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Spurenlese
Die helle Fassade mit dem Halbrundfenster des Gare
de l’Est verschwand hinter einem dichten Regenvorhang, so dass die
beiden Männer keine Zeit verschwendeten und durch den Säulengang
hastig ins Innere des Kopfbahnhofs liefen. Für einen Augenblick
verlor Adam in der Menschenmenge die Übersicht, weil zu viele
Eindrücke auf ihn einströmten. Es würde wohl noch eine ganze Weile
dauern, bis er seine empfindlichen Sinne nicht nur bewusst
einsetzen, sondern auch ausblenden konnte. Als er ins Schwanken
geriet, bohrte Carrière ihm kurzerhand den Griff seines Gehstocks
zwischen die Rippen und zeigte auf die abseits des Trubels liegende
Gepäckaufbewahrung.
Während eine Dame, die in der Reihe vor ihnen
stand, zwei wuchtige Reisekoffer auslöste, legte sich eine eiserne
Kralle um Adams Brustkorb und drückte langsam zu. Sein Atem wurde
flach und schnell, und er wischte sich über die Stirn, obwohl er
nicht schwitzte.
Carrière unterdrückte ein Schmunzeln. »Haben Sie
etwa Angst vor dem, was Sie gleich in den Händen halten
könnten?«
»Keineswegs«, log Adam.
Als er jedoch an der Reihe war und dem Mann hinter
dem Tresen seine Quittung hinhielt, glaubte er, die Finger nicht
von dem Stück Papier lösen zu können. Der mächtige Schnauzbart des
Angestellten zitterte bereits ungeduldig, bevor Adam tatsächlich
von dem Papier abließ.
»Na bitte. Ist doch gar nicht so schwer, Monsieur«,
murmelte der Mann und verschwand in dem Aufbewahrungsraum.
Unruhig trommelte Adam auf dem abgegriffenen
Holztresen, bis Carrière eine Hand auf seine Finger legte.
»Schonen Sie bitte meine Nerven«, bat sein
Begleiter ihn.
Adam verdrehte die Augen, dann reckte er sich, um
einen Blick in den Raum werfen zu können, was ihm jedoch nicht
gelang. Schließlich konnte er nicht mehr an sich halten: »Was
dauert das so verflucht lange?«
»Vielleicht haben Sie einen Elefanten zur
Aufbewahrung gegeben und der Weg zu den Ställen dauert halt«,
erwiderte Carrière trocken.
Bevor Adam zu einer geeigneten Antwort ansetzen
konnte, kehrte der schnauzbärtige Mann mit einem handlichen
Reisekoffer zurück. Ungläubig blickte Adam auf dieses mit dunklem
Leder bezogene Gepäckstück, bis er fast über sich selbst gelacht
hätte.Was hatte er um Himmels willen erwartet, ein Buch über seine
Lebensgeschichte oder seine Großmutter, die ihm alles Wissenswerte
über ihn erzählen könnte?
Während Adam den Koffer in Empfang nahm, beglich
Carrière die Rechnung und legte ein großzügiges Trinkgeld drauf.
Wohl in der Hoffnung, der Angestellte möge endlich aufhören, Adam
so neugierig anzustarren.
Adam strich gedankenversunken über das Leder und
flüsterte: »Ich habe diesen Koffer noch nie gesehen, aber er riecht
ganz eindeutig nach mir.«
Beherzt hakte Carrière sich bei Adam ein und führte
ihn in einen ruhigen Wartesaal, der unangenehm muffig nach feuchter
Kleidung und Langeweile roch. Ein altes Ehepaar wurde von seinen
Kindern hineinbugsiert, bis man alles geregelt habe. Ein Mann mit
einem abgewetzten Koffer verbarg sich hinter einer Zeitung, und
eine Frau mit einem Kleinkind an der Hand
kam nur kurz herein, denn kaum begann das Kind zu greinen, floh
sie wieder.
Adam sah sich mit einem entrüsteten Blick um. »Hier
soll ich den Koffer öffnen?«
»Was spricht gegen den Wartesaal? Oder vermuten
Sie, einen abgetrennten Frauenkopf in dem Koffer aufbewahrt zu
haben?«, hielt Carrière amüsiert dagegen.
»Eine etwas intimere Umgebung wäre mir einfach
angenehmer.«
»Gewiss wäre es das, aber ich bezweifele, dass Ihre
angespannten Nerven eine weitere Kutschfahrt aushalten würden. Also
zieren Sie sich nicht wie eine Jungfrau, sondern öffnen Sie endlich
den Koffer.«
Für einen Moment froren Adam sämtliche
Gesichtsmuskeln ein, während er sich vorstellte, zwei Dinge
gleichzeitig zu tun: Carrière für seine Unverschämtheit aus vollen
Lungen anzuschreien und panisch den Wartesaal ohne den Koffer zu
verlassen. Dann riss er sich zusammen, legte sich das Gepäckstück
auf die Knie und ließ die Schließen aufspringen.
Nichts von dem, was er sah, war ungewöhnlich, und
genau das verwirrte Adam. Er sah sauber zusammengelegte
Herrenkleidung von der gleichen italienischen Schneiderei wie die,
die er bei seiner Begegnung mit dem Dämon getragen hatte, und einen
Kulturbeutel mit einer bekannten Pariser Seife, wie Carrière sofort
anmerkte, und deren schwerer Geruch Adam die Nase verklebte. Nichts
wies auf den Mann hin, der er einmal gewesen war. Enttäuscht wollte
er schon aufgeben, als er zwischen zwei Hemden einen Umschlag
ertastete. Mit steifen Fingern holte er einen Pass und ein
Zugticket hervor.Vor lauter Anspannung biss er sich auf die
Unterlippe und schmeckte im nächsten Moment sein eigenes Blut.
Geradezu betörend streichelte es über seinen Gaumen.
Herzlichen Dank, machte sich der Dämon über
ihn lustig.
Adam würgte.
»Lassen Sie mich das einmal machen«, bot Carrière
leise an, dem älteren Ehepaar, das besorgt zu ihnen herüberblickte,
beruhigend zulächelnd. »Hier haben wir also einen italienischen
Pass, ausgestellt auf einen Remo Galgani. Fühlen Sie sich wie ein
Remo Galgani? Nein?«
Mehr als einen wütenden Blick brachte Adam nicht
zustande, während er noch gegen seinen Ekel ankämpfte.
»Wundert mich nicht«, fuhr Carrière ungerührt fort.
»Dem jungen Herrn hier sehen Sie nämlich nur auf den ersten Blick
ähnlich, auch wenn die Fotografie äußerst verwischt ist. Man könnte
fast von Absicht sprechen. Das ändert jedoch nichts daran, dass der
Unterschied auffällt: Ihre Augen sind einfach unvergleichlich. Nun
gut, neben einem falschen Ausweis habe ich hier noch eine
Geburtsurkunde, ausgestellt auf einen Charles Penrose, geboren 1869
in Hampshire, England. Klingt das vertraut? Auch nicht? Zumindest
einer Sache können wir uns gewiss sein: Remo oder Charles hatte ein
Zugticket nach Konstantinopel erworben. Eine Fahrt mit dem
luxuriösen Orientexpress, die über Budapest, Belgrad und Sofia geht
- alles Orte, an denen man unbedingt einmal gewesen sein muss.
Leider war die Abfahrt auf vor zwei Tagen datiert. Ein Jammer um
die verpasste Chance.«
»Ich wollte nach Konstantinopel reisen, mit einem
falschen Pass?«
Adams Stimme zitterte leicht, was er der allmählich
weichenden Übelkeit zuschrieb. Er warf nur einen hastigen Blick auf
Remo Galganis Pass, der neben seiner eigenen auch eine
verräterische fremde Note trug, womit Carrières Vermutung bestätigt
war. Diesen Pass hatte lange Zeit ein anderer mit sich geführt.
Dann nahm er die Geburtsurkunde in die Hand und wog sie, als könne
ihr Gewicht etwas über sie aussagen.
»Und einer Geburtsurkunde, die eindeutig einem
anderen gehört«, ergänzte Carrière eifrig. Als er Adams verstörten
Gesichtsausdruck
bemerkte, fügte er schnell an: »Selbst wenn eine englische
Herkunft zumindest Ihre Sommersprossen und Ihr schlechtes Benehmen
erklären würden, gehört Sie Ihnen nicht. Bedenken Sie das
Geburtsdatum: 1869. Sie sind zwar noch ein junger Bursche, mein
Bester.Aber gerade einmal zwanzig Jahre alt? Da habe ich so meine
Zweifel.«
Adam dachte kurz darüber nach, dann sagte er mit
deutlichem Widerwillen: »Die habe ich auch. Über fünfundzwanzig
Jahre könnte man vielleicht noch verhandeln, aber zwanzig reichen
definitiv nicht aus. Schade, Charles ist kein schlechter Name.« Das
Geräusch, das ihm über die Lippen kam, sollte ein Lachen sein,
klang aber nur verzweifelt. »Eine Sackgasse, zum Teufel noch
einmal.«
»Nicht unbedingt.« Etienne schloss den Koffer und
deutete auf einen roten, quadratischen Aufkleber, der am
Lederdeckel haftete. »Allem Anschein nach waren Sie im Grand Hôtel
abgestiegen - eine hübsche Adresse, wenn Sie mir diese
Untertreibung erlauben. ›Mit den prachtvollen Läden, den von Licht
und Gold funkelnden Schaufenstern, in denen sich alle Eleganz,
aller unverzichtbare Überfluss des modernen Lebens anhäuft, ist
dies der klassische Spazierweg der Müßiggänger und Ausländer. Das
Grand Hôtel ist eine eigene Welt. Der großzügige, prunkvolle
Zufluchtsort der Reisenden‹, wie de Saulnat es so einzigartig auf
den Punkt gebracht hat.Wer auch immer Sie einmal gewesen sind, Sie
wussten um die schönen Seiten des Lebens. Nun blicken Sie nicht
gleich wieder so finster drein. Wir machen jetzt einen Spaziergang
ins Amerikanische Viertel, in dem das Hotel liegt.Vielleicht
erinnert sich jemand an Sie.«
»Einer mageren Spur folgen wir da.« Adam ließ
mutlos die Schultern hängen. Die Vorstellung, wie sein altes Ich
sich Luxus und Vergnügungen hingab, stimmte ihn keineswegs froh,
sondern war ihm so fremd wie dieses beschämend gut geschnittene
Gesicht im Spiegel. »Was wird mir der Herr an der Rezeption
schon über mich erzählen können? Nach welchen Bars ich mich
erkundigt habe und wann ich mich für gewöhnlich am späten Vormittag
wecken ließ?«
Carrière blähte die Nasenflügel auf, während er
aufstand. »Was sind Sie plötzlich nur so mutlos? Eine Spur
beurteilt man erst dann, wenn man ihr gefolgt ist. Außerdem sollten
Sie die Neugierde Ihrer Mitmenschen niemals unterschätzen. Ein
junger, schöner Mann in einer der besten Adressen der Stadt.
Glauben Sie mir, so etwas fällt auf.« Da Adam sich immer noch nicht
durchringen konnte aufzustehen, sagte Carrière aufmunternd: »Und
falls es doch ein Schlag ins Wasser werden sollte, suchen wir uns
ein Plätzchen im Café de la Paix. Ein hervorragender Ort, wenn man
die Zeit totschlagen will.«
»Das klingt ungefähr so verführerisch wie ein
Schluck Champagner, seit dieser Dämon in mir haust.«
Carrières schmale Augenbrauen zogen sich zusammen.
»Man könnte fast meinen, Sie haben das Interesse daran verloren,
der eigenen Geschichte auf den Grund zu gehen.«
Adam zögerte. »Sagen wir es so:Was ist, wenn ich
herausfinde, dass es nichts zu verlieren gegeben hat? Nur einen
Mann, der vor sich selbst davonläuft.«
Schlagartig wurde Carrières Gesicht ernst.
»Natürlich gab es etwas zu verlieren, mein Freund. Warum sonst wäre
es Ihnen wohl gelungen, den wichtigsten Teil Ihres Wesens vor dem
Zugriff des Dämons zu verbergen? Wer immer Sie waren, Sie waren
wertvoll.«
Auch wenn Carrière es sicherlich nicht so meinte,
entging Adam keineswegs, dass er in der Vergangenheitsform sprach.
Er war wertvoll gewesen, als Mensch - nur wie sah es jetzt
aus? Mit einem Anflug von Gleichgültigkeit stand Adam auf, den
Koffer in der Hand. Er hätte ihn auch zurücklassen können, es hätte
keinen Unterschied für ihn gemacht. Einen Schritt zurückfallend,
folgte er Carrière zum Ausgang.