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Schneeeinbruch
Wie gewohnt machte Hayden einen verbotenen U-Turn
mitten auf der Straße, um den Wagen direkt vor dem Eingang des
Apartmenthauses zum Halten zu bringen. Um diese späte Nachtzeit war
das kein Problem, aber auch ansonsten störte es ihn nicht, wenn er
bei dieser Aktion ein Hupkonzert auslöste. Beim Autofahren war
Hayden ein anderer, jemand, der das Kostüm des zivilisierten
Stadtmenschen mit dem Aufröhren des Motors ablegte und nur noch
seinen Instinkten folgte.
Esthers Atmung ging einen Tick schneller, als
Hayden sich zu ihr beugte, um ihr einen Abschiedskuss zu geben.
Hayden zögerte ihn stets einen Moment hinaus - ein Spiel zwischen
ihnen beiden, das ihr normalerweise eine Gänsehaut verursachte.
Doch heute ging sie nicht darauf ein, sondern drückte hastig die
Lippen auf seine, was ihn merklich aus dem Konzept brachte.
Darauf mochte sie jedoch keine Rücksicht nehmen.
Rasch noch diesen einen Kuss abhandeln, dann würde sie sämtliche
Türen hinter sich zuschlagen und sich im Schutz ihres Apartments
jenem Schmerz überlassen, der sie schon seit Stunden zu übermannen
drohte.
Obwohl der Abend lang geworden war, roch Hayden
angenehm nach Seife und seinem holzigen Aftershave. Der Duft seines
Kirschholztabaks kam ihr zu Bewusstsein und verschlimmerte
den Schmerz. Unwillkürlich stöhnte Esther auf, worauf- hin Hayden
sich von ihren Lippen löste und aus dem Fenster starrte.
»Es ist wohl besser, wenn ich dich noch bis zu
deinem Apart- ment begleite«, sagte er nach einer Weile.
Esther krampfte sich innerlich zusammen. Für ein
höfliches Ringen, ob er sie nun bis vor ihre Tür begleiten durfte
oder nicht, fühlte sie sich einfach zu schwach.
»Nimm es mir nicht übel, aber ich würde jetzt gern
ein wenig für mich allein sein.«
Anstelle einer Entgegnung deutete Hayden mit
grimmiger Miene auf den Schatten eines hochgewachsenen Mannes, der
neben dem Eingang ihres Mietshauses stand. »Wie gesagt, ich bringe
dich besser nach oben.«
Mit schnellen Schritten umrundete er den Wagen und
half ihr auszusteigen, was sie an diesem Abend noch weniger
ausstehen konnte als sonst. Seine Hand blieb auf ihrem Oberarm
liegen und griff viel zu fest zu. Allerdings strahlte Hayden eine
Gereiztheit aus, die sie schweigen ließ. Ohnehin wanderten all ihre
Gedanken im nächsten Moment zu der Gestalt, die nun ins Licht der
Straßenbeleuchtung trat. Unbewusst setzte ihre Atmung einige Züge
lang aus.
Adam sah trotz seiner einwandfreien Kleidung und
dem feucht zurückgestrichenen Haar grauenhaft aus, nicht nur wegen
seiner von einem leuchtend roten Narbengeflecht durchsetzten Wange
und seiner aufgeplatzten Lippen.Von seiner ansonsten stets
spannungsgeladenen Haltung war nichts zu sehen, seine Schultern
waren eingefallen, und Esther bemerkte, dass sie leicht zitterten,
als könnten sie das Gewicht nicht länger tragen. Langsam kam er auf
sie zu, die Hände tief in den Manteltaschen vergraben. Nichts
verriet die Geschmeidigkeit, mit der er sich für gewöhnlich
bewegte. Als Hayden allerdings aus einem Beschützerinstinkt heraus
den Arm um Esthers Taille
legte, änderte sich das schlagartig. Fast glaubte sie ein tiefes,
bedrohliches Geräusch zu vernehmen. Auch Hayden schien es gehört zu
haben, denn sein eben noch forscher Schritt verlangsamte sich, bis
er sogar stehen blieb.
»Adam, so spät habe ich eigentlich nicht mehr mit
Ihnen gerechnet«, versuchte Esther, die Situation zu entschärfen.
Der Blick, mit dem Adam den Mann an ihrer Seite schweigend maß,
ließ ihr das Herz bis zur Kehle schlagen. »Darf ich Ihnen meinen
Verlobten Hayden vorstellen? Er arbeitet ebenfalls mit Anders
zusammen, allerdings in juristischen Belangen.«
Kaum fiel Anders’ Name, entspannte sich Hayden ein
wenig. Trotzdem klang seine Stimme tiefer als sonst, als fühlte er
sich von Adam herausgefordert. »Wenn man für Anders arbeitet, kommt
man selten zum Schlafen. Ob es Tag oder Nacht ist, interessiert ihn
nicht sonderlich. Das gilt wohl auch für Sie, wenn ich mir das
richtig zusammenreime. Sie werden jedoch verstehen, dass Esther
nach einem langen Tag sehr erschöpft ist. Mit welchem Auftrag auch
immer Anders Sie hierhergeschickt hat, es kann doch sicherlich bis
morgen warten.«
»Ich befürchte, das kann es nicht.«
Obwohl Adam gut drei Schritte vor ihnen stehen
geblieben war, kam es Esther so vor, als würden sie Körper an
Körper stehen, so nah fühlte sich die Hitze an, die er ausstrahlte.
Etwas, wonach sie greifen wollte.
»Ich bin hier, weil ich etwas von Esther
brauche.«
Als Hayden zu einer Widerrede ansetzen wollte,
legte Esther ihm die Hand auf die Brust. »Bitte, hierbei geht es um
meinen Job«, flüsterte sie ihm zu. »Fahr jetzt nach Hause und lass
ihn mich erledigen, wie ich ihn immer erledige.«
»Dieser Kerl sieht nicht aus, als ob er dich
lediglich als den Teil eines Jobs versteht. Ich bin doch nicht
blind, Liebes.«
»Mach es mir nicht noch schwerer, als es ohnehin
schon ist. Der Tag war tatsächlich sehr lang, und die letzten
Stunden waren
nicht leicht. Ich möchte diese Angelegenheit jetzt einfach nur
noch hinter mich bringen, verstehst du?«
»Ich werde im Auto warten, bis der Bursche das Haus
wieder verlassen hat.«
»Das wirst du nicht tun«, hielt Esther so
entschlossen dagegen, dass Hayden zurückzuckte.Augenblicklich hatte
sie Schuldgefühle, aber sie wusste, dass sie jetzt nicht nachgeben
durfte. »Das hier betrifft mich und meine Arbeit.Also fahr jetzt
bitte.«
Es war Hayden anzusehen, wie er mit sich kämpfte.
Fast befürchtete Esther, er könnte sich über ihren Willen
hinwegsetzen, was sicherlich viele Männer in einer solchen
Situation getan hätten. Aber einen solchen Mann hätte Esther sich
auch nicht ausgesucht. Er nahm sie ernst.
Kurz presste Hayden die Augen zusammen, als wolle
er einen Schmerz verdrängen, dann gab er ihr einen Kuss auf die
Stirn. »Sie sollten sich genau überlegen, was Sie tun«, sagte er zu
Adam. »Mein Mädchen mag so tun, als könne ihr nichts und niemand
etwas anhaben, aber in Wirklichkeit ist sie zerbrechlich.«
Bei diesen Worten wagte Esther es nicht, Adam ins
Gesicht zu sehen, aus Furcht, dort Spott oder gar Ablehnung zu
entdecken. »Das weiß ich«, sagte er jedoch mit einer so leisen
Stimme, dass alle ihre Bedenken augenblicklich zerstreut wurden.
»Ich werde auf sie aufpassen, soweit mir das möglich ist.«
Als Esther die Treppen hinaufstieg, konnte sie die
Schritte Adams, der ihr folgte, nicht hören.Aber sie spürte seine
Gegenwart schmerzlich intensiv, während ein Geruch von Schnee sie
umwehte.