm der ungezügelte Hunger gepaart
mit einer erschreckenden Macht des Wesens vor Augen. Die
Bezeichnung Gottheit ist vielleicht doch gar nicht so
schlecht gewählt, gestand Adam sich ein, während ein wildes Lachen
seine Kehle hinaufzusteigen drohte. Er schloss die Augen, bis sie
zu tränen begannen, doch das Spiegelbild hatte sich auf seiner
Netzhaut eingebrannt. Reiß dich zusammen, fuhr er sich selbst an.
Das hier ist erst der Anfang vom Ende. Jetzt weißt du wenigstens,
was gespielt wird.
»Adam?«, hörte er Etiennes aufgeregte Stimme.
»Adam, bist du noch da? Sag doch was, mein Junge.«
»Um die Entwicklung von Anders’ Gabe brauchen wir
uns allem Anschein nach keine Sorgen mehr zu machen. Es sieht
nämlich ganz danach aus, als ob er sie bereits zum Einsatz gebracht
hat. Ich habe einen verlassenenTempel gefunden, Etienne. Wohin geht
ein Dämon wohl, der kein Haus mehr hat, das ihn in dieser Welt
hält?«
»Zu Anders, weil er die einzelnen Splitter des
Dämons wieder zusammenfügen kann.«
Wieder eins werden, aufgehen im Ganzen, eine
Einladung, die man nicht ablehnen darf. Aber ich werde sie
ablehnen, ganz gleich, wie zwingend sie ist. Ja, das werde
ich!, sagte der Dämon und wiederholte die Sätze wie eine Art
Losung, von der er selbst nicht recht überzeugt war.
»Du musst sofort die Stadt verlassen, Adam. Du
magst dich Anders vielleicht entziehen können, das heißt aber noch
lange nicht, dass du ihm gewachsen bist. Komm zu mir, und wir
werden seine Schwester gemeinsam aufsuchen. Ich kann den Weg zu ihr
finden, nachdem sie ein Mal zu mir gekommen ist. Es ist ihre
Aufgabe, sich Anders zu stellen. Sie ist sein natürliches
Gegengewicht.«
»Nichts lieber als das.« Adam rieb sich immer noch
die Augenlider, hinter denen das Abbild des wiederauferstandenen
Dämons aufblitzte. »Ich kann bloß nicht so ohne weiteres von hier
fortgehen.«
»Wenn es wegen Rischka ist …«
»Ich habe eine Frau kennen- und lieben gelernt,
Etienne. Anders hat etwas gegen sie in der Hand, womit er sie zum
Bleiben zwingen kann. Und wenn sie bleibt, bleibe ich auch.«
»Adam!«, schrie Etienne aufgebracht, wobei sich
seine Stimme vor Furcht überschlug. »Adam, du kannst auf keinen
Fall bleiben, du musst sofort …«
Doch da hatte Adam bereits aufgelegt. In die Kabine
hatte sich ein zarter Apfelduft geschlichen. Draußen an der
Rezeption wartete Esther auf ihn. Das war alles, was für ihn zählen
durfte.