11
Die Dienerschaft des Herrn
Es war nie verkehrt, wenn er auf seine Instinkte vertraute.
Auch dieses Mal wurde Adam nicht enttäuscht, als er sich dazu entschloss, nicht auf direktem Weg Anders’ Grundstück zu betreten. Zuerst einmal wollte er seine Neugierde befriedigen, die dieses hinter unauffälligem Grün verborgene Revier weckte. Dabei ging es allerdings nicht bloß um Wissensdurst, sondern auch um eine gewisse Eitelkeit, die er sich nur ungern eingestand.Ausgelöst wurde sie von dem ausgeklügelten Alarmsystem, mit dem Anders unwillkommene Gäste fernhalten wollte. Solche Grenzen erkannte Adams Instinkt nicht an. So bereitete es ihm ein Heidenvergnügen, als er in das wohlbehütete Revier eindrang und darin herumstromerte, die Ohren gespitzt, in der Hoffung, auf etwas Interessantes zu stoßen.
Was er schließlich auch tat:Anders’Torwächter Benson kreuzte seinen Weg, ohne dass dieser ihn entdeckte. Wenn Adam wollte, gelang es ihm, im Dickicht regelrecht unsichtbar zu werden, was ihm vor allem während seiner Zeit in Kambodscha viele Vorteile verschafft hatte. Es kostete ihn einiges an Überwindung, den ahnungslosen Mann an sich vorbeiziehen zu lassen, ohne ihm einen kräftigen Schrecken einzujagen. Denn wenn Adam ehrlich zu sich war, musste er zugeben, dass er es vermutlich nicht bei einem Schrecken belassen hätte. Mit seiner sturen Art war Benson ihm gegen den Strich gegangen, aber das war noch lange kein Grund, die grausame Seite seines Jagdinstinkts zu wecken.
Also flanierte Adam weiter durch die Dunkelheit, den vielfältigen Geräuschen des nächtlichen Gartens nachhängend, während sich ein kühler Film auf sein Gesicht legte, hervorgerufen vom Wind, der nach Harz, Frühjahrsblumen … und einer Mischung aus lockendem, wie auch zugleich abstoßendem Muskat duftete. Natürlich hatte Adam mit Fährten von Anders’ und Rischkas Dämonengeruch gerechnet, allerdings kamen sie ihm aus einer Richtung entgegen, aus der er sie nicht vermutet hatte:Anstelle in Richtung der Villa deutete die Fährte auf den Garten hin.
Anders …, hauchte der Dämon. Ganz nah, bald wieder meins. Geh zu ihm!
Dieser Befehl war überflüssig, da Adams Neugierde ihn ohnehin antrieb. Er folgte der Spur, bis er erneut auf die efeugrüne Mauer stieß. Geschickt kletterte er über das hohe Mauerwerk hinweg, wobei weder Alarmdrähte noch Stacheldraht eine Herausforderung darstellten. Nachdem er die Baumreihen hinter sich gelassen hatte, gelangte er auf eine Baustelle. Hier wurde ein neues, großflächig umrissenes Haus errichtet.Wenn er sich nicht täuschte, würde das Ergebnis ganz dem modernen Geschmack Kaliforniens entsprechen: ein futuristisch anmutender, streng geometrischer Bau. Ein altes Gästehaus, auf das er ebenfalls einen Blick erhaschen konnte, verriet, dass hier zuvor wohl ein viktorianisches Holzhaus gestanden hatte.
Für einen Moment verharrte Adam, um in sich hineinzuhorchen. Warum störte ihn die Tatsache, dass hier etwas Altes einfach gegen etwas Neues eingetauscht wurde? Schließlich entsprach es doch der Mentalität dieses Landstriches, deren Blick fest auf die Gegenwart und höchstens ab und an auf die Zukunft gerichtet war. Du solltest dich hier eigentlich wie zu Hause fühlen, sinnierte er. Ein Ort, der nichts auf die Vergangenheit gibt, der vielmehr ihre Spuren auslöscht, wo er nur kann. Ein solcher Ort ist doch wie dein Spiegelbild.
Aber so wollte er nicht sein, verflucht! Selbst nach all den Jahren konnte er den Widerstand gegen sein Schicksal nicht abstreifen und akzeptieren, dass es keine Vergangenheit für ihn gab, weil er kein Leben im eigentlichen Sinne führte. Da half ihm auch seine Sturheit nicht weiter.
Die Gedanken wie lästige Fliegen abschüttelnd, hielt Adam auf den halbfertigen Bau zu, wobei ihm Rischkas Lachen aus der Ferne entgegenschallte. Sie und Anders mussten sich irgendwo in einem anderen Bereich des Gartens aufhalten. Zunächst wollte er dem Lachen nachgehen, dann entschied er sich jedoch dazu, schnell noch einen Blick in das Gebäude mit seinen nackten Fensterlöchern zu werfen. Es lockte ihn wie ein dunkles Versprechen.
 
Die Arme vor der Brust verschränkt, stand Adam im ersten Stockwerk, in das er über eine provisorische Treppe aus Holzbrettern gelangt war. Da die Wände hier gerade erst hochgezogen wurden, hatte er einen hervorragenden Blick auf das Schauspiel, das ein Stück von der Baustelle entfernt geboten wurde.
Neben dem nächtlich beleuchteten Pool, der von den Abrissarbeiten verschont geblieben war, stand eine Liege, auf der sich eine verführerische Frau räkelte. Rischka bog mit gespielter Verzückung den Rücken durch, während Anders sich ausgiebig ihren nackten Füßen widmete. Ihre rot geschminkten Lippen waren zu einem kunstvollen »Oh« geöffnet, die Lider flatterten leicht.
Ehe das Ganze noch intimer wurde, sprang Adam hinab und schlenderte auf das Paar zu, das ihn jedoch erst bemerkte, als er neben der Liege angekommen war und ein Schnalzen mit der Zunge hören ließ.
»Vielen Dank für die nette Vorstellung, selbst wenn sie nicht für meine Augen bestimmt war.«
Voller Genugtuung steckte Adam Rischkas wütendes Funkeln weg. Eigentlich hatte er damit gerechnet, ihr nach der letzten Nacht voller Zorn entgegenzutreten, da sie keine Hemmung gezeigt hatte, seinem Dämon ins Bett zu folgen. Aber stattdessen fühlte er sich geradezu gut gelaunt. »Es ist wirklich ein Segen, dass du deine Vorführungen auf ein kleines Publikum beschränkst, meine Liebe. Auf einer echten Bühne könnte so eine Darbietung wohl kaum bestehen. Dieses hingebungsvolle Stöhnen war wirklich zu dick aufgetragen.«
»Mag sein«, erwiderte Rischka hocherhobenen Hauptes. »Aber nachdem ich diese Darbietung letzte Nacht doch ausgiebig unter dir geübt habe, wollte ich nun einmal nicht darauf verzichten. Ich kann mich jedenfalls an keine Beschwerde erinnern, dass meine Hingabe zu überzogen war.«
Adam zuckte mit der Schulter. »Keine Ahnung, ich war ja nicht dabei. Falls du letzte Nacht also nicht wirklich auf deine Kosten gekommen sein solltest, musst du dich leider bei einem anderen beschweren. Obwohl ich mir gut vorstellen kann, dass mir dieser entrückte Schrei, mit dem du Anders für die Sache mit deinem großen Zeh entlohnt hast, nicht einmal bewusstlos entgangen wäre.«
Anders lachte, wobei er sich das Haar mit der Hand zurückstrich, bis der Seitenscheitel wieder akkurat saß.An seinem Hals leuchtete noch die frische Narbe auf, die Adam ihm beigebracht hatte - eines von jenen Malen, die nicht so schnell wichen.
»Sie wissen wirklich, wie man sich anschleicht, mein Guter. Mir ist eben vor Schreck fast das Herz in die Hose gerutscht. Morgen früh werde ich Benson wohl mal ordentlich wegen der Alarmanlage auf den Zahn fühlen müssen. Wenn Sie über mein Grundstück bis hierher gekommen sind, hätte sie eigentlich anschlagen müssen.«
»Welche Alarmanlage?«
Mit einer ahnungslosen Miene setzte sich Adam in die Mitte der Liege, woraufhin Anders aufstand und Rischka ein wütendes Zischen ausstieß. Einen Augenblick lang gab er sich noch der Zufriedenheit hin, sie beide ordentlich durcheinandergebracht zu haben, dann fixierte er Anders, der sich gerade eine Zigarette zwischen die Lippen steckte.
»Ein interessanter Bau, den Sie da hochziehen lassen. Reicht der Platz in der Villa für Ihre Familie nicht länger aus?«
»Nein, an mangelndem Platz liegt es nicht, vielmehr an dem Wunsch nach Veränderung. Als dieses Grundstück zum Verkauf stand, kam es mir wie ein Zeichen vor. Wenn man sich den Luxus leisten kann, ein Haus zu bauen, das zu den eigenen Bedürfnissen passt, dann sollte man nicht lange zögern.«
»Neue Bedürfnisse, hm?«
Adam streckte die Beine aus, was ihm von Rischka ein abfälliges Schnauben einbrachte. Offenbar war sie mit seinem Verhalten nicht sonderlich einverstanden.Was hast du denn erwartet?, hätte Adam sie fast gefragt. Dass ich um Nachschlag bettele oder es nicht wage, dir unter die Augen zu treten, nachdem du dich über meinen Willen hinweggesetzt hast? Du warst mit dem Dämon zusammen, nicht mit mir. Und selbst der interessiert sich gerade einen feuchten Kehricht für dich, weil er nur Anders und seine Gabe im Kopf hat.
Lass Anders mir geben, wonach ich verlange.Tu endlich, was ich dir befehle!
Unablässig schallten die Forderungen des Dämons durch Adam. Er riss und zerrte an ihm, versuchte, seine Gefolgschaft zu erzwingen. Da er jedoch noch von dem eben erbrachten Blutopfer besänftigt war und die Gefühle, die Esther in Adam wachgerufen hatte, ihn bannten, schaffte er es nicht, seine sonstige Macht zu entwickeln. Es war fast so, als tobte der Dämon hinter einer Wand aus Milchglas.
So gelang es Adam, sich ganz auf Anders zu konzentrieren, den die Affäre von Rischka nicht weiter zu bekümmern schien. Es gefiel ihm jedoch ganz eindeutig nicht, dass Adam sein künftiges Haus inspiziert hatte. Zumindest hatte sich seine Kieferpartie auffällig verspannt, nachdem dieses Thema aufgekommen war. Genau aus diesem Grund nahm Adam sich vor, noch ein wenig tiefer zu bohren, zusätzlich angestachelt von der Ungeduld, die er bei Rischka wahrnehmen konnte. Etwas an diesem Gespräch elektrisierte sie regelrecht.
»Diese Bedürfnisse, von denen Sie sprechen, haben nicht zufällig etwas mit dem Keller des Gebäudes zu tun? Kam mir irgendwie wie das Herzstück des Ganzen vor. Ein gut weggeschlossenes Herz, wenn man die Türkonstruktion bedenkt. Eine Tresortür ist es zwar nicht, aber dicht dran.«
»Freut mich, dass sie Ihre Bewunderung findet. Ich habe die Tür nämlich selbst entworfen. Für irgendwas muss diese Ingenieursausbildung schließlich gut sein. Zumindest funktioniert sie besser als mein Alarmsystem, denn wenn es Ihnen gelungen wäre, die Tür zu öffnen, müssten Sie jetzt nicht nachfragen, richtig?«
»Richtig.« Adam erwiderte das Lächeln seines Gegenübers, wobei es mindestens genauso kühl ausfiel. »Übrigens«, beschloss er, das Thema zu wechseln, »die Liste, die Ihre Dienerin aufgestellt hat, ist gut und schön.Aber ich kann ihr leider nicht mehr entnehmen, als Sie es auch selbst können. Einer von uns opfert ein bisschen zu oft und zu gern. Um mehr zu erfahren, brauche ich eine echte Spur, etwas, mit dem meine Sinne arbeiten können.«
Unvermittelt lehnte Rischka sich zu ihm hinüber und streckte die Hand aus.Adam zuckte zusammen, dann begriff er, dass sie seinen hochgekrempelten Hemdärmel herunterrollen wollte. Er verwehrte es ihr jedoch mit einem leichten Schlag auf die Finger.
»In welchen fremden Häusern hast du dich heute Abend denn noch so herumgetrieben?«, fragte Rischka, wobei die plötzliche Erregung in ihrer Stimme nicht zu überhören war. »Dein Hemd ist ganz feucht, und am Ärmel ist …«
»Blut«, beendete Adam den Satz, um dann an Anders gewandt zu sagen: »Die Leiche, die ich bei dieser Opferung zurückgelassen habe, wird allerdings für keinen großen Wirbel sorgen. Es sei denn, das LAPD macht sich die Mühe herauszufinden, ob alles Blut des Opfers aus der Kehle in den Abfluss gelaufen ist. Selbst dann würden sie nicht viel vermissen, der Kerl war nämlich alles andere als lecker.«
Rischka stieß ein raues Kichern aus. »Deshalb bist du so entspannt, selbst in Anders’ Nähe: Der Beherrscher ist befriedigt. Heute also kein Verlangen nach stürmischen Küssen?«, flüsterte sie ihm hinter vorgehaltener Hand zu.
Auch Anders sah durchaus amüsiert aus, während ihm der Zigarettenrauch zugleich aus Nase und Mund quoll. »Es ist nicht so, dass ich etwas gegen das Opfern habe, bestimmt nicht. Es ist aber eine Frage des Wie. Wir sind hier eine stetig wachsende Gemeinde, da können wir uns diese Art von Aufmerksamkeit nicht erlauben. Unser unbekannter Freund hat von der Gerichtsmedizin bereits einen verräterischen Spitznamen bekommen, der an einen billigen Horrorstreifen erinnert. Es ist also nur noch eine Frage der Zeit, bis die Medien ihn aufgreifen werden.«
»Lassen Sie mich raten: Werwolf ist es vermutlich nicht?«
Anstelle einer Antwort grinste Anders lediglich. »Nun, auf der Liste, die Esther Ihnen gegeben hat, stand alles, was wir aus eigener Kraft in Erfahrung bringen konnten. Nach einer Spur, die Ihren Jagdinstinkten auf die Sprünge hilft, müssen Sie schon selbst suchen.«
»Das habe ich vor, aber dabei könnte ich ein wenig Hilfe gebrauchen. Los Angeles ist eine verflucht große Stadt, und es kostet selbst mich eine gewisse Zeit, sie zu erkunden.«
Anders hob ratlos die Hände. »Was erwarten Sie von mir?«
»Eine Fremdenführerin. Überlassen Sie mir Esther für die Zeit der Suche. Schließlich kennt sie den Fall genauso gut wie ich.« Als die Worte heraus waren, hörte Adam vor lauter Anspannung einige Sekunden lang nichts anderes als das Rauschen hinter seiner Stirn.
»Das ist nicht dein Ernst!«
Rischka bohrte ihre künstlich verlängerten Nägel so ungestüm durch Adams Haut am Oberarm, dass er nicht einmal zusammenzucken konnte. Augenblicklich setzte ein brennender Schmerz ein. Was auch immer sie als Lack aufgetragen hatte, es hinterließ Verätzungen. Wo die Nägel eingedrungen waren, platzte die Haut weiter auf. Der Dämon musste sich ordentlich anstrengen, um dagegen anzukämpfen, auch wenn er schallend lachte.
Fieses Miststück, sagte er anerkennend, als wisse er diesen Trick durchaus zu schätzen. Was ist das: das erste Weihwasser, das wirklich etwas gegen uns zu bewirken vermag?
Adam hingegen war keineswegs zum Lachen zumute. Es kostete ihn sehr viel Kraft, Rischkas Handgelenk nicht so wegzustoßen, dass es brach. Nur widerwillig löste Rischka ihre Finger, wobei sie ihn provozierend anstarrte. Zweifelsohne eine Herausforderung, jedoch eine, deren Sinn er nicht begriff.Warum hegte sie plötzlich den Wunsch, ihn zu verletzen?
Als Adam sich sicher war, dass seine Stimme trotz der unablässigen Schmerzen fest war, richtete er sie an Anders, der von der Attacke nichts mitbekommen zu haben schien. »Es tut mir leid, wenn ich Sie mit meiner Forderung, mir Esther für diese Aufgabe zu überlassen, in die Ecke dränge. Ich kann mir gut vorstellen, wie sehr Sie sich auf Ihre Dienerin stützen. Aber Esther kennt sich neben Ihnen am besten mit dem Fall aus. Oder möchten Sie den Part, mir zu assistieren, gern übernehmen? Das wäre mir natürlich auch recht.«
Wie erwartet verzog Anders das Gesicht. »Ich befürchte, das lässt sich leider nicht mit meinem Terminkalender vereinbaren. Aber natürlich liegt es in meinem Interesse, Sie zu unterstützen, wo ich nur kann.Also werde ich Esther instruieren, Ihnen nach Kräften behilflich zu sein.«
Adam konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
Anders’ Finger umtanzten ein silbernes Benzinfeuerzeug, während er ihn nachdenklich musterte. »Eine Sache will ich nur klarstellen: Sie gehen gut mit meiner Dienerin um. Ich möchte nicht von ihrem Verlobten zur Rechenschaft gezogen werden, weil Sie Mist gebaut haben. Der Kerl ist nämlich der beste Anwalt der Stadt. Außerdem liegt mir persönlich viel an Esther.«
»Mach dich nicht lächerlich, Anders. Wenn dir tatsächlich etwas an Esther liegen würde, würdest du sie Adam nicht überlassen«, warf Rischka mit bitterem Ton ein.
»Warum nicht? Dich habe ich ihm ja schließlich auch in der letzten Nacht überlassen.« Gleichgültiger hätte Anders nicht klingen können. »Letztendlich gehört ihr alle mir.«
»Das mag für die anderen gelten, aber nicht für mich«, erklärte Adam bestimmt.
Anders sah ihn lange an, ehe er mit einer aufreizenden Gewissheit erwiderte: »Noch nicht, aber bald.«
Nachtglanz - Heitmann, T: Nachtglanz
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