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Scherbenhaufen
Von Angesicht zu Angesicht fand Adam sich mit
Anders wieder, verwirrt und von einer Erregung ergriffen, die sich
nur schwerlich wieder abschütteln ließ. Auch Anders schien
vollkommen entrückt zu sein, den Mund zum einladenden Kuss
geöffnet. Einem Kuss, den Adam ihm in diesem Moment nicht einmal
dann gegeben hätte, wenn er gezwungen wäre, das Elixier bis zur
Neige auszutrinken, das Rischka von Adalbert gestohlen hatte.
Nervös leckte Adam sich über die Lippen und brachte
seine Finger dazu, den Nacken des Mannes frei zu geben, obwohl sein
Körper unablässig nach der Berührung verlangte, ausgelöst von dem
betörenden Muskatduft, der Anders stärker als je zuvor umgab.
Allerdings war es nur sein Körper, der so überschwänglich
reagierte, während von den verzückten Lauten des Dämons nichts mehr
zu hören war. Der schwieg so vollkommen, als gäbe es ihn gar nicht
mehr. Er musste seine Chance nutzen, sofort!
Als Adam jedoch abrückte, bohrte sich die Klinge
erneut in seine Lunge. Keuchend lehnte er seine Stirn gegen Anders’
Brust, der ihn in seiner Verklärung in die Arme schloss. Qualvoll,
als müsse er an dem anziehenden Muskatduft ersticken, drehte Adam
den Kopf, zu schwach, der Umarmung zu entkommen. Neben ihm stand
Adalbert, und seine Augen funkelten vor Neugierde. Sein Gesicht war
mit rot leuchtenden Flecken überzogen, wo es mit dem Trockeneis in
Berührung gekommen war.
»Der Kuss, die Einladung des Dämons, geht von Mund
zu Mund. Das ist es zumindest, was ich gehört habe. So, wie du an
Anders hinabgleitest, sieht es ganz danach aus, als wolltest du
mich eines Besseren belehren. Du planst wohl einen Kuss der
besonderen Art, was? Dabei dachte ich, dass das, was du uns auf der
Party geboten hast, an Hemmungslosigkeit schon nicht mehr zu
überbieten sei.«
Mehr als ein drohendes Knurren brachte Adam nicht
zustande. Jede weitere Bewegung hätte die Klinge tiefer in sein
Fleisch getrieben.
»Knurrst du mich an, du mieser Köter?« Adalbert
begutachtete das Gewehr, das er vom Boden aufgeklaubt hatte. Dann
richtete er die Waffe auf Adam. »Ich gebe dir noch zehn Sekunden
Zeit, Anders mit einem Kuss einzuladen. Dabei ist mir sogar gleich,
auf welche Art du ihn küsst.« Ein widerwärtiges Lächeln breitete
sich auf Adalberts Zügen aus. »Falls nicht, schieße ich dir deinen
Kopf aus nächster Nähe weg, und dann kann Anders sich überlegen,
was er mit dir zu tun gedenkt. Ein Bett im Trockeneis wäre in so
einem Fall empfehlenswert.Wenn ich also bitten darf?«
Starr vor Zorn sah Adam auf Adalberts Lippen, die
von zehn an rückwärts zu zählen begannen. Ohne einen Laut von sich
zu geben, machte sein Dämon sich unterdessen daran, die Klinge aus
seinem Fleisch zu treiben. Doch es ging nicht annähernd so schnell,
wie Adalbert zählte. Adam dachte an Esther, die er gegen ihren
Willen an einem sicheren Ort zurückgelassen hatte. Denn es sah ganz
danach aus, als ob er diesen Kellerraum niemals mehr verlassen
würde.
»Null«, sprach Adalbert genussvoll langsam aus,
während sein Finger sich um den Abzug legte.
Plötzlich wurde Adalbert herumgerissen, und es
erklang ein dumpfes Pochen. Splitter flogen durch die Luft,
Adalbert taumelte herum, das Gesicht ein Netz aus weißen Linien,
die sich
jedoch bald mit Blut füllen würden. Er verdrehte die Augen, bis
nur noch das Weiße zu sehen war, dann kippte er zur Seite.
Dort, wo eben noch Adalbert gestanden hatte,
schwankte nun Rischka vor und zurück, die nach wie vor mehr einer
Schneeskulptur als einem lebenden Wesen glich. Nur die Lippen
hatten Farbe. Eine ihrer Hände war nicht länger vorhanden, der Arm
endete in einem Stumpf, was sie jedoch nicht weiter zu kümmern
schien. Mit ruppigen Bewegungen, die nur durch die Macht des Dämons
gelenkt wurden, stieß sie ihre Finger in die Einstichwunde in Adams
Rücken, sich keinen Deut um seinen durch den Raum schallenden
Schmerzenslaut scherend. Kaum hatte sie die abgebrochene Klinge
herausgezogen, stieß sie sie in Anders’ Kehle, der sich gerade erst
wieder zu regen begonnen hatte, als würde er aus einem Traum
aufwachen.
Nach Luft ringend, fiel Adam auf die Seite, während
der Dämon Millimeter für Millimeter den Schnitt in seiner Lunge
schloss, jetzt, da ihm nichts mehr im Weg war. Nur eine Armlänge
von ihm entfernt lag der bewusstlose Adalbert, dessen zerschundenes
Gesicht bereits von Blut überströmt war. Obwohl sein Körper
protestierte, gelang es Adam schließlich, sich auf die Knie zu
ziehen. Rischka verharrte über Anders, die Hand an seiner
Halswunde, als wolle sie verhindern, dass er sich die Klinge wieder
herauszog.Tatsächlich war Anders so weit zu sich gekommen, dass
sein Blick auf die am ganzen Leib zitternde Frau gerichtet war, aus
deren Stumpf nun Blut zu fließen begann. Tropfenweise, denn noch
war das Adergeflecht nicht gänzlich wieder aufgetaut.
»Wir werden diesen Hurensohn jetzt endgültig
umbringen«, erklärte Adam, kaum dass genug Luft in seinen Lungen
war.
»Nicht wir. Du musst das allein tun. Ich kann es
einfach nicht.« Rischkas Stimme klang so rau, als gehörte sie einer
anderen. Dabei erklang ein grauenhaftes Geräusch, als ihre
vereisten Lippen einrissen.
»Meinetwegen, aber dafür schuldest du mir etwas.
Und du kannst mir vertrauen, dass ich dich zahlen lassen
werde.«
Mit jeder Bewegung spürte Adam, wie der Dämon ihm
mehr Kraft verlieh. Widerwillig nahm Adam das Geschenk an, wohl
wissend, dass in seiner Welt nichts umsonst war. So wie er später
die Schulden bei Rischka einfordern würde, würde der Dämon einen
größeren Raum in ihm in Anspruch nehmen, nachdem er ihm diesen
zugestanden hatte, um Anders gewachsen zu sein. Aber das zählte
jetzt nicht.
Es war mehr Gewalt nötig, Rischka von dem
bewegungslosen Anders wegzuziehen, als geahnt. Als würden ihre
Glieder ihm weiterhin die Treue halten, obwohl der Verrat schon
längst vollzogen war.
Zu seiner Verwunderung fiel es Adam jedoch nicht
schwer, brutal mit Rischka umzuspringen. Sein Rachebedürfnis
meldete sich und flüsterte ihm zu, dass er seine jetzige Lage
allein ihrer hinterhältigen Art zu verdanken hatte.Auch dieses
Gefühl hieß Adam willkommen, denn er brauchte trotz der Kraft, die
der Dämon ihm verlieh, auch eine enorme Willensanstrengung, um die
Wunde in Anders’ Kehle zu weiten, damit das Blut schneller
herauslief. Währenddessen suchten Anders’ Hände nach seiner Haut,
wohl in der Hoffnung, seine spezielle Magie ein weiteres Mal wirken
zu können. Doch weder Mann noch Dämon reagierten auf die Berührung,
und bald wurde Anders’ Griff immer schwächer, bis er schließlich
abfiel.
Rischkas Weinen, das sich mittlerweile zu einem
unkontrollierten Schluchzen gesteigert hatte, ignorierend, riss
Adam den Deckel des Containers beiseite und hievte Anders’ leblosen
Körper in das Bett aus Trockeneis. Obwohl seine Hände wegen der
Kälte wild zu pochen begannen, schaufelte er so lange, bis nichts
mehr von Anders zu sehen war. Dann verschloss er den
Container.
Mit geschlossenen Augen stand Adam da und wartete
ab, bis
seine vor Kälte abgestorbenen Hände wieder zu Leben erwachten.
Rischkas Weinen zerrte an seinen Nerven, genau wie das widerliche
Geräusch, mit dem die einzelnen Splitter ihres abgetrennten
Stumpfes wieder zu ihr zurückkehrten, um sich zusammenzusetzen. Der
Gestank von dem vergossenen Blut brannte ihm in der Nase und reizte
unablässig seinen Magen. Er konnte hören, wie Adalbert erwachte und
wimmernd über den Boden kroch. Als er die Berührung von Haut auf
Metall registrierte, öffnete er fluchend die Augen, doch da hatte
Adalbert das Gewehr bereits wieder in den Händen.
»Bleib, wo du bist«, forderte Adalbert ihn auf, das
Gesicht nicht mehr als eine rote Fratze.
»Wenn du tatsächlich glaubst, dass du wegen eines
Gewehrs in deinen Händen an mir vorbeikommst, um Anders zu
befreien, dann bist du noch dümmer, als ich dachte«, sagte Adam
leise, was ihn noch bedrohlicher klingen ließ. Mit einem von der
Kälte schwarz verdorrten Zeigefinger deutete er dabei auf Adalberts
Brust, als würde er jeden Augenblick vorschnellen, um ihm das Herz
herauszureißen.
Adalberts Kinn bebte vor Anspannung, während er
nach der passenden Entgegnung suchte. »So dumm bin ich tatsächlich
nicht«, brachte er schließlich hervor. »Ich werde jetzt gehen, aber
ich verspreche dir, dass wir uns wiedersehen werden.«
»Leck mich.«
Adam betrachtete den Gewehrlauf, als würde er
ausloten, ob die Kugel tatsächlich schneller sein konnte als er in
seiner Wut. Adalbert wartete seine Entscheidung nicht ab, sondern
betätigte den Mechanismus der Tür, um so schnell wie möglich durch
den Türspalt zu schlüpfen.
Es dauerte eine Weile, bis Adam sich so weit unter
Kontrolle hatte, dass er Rischka anblicken konnte, ohne ihr den
Schädel einzuschlagen und sie neben Anders zu betten. Adalbert
gehen
zu lassen, hatte ihn fast seine gesamte Beherrschung gekostet, und
in ihm brüllte seine Rachsucht laut nach Vergeltung. Dafür hatte er
jedoch keine Zeit, er musste zurück zu Esther, die schon längst aus
ihrer Ohnmacht erwacht sein musste und ihn vermutlich zum Teufel
wünschte, weil er ihr Ansinnen so hinterhältig unterlaufen
hatte.
»Hör mir zu, Rischka. Du wirst deinen Anteil daran
tragen müssen, dass Anders nicht wiederaufersteht.Allein kann ich
das jetzt nicht übernehmen, denn es muss schnell gehen.«
Mühsam riss Rischka den Blick von ihrer Hand los,
die aussah wie ein grob geflickter Handschuh aus rotbraunem Leder.
»Ich kann nicht«, wimmerte sie. »Anders’ Einfluss ist zu stark, du
weißt ja nicht, wie es sich anfühlt, auf seine Berührung verzichten
zu müssen. Nein, ich kann das einfach nicht.«
»Du kannst nicht nur, sondern du wirst auch. In
diesem Container liegt eine ausgeblutete, erfrorene Hülle, die der
Dämon erst wieder in Besitz nehmen muss. Nur werden wir es nicht so
weit kommen lassen.Wir werden diese Hülle zerschlagen und dann die
Splitter in alle Himmelsrichtungen zerstreuen, bevor sie schmelzen
und der Dämon sie wieder zusammensetzen kann. Du wirst dich der
unnützen Teile wie den Gliedmaßen annehmen und ich der
lebenswichtigen, damit du mir gar nicht erst auf dumme Ideen kommen
kannst.« Rischka sah ihn aus tränennassen Augen an, aber er
erkannte auch bereits wieder ihren Stolz, der nicht mehr lange
zulassen würde, dass er so mit ihr umsprang. Er musste sich also
noch mehr beeilen. »Wenn du deinen Anteil erledigt hast, wirst du
zu mir kommen.«
»Warum sollte ich das tun?«
»Um zu zahlen, Rischka. Dafür, dass ich dich von
Anders befreit habe, und dafür, dass du mich wie eine Marionette
behandelt hast. Das wird teuer.«
Rischka zog eine Schnute. »Ohne mich hättest du
deine wertvolle Esther allerdings niemals kennengelernt.«
»Das stimmt«, sagte Adam, während er den
Containerdeckel aufzog und Anders’ Leib zum Vorschein brachte. »Ob
ich dich dafür bis ans Ende deiner Tage zahlen lassen werde oder
dir deine Schulden erlasse, wird sich schon bald herausstellen.Aber
jetzt verabschiede dich erst einmal von dem Mann, der eine
Götterdämmerung der blutigen Art einleiten wollte.«
Mit voller Wucht schleuderte Adam den schweren
Deckel auf Anders’ Leib, um ihn zu zerbrechen. Er würde so lange
auf ihn einschlagen, bis nur noch unzählige Splitter von ihm
vorhanden waren. So wie einst auch der Dämon zerschlagen worden
war. Und genau wie ihm würde Anders keine Wiederauferstehung
vergönnt sein, schwor Adam, als er in den Überresten jene
Bruchstücke herausfischte, die die rote Lebensenergie, nach der der
Dämon sich mit aller Macht sehnte, zum Fließen brachte.