39
Scherbenhaufen
Von Angesicht zu Angesicht fand Adam sich mit Anders wieder, verwirrt und von einer Erregung ergriffen, die sich nur schwerlich wieder abschütteln ließ. Auch Anders schien vollkommen entrückt zu sein, den Mund zum einladenden Kuss geöffnet. Einem Kuss, den Adam ihm in diesem Moment nicht einmal dann gegeben hätte, wenn er gezwungen wäre, das Elixier bis zur Neige auszutrinken, das Rischka von Adalbert gestohlen hatte.
Nervös leckte Adam sich über die Lippen und brachte seine Finger dazu, den Nacken des Mannes frei zu geben, obwohl sein Körper unablässig nach der Berührung verlangte, ausgelöst von dem betörenden Muskatduft, der Anders stärker als je zuvor umgab. Allerdings war es nur sein Körper, der so überschwänglich reagierte, während von den verzückten Lauten des Dämons nichts mehr zu hören war. Der schwieg so vollkommen, als gäbe es ihn gar nicht mehr. Er musste seine Chance nutzen, sofort!
Als Adam jedoch abrückte, bohrte sich die Klinge erneut in seine Lunge. Keuchend lehnte er seine Stirn gegen Anders’ Brust, der ihn in seiner Verklärung in die Arme schloss. Qualvoll, als müsse er an dem anziehenden Muskatduft ersticken, drehte Adam den Kopf, zu schwach, der Umarmung zu entkommen. Neben ihm stand Adalbert, und seine Augen funkelten vor Neugierde. Sein Gesicht war mit rot leuchtenden Flecken überzogen, wo es mit dem Trockeneis in Berührung gekommen war.
»Der Kuss, die Einladung des Dämons, geht von Mund zu Mund. Das ist es zumindest, was ich gehört habe. So, wie du an Anders hinabgleitest, sieht es ganz danach aus, als wolltest du mich eines Besseren belehren. Du planst wohl einen Kuss der besonderen Art, was? Dabei dachte ich, dass das, was du uns auf der Party geboten hast, an Hemmungslosigkeit schon nicht mehr zu überbieten sei.«
Mehr als ein drohendes Knurren brachte Adam nicht zustande. Jede weitere Bewegung hätte die Klinge tiefer in sein Fleisch getrieben.
»Knurrst du mich an, du mieser Köter?« Adalbert begutachtete das Gewehr, das er vom Boden aufgeklaubt hatte. Dann richtete er die Waffe auf Adam. »Ich gebe dir noch zehn Sekunden Zeit, Anders mit einem Kuss einzuladen. Dabei ist mir sogar gleich, auf welche Art du ihn küsst.« Ein widerwärtiges Lächeln breitete sich auf Adalberts Zügen aus. »Falls nicht, schieße ich dir deinen Kopf aus nächster Nähe weg, und dann kann Anders sich überlegen, was er mit dir zu tun gedenkt. Ein Bett im Trockeneis wäre in so einem Fall empfehlenswert.Wenn ich also bitten darf?«
Starr vor Zorn sah Adam auf Adalberts Lippen, die von zehn an rückwärts zu zählen begannen. Ohne einen Laut von sich zu geben, machte sein Dämon sich unterdessen daran, die Klinge aus seinem Fleisch zu treiben. Doch es ging nicht annähernd so schnell, wie Adalbert zählte. Adam dachte an Esther, die er gegen ihren Willen an einem sicheren Ort zurückgelassen hatte. Denn es sah ganz danach aus, als ob er diesen Kellerraum niemals mehr verlassen würde.
»Null«, sprach Adalbert genussvoll langsam aus, während sein Finger sich um den Abzug legte.
Plötzlich wurde Adalbert herumgerissen, und es erklang ein dumpfes Pochen. Splitter flogen durch die Luft, Adalbert taumelte herum, das Gesicht ein Netz aus weißen Linien, die sich jedoch bald mit Blut füllen würden. Er verdrehte die Augen, bis nur noch das Weiße zu sehen war, dann kippte er zur Seite.
Dort, wo eben noch Adalbert gestanden hatte, schwankte nun Rischka vor und zurück, die nach wie vor mehr einer Schneeskulptur als einem lebenden Wesen glich. Nur die Lippen hatten Farbe. Eine ihrer Hände war nicht länger vorhanden, der Arm endete in einem Stumpf, was sie jedoch nicht weiter zu kümmern schien. Mit ruppigen Bewegungen, die nur durch die Macht des Dämons gelenkt wurden, stieß sie ihre Finger in die Einstichwunde in Adams Rücken, sich keinen Deut um seinen durch den Raum schallenden Schmerzenslaut scherend. Kaum hatte sie die abgebrochene Klinge herausgezogen, stieß sie sie in Anders’ Kehle, der sich gerade erst wieder zu regen begonnen hatte, als würde er aus einem Traum aufwachen.
Nach Luft ringend, fiel Adam auf die Seite, während der Dämon Millimeter für Millimeter den Schnitt in seiner Lunge schloss, jetzt, da ihm nichts mehr im Weg war. Nur eine Armlänge von ihm entfernt lag der bewusstlose Adalbert, dessen zerschundenes Gesicht bereits von Blut überströmt war. Obwohl sein Körper protestierte, gelang es Adam schließlich, sich auf die Knie zu ziehen. Rischka verharrte über Anders, die Hand an seiner Halswunde, als wolle sie verhindern, dass er sich die Klinge wieder herauszog.Tatsächlich war Anders so weit zu sich gekommen, dass sein Blick auf die am ganzen Leib zitternde Frau gerichtet war, aus deren Stumpf nun Blut zu fließen begann. Tropfenweise, denn noch war das Adergeflecht nicht gänzlich wieder aufgetaut.
»Wir werden diesen Hurensohn jetzt endgültig umbringen«, erklärte Adam, kaum dass genug Luft in seinen Lungen war.
»Nicht wir. Du musst das allein tun. Ich kann es einfach nicht.« Rischkas Stimme klang so rau, als gehörte sie einer anderen. Dabei erklang ein grauenhaftes Geräusch, als ihre vereisten Lippen einrissen.
»Meinetwegen, aber dafür schuldest du mir etwas. Und du kannst mir vertrauen, dass ich dich zahlen lassen werde.«
Mit jeder Bewegung spürte Adam, wie der Dämon ihm mehr Kraft verlieh. Widerwillig nahm Adam das Geschenk an, wohl wissend, dass in seiner Welt nichts umsonst war. So wie er später die Schulden bei Rischka einfordern würde, würde der Dämon einen größeren Raum in ihm in Anspruch nehmen, nachdem er ihm diesen zugestanden hatte, um Anders gewachsen zu sein. Aber das zählte jetzt nicht.
Es war mehr Gewalt nötig, Rischka von dem bewegungslosen Anders wegzuziehen, als geahnt. Als würden ihre Glieder ihm weiterhin die Treue halten, obwohl der Verrat schon längst vollzogen war.
Zu seiner Verwunderung fiel es Adam jedoch nicht schwer, brutal mit Rischka umzuspringen. Sein Rachebedürfnis meldete sich und flüsterte ihm zu, dass er seine jetzige Lage allein ihrer hinterhältigen Art zu verdanken hatte.Auch dieses Gefühl hieß Adam willkommen, denn er brauchte trotz der Kraft, die der Dämon ihm verlieh, auch eine enorme Willensanstrengung, um die Wunde in Anders’ Kehle zu weiten, damit das Blut schneller herauslief. Währenddessen suchten Anders’ Hände nach seiner Haut, wohl in der Hoffnung, seine spezielle Magie ein weiteres Mal wirken zu können. Doch weder Mann noch Dämon reagierten auf die Berührung, und bald wurde Anders’ Griff immer schwächer, bis er schließlich abfiel.
Rischkas Weinen, das sich mittlerweile zu einem unkontrollierten Schluchzen gesteigert hatte, ignorierend, riss Adam den Deckel des Containers beiseite und hievte Anders’ leblosen Körper in das Bett aus Trockeneis. Obwohl seine Hände wegen der Kälte wild zu pochen begannen, schaufelte er so lange, bis nichts mehr von Anders zu sehen war. Dann verschloss er den Container.
Mit geschlossenen Augen stand Adam da und wartete ab, bis seine vor Kälte abgestorbenen Hände wieder zu Leben erwachten. Rischkas Weinen zerrte an seinen Nerven, genau wie das widerliche Geräusch, mit dem die einzelnen Splitter ihres abgetrennten Stumpfes wieder zu ihr zurückkehrten, um sich zusammenzusetzen. Der Gestank von dem vergossenen Blut brannte ihm in der Nase und reizte unablässig seinen Magen. Er konnte hören, wie Adalbert erwachte und wimmernd über den Boden kroch. Als er die Berührung von Haut auf Metall registrierte, öffnete er fluchend die Augen, doch da hatte Adalbert das Gewehr bereits wieder in den Händen.
»Bleib, wo du bist«, forderte Adalbert ihn auf, das Gesicht nicht mehr als eine rote Fratze.
»Wenn du tatsächlich glaubst, dass du wegen eines Gewehrs in deinen Händen an mir vorbeikommst, um Anders zu befreien, dann bist du noch dümmer, als ich dachte«, sagte Adam leise, was ihn noch bedrohlicher klingen ließ. Mit einem von der Kälte schwarz verdorrten Zeigefinger deutete er dabei auf Adalberts Brust, als würde er jeden Augenblick vorschnellen, um ihm das Herz herauszureißen.
Adalberts Kinn bebte vor Anspannung, während er nach der passenden Entgegnung suchte. »So dumm bin ich tatsächlich nicht«, brachte er schließlich hervor. »Ich werde jetzt gehen, aber ich verspreche dir, dass wir uns wiedersehen werden.«
»Leck mich.«
Adam betrachtete den Gewehrlauf, als würde er ausloten, ob die Kugel tatsächlich schneller sein konnte als er in seiner Wut. Adalbert wartete seine Entscheidung nicht ab, sondern betätigte den Mechanismus der Tür, um so schnell wie möglich durch den Türspalt zu schlüpfen.
 
Es dauerte eine Weile, bis Adam sich so weit unter Kontrolle hatte, dass er Rischka anblicken konnte, ohne ihr den Schädel einzuschlagen und sie neben Anders zu betten. Adalbert gehen zu lassen, hatte ihn fast seine gesamte Beherrschung gekostet, und in ihm brüllte seine Rachsucht laut nach Vergeltung. Dafür hatte er jedoch keine Zeit, er musste zurück zu Esther, die schon längst aus ihrer Ohnmacht erwacht sein musste und ihn vermutlich zum Teufel wünschte, weil er ihr Ansinnen so hinterhältig unterlaufen hatte.
»Hör mir zu, Rischka. Du wirst deinen Anteil daran tragen müssen, dass Anders nicht wiederaufersteht.Allein kann ich das jetzt nicht übernehmen, denn es muss schnell gehen.«
Mühsam riss Rischka den Blick von ihrer Hand los, die aussah wie ein grob geflickter Handschuh aus rotbraunem Leder. »Ich kann nicht«, wimmerte sie. »Anders’ Einfluss ist zu stark, du weißt ja nicht, wie es sich anfühlt, auf seine Berührung verzichten zu müssen. Nein, ich kann das einfach nicht.«
»Du kannst nicht nur, sondern du wirst auch. In diesem Container liegt eine ausgeblutete, erfrorene Hülle, die der Dämon erst wieder in Besitz nehmen muss. Nur werden wir es nicht so weit kommen lassen.Wir werden diese Hülle zerschlagen und dann die Splitter in alle Himmelsrichtungen zerstreuen, bevor sie schmelzen und der Dämon sie wieder zusammensetzen kann. Du wirst dich der unnützen Teile wie den Gliedmaßen annehmen und ich der lebenswichtigen, damit du mir gar nicht erst auf dumme Ideen kommen kannst.« Rischka sah ihn aus tränennassen Augen an, aber er erkannte auch bereits wieder ihren Stolz, der nicht mehr lange zulassen würde, dass er so mit ihr umsprang. Er musste sich also noch mehr beeilen. »Wenn du deinen Anteil erledigt hast, wirst du zu mir kommen.«
»Warum sollte ich das tun?«
»Um zu zahlen, Rischka. Dafür, dass ich dich von Anders befreit habe, und dafür, dass du mich wie eine Marionette behandelt hast. Das wird teuer.«
Rischka zog eine Schnute. »Ohne mich hättest du deine wertvolle Esther allerdings niemals kennengelernt.«
»Das stimmt«, sagte Adam, während er den Containerdeckel aufzog und Anders’ Leib zum Vorschein brachte. »Ob ich dich dafür bis ans Ende deiner Tage zahlen lassen werde oder dir deine Schulden erlasse, wird sich schon bald herausstellen.Aber jetzt verabschiede dich erst einmal von dem Mann, der eine Götterdämmerung der blutigen Art einleiten wollte.«
Mit voller Wucht schleuderte Adam den schweren Deckel auf Anders’ Leib, um ihn zu zerbrechen. Er würde so lange auf ihn einschlagen, bis nur noch unzählige Splitter von ihm vorhanden waren. So wie einst auch der Dämon zerschlagen worden war. Und genau wie ihm würde Anders keine Wiederauferstehung vergönnt sein, schwor Adam, als er in den Überresten jene Bruchstücke herausfischte, die die rote Lebensenergie, nach der der Dämon sich mit aller Macht sehnte, zum Fließen brachte.
Nachtglanz - Heitmann, T: Nachtglanz
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