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Gefährliche Spiele
Eigentlich hätte Adam den Maître de réception
keines Blickes würdigen müssen, um herauszufinden, dass dieser Herr
ihn zum einen kannte und ihn zum anderen nicht ausstehen konnte.
Von dem Mann, der die Würde dieses großen Hotels geradezu
versinnbildlichte, ging eine körperlich spürbare Abneigung aus.
Obwohl Adams Sinne auf äußerst unangenehme Weise darauf ansprangen,
nahm er dem Mann seine Haltung nicht übel. Sicherlich empfing man
in einem solchen Haus einen ehemaligen Gast nicht ohne guten Grund
mit einer Grabesmiene.
»Wie schön, Monsieur wiederzusehen. Es freut uns
natürlich sehr, wenn unsere Gäste uns verbunden bleiben, aber
leider befürchte ich, Ihnen heute kein Zimmer anbieten zu können.
Der Frühling lockt Gäste aus aller Welt nach Paris, wie Sie
verstehen werden. Sicher gibt es noch einige andere Hotels, die
sich sehr über Ihre Anwesenheit …«
»Sparen Sie sich das Gerede«, unterbrach Adam ihn
und ignorierte Carrières leisen Aufschrei wegen seiner
Unhöflichkeit. Er war sich jedoch sicher, dass er auch mit einem
Übermaß an Taktgefühl bei diesem Mann nicht weitergekommen wäre.
Also hatte er kurzerhand entschieden, ohne Umwege auf sein Anliegen
zu sprechen zu kommen. Falls der Maître blockte, würde er ihm zu
einem anderen Zeitpunkt einen Besuch abstatten, allein, unter vier
Augen.
»Ich bin heute nur vorbeigekommen, um in Erfahrung
zu bringen, ob noch einige Gäste hier wohnen, mit denen ich während
meines Aufenthalts verkehrt habe.«
Der pechschwarze Schnurrbart mit den gezwirbelten
Enden des Maître zitterte vor Empörung. »Es steht mir in meiner
Position keineswegs zu, mich für die Privatangelegenheiten unserer
Gäste zu interessieren.«
»Tatsächlich, so etwas geht also spurlos an Ihnen
vorüber?« Adam zog mit gespieltem Unglauben die Brauen hoch.
Anstelle einer Antwort ließ der Maître nur ein
entrüstetes Schnauben hören. Etwas zu entrüstet, wie Adam fand. Ja,
er würde den Mann erneut aufsuchen. Denn in diesem Fall bedurfte es
nicht einmal seiner empfindsamen Sinne, um die Lüge zu erkennen.
Was auch immer Adam sich während seines Aufenthaltes im Grand Hôtel
geleistet hatte, es brachte das Herz des Maître immer noch dazu,
ohrenbetäubend laut und viel zu schnell zu schlagen. Noch ein wenig
schneller, und der Mann würde tot umfallen.
Während Carrière in beruhigendem Ton auf den Maître
einredete, sah Adam sich im Foyer um. Wenn ihm schon kein
vertrautes Gesicht untergekommen war, so würde er vielleicht
erkannt werden.
Doch nichts geschah.
Kein Wunder, wechselten die Gäste in einem Hotel
doch regelmäßig, und er war seit mindestens drei Tagen nicht mehr
hier gewesen.Vermutlich eine zu lange Zeit. Solche Orte gehörten
der Gegenwart an, niemand interessierte sich für das Gestern.
Abgesehen vom Maître und dem Portier, der ihm mit einem breiten
Grinsen die Tür geöffnet hatte, wie ihm jetzt wieder
einfiel.Vielleicht sollte er sich an den Portier halten … Mit ein
wenig Geld und gutem Zureden würde der sicherlich etwas zu erzählen
haben.
Derartig in Gedanken versunken, bemerkte Adam
nicht, wie
sich ihm eine grazile Gestalt näherte. Erst als er am Kinn gepackt
wurde, registrierte er die junge Frau, die ihn mit fiebrigen Augen
anstarrte. Ihre Empfindungen waren von einer derart starken Natur,
dass Adam beinahe die Beherrschung verlor. Sie war aufgeregt, nein,
erregt. Aber ebenfalls wütend … Und da war Angst, wenn auch gut
verborgen. Er konnte nur dastehen und zurückstarren. Ihre Lippen
bewegten sich, aber das plötzlich ausgebrochene Rauschen in seinen
Ohren machte es ihm unmöglich, sie zu verstehen. Es interessierte
ihn nicht einmal, was sie zu sagen hatte; er war vollkommen damit
beschäftigt, seine Instinkte zu zügeln.
Hör auf, dich dagegen zu wehren. Ich will sie,
und das weißt du.
Die Stimme dröhnte so gellend durch Adams Kopf,
dass er sich am Empfangstresen festhalten musste, um nicht das
Gleichgewicht zu verlieren. Er ahnte, was geschehen würde, wenn er
nicht umgehend die Beherrschung zurückgewann. Das Gleiche, was ihm
mit jener namenlosen Frau passiert war. Weiter kam er nicht, denn
das Rauschen übertönte jeden nachfolgenden Gedanken.
Dann stellte Carrière sich zwischen ihn und die
junge Frau, die einfach nicht damit aufhören wollte, ihn
anzustarren, als sei er ein wahr gewordener Wunschtraum - und nicht
etwa ihr baldiger Tod. Zu seiner Erleichterung wirkte Carrières
Körper wie eine Trennwand, so dass sich nicht nur seine überreizten
Sinne beruhigten, sondern auch der Dämon sich mit einem Murren
zurückzog.
Gut, spiel noch ein bisschen mit ihr, bevor ich
sie mir hole.
»Entschuldigen Sie bitte, Madame«, setzte Etienne
mit einem Lachen an und verneigte sich vor der jungen Dame, die
notgedrungen ein Stück zurückgewichen war. »Aber Ihr resolutes
Auftreten hat meinen Freund wohl ein wenig aus der Fassung
gebracht.Warum gehen wir nicht gemeinsam ein paar Schritte durch
das Foyer?«
Widerwillig nahm die auffällig gekleidete Dame
Carrières angebotenen Arm und folgte ihm, ohne Adam jedoch aus den
Augen zu lassen. Gekonnt schürzte sie die Lippen. »Als ob es mir
jemals gelungen wäre, Charles aus der Fassung zu bringen.«
Mittlerweile hatte sich eine ältere Dame in
dunkler, hochgeschlossener Kleidung zu ihnen gesellt, bei der es
sich um eine Gesellschafterin zu handeln schien. Sie war alles
andere als erfreut über Adams Anblick: Ihre Lippen waren zu einer
farblosen Linie zusammengepresst, der Kiefer so angespannt, dass
sich Einhöhlungen unter ihre Wangenknochen gruben. Obwohl es sie
sichtlich Kraft kostete, zwang sie sich zu einem Lächeln.
»So eine Überraschung«, sagte sie mit einem starken
Akzent, der ihr Französisch nur schwer verständlich machte. »Wir
wähnten Sie auf dem Weg nach Konstantinopel, Charles.«
»Ah! Sie sind also unserem Charles begegnet«,
mischte Carrière sich ein, wobei er tapfer die Rolle des amüsierten
Gentlemans aufrechterhielt. »Wir haben eigentlich gehofft, ihn
persönlich anzutreffen. Leider haben wir gestern erst in Erfahrung
bringen können, dass Charles in diesem Hotel abgestiegen ist. Aber
das Einzige, was noch von ihm da ist, ist sein Koffer. Gestatten
Sie, dass ich uns vorstelle? Mein Name ist Etienne Carrière und an
meiner Seite, immer noch etwas sprachlos, ist mein Neffe Adam,
Charles Zwillingsbruder, wie Sie sicherlich bemerkt haben
werden.«
Die junge Dame warf den Kopf in den Nacken und
brach in schallendes Gelächter aus. Einen Moment lang sah es so
aus, als würde ihre Gesellschafterin sich aus lauter Verzweiflung
über diese Szene einfach umdrehen und gehen, aber dann atmete sie
tief ein und sagte: »Ja, was für ein Zufall.Wenn Sie uns nun
entschuldigen würden? Antonia und ich wollten gerade zu einem
Spaziergang aufbrechen, ehe wir zum Essen erwartet werden.«
Entschlossen nahm sie den Arm der jungen Frau, doch die schenkte
ihr nicht die geringste Beachtung.
»Du bist ein grausamer Mann, Charles«, sagte sie in
einem akzentdurchsetzten Italienisch, das Adam jedoch vor keinerlei
Probleme stellte. »Das ist doch wieder nur eins von deinen
Spielchen. Auch wenn ich es eine Zeit lang aufregend fand, mich von
dir verwirren und vor immer neue Rätsel stellen zu lassen, so bin
ich es inzwischen müde. Dir ist es vielleicht nicht bewusst, aber
Paris ist voll mit hübschen Messieurs, einer ausgefallener als der
andere. Kein Vergleich zu Lucca, wo ich dankbar für jedes bisschen
Unterhaltung war. Hier braucht es schon ein wenig mehr als dieses
Schmierentheater, um meine Aufmerksamkeit zurückzugewinnen.«
Adam musterte sie und ignorierte dabei sowohl das
nervöse Hüsteln der älteren Dame als auch die neugierigen Blicke,
mit denen sie mittlerweile ungeniert bedacht wurden. Im Gegensatz
zu ihren Worten deutete jede Geste von der jungen Frau, die
anscheinend Antonia hieß, darauf hin, dass sie keineswegs etwas
dagegen hatte, sich auf ein Spiel mit ihm einzulassen.Vielmehr
lechzte sie geradezu danach. Und da sie sein altes Ich zweifelsohne
kennengelernt hatte, würde er ihr geben, was sie wollte. Das war
vielleicht seine einzige Chance, etwas über den Mann
herauszufinden, der er einmal gewesen war.
»Sie haben Charles also in Lucca kennengelernt, in
der Toskana«, sagte er mit einer ruhigen Stimme, die nichts über
seine innere Anspannung verriet. Er fühlte sich wie ein Jagdhund,
der sich nicht einmal von einem tosenden Unwetter von seiner Fährte
abbringen ließe. »Antonia … Wenn ich mich richtig erinnere, wird
der Name Antonia im Russischen mit Toska abgekürzt.Wie
passend.«
Die junge Frau legte den Kopf schief, als habe
seine Stimme etwas in ihr wachgerufen. Fast rechnete er damit, sie
würde vor ihn treten und ihm ihren Mund zum Kuss hinhalten. Aber
sie stand nur da und hörte in sich hinein, schien in einer
geliebten
Erinnerung gefangen zu sein. Allem Anschein nach hatte er sie bei
ihrem richtigen Namen genannt.
Adam nutzte die Gelegenheit, sie sich genauer
anzusehen. Sie war wirklich ein entzückendes Wesen, mit einem spitz
zulaufenden Gesicht, das von tiefbraunen Augen dominiert wurde.
Obwohl sie von zierlicher Gestalt war und das eng geschnürte
Korsett sie in der Mitte fast durchzubrechen drohte, wirkte sie
alles andere als fragil.Vielleicht lag es an dem üppigen Busen, der
sich selbst unter dem pelzbesetzten Mantel abzeichnete, oder es war
ihr opulenter Duft, der verriet, dass die Dame über mehr Lebenslust
verfügte, als die gesellschaftliche Moral es ihr erlaubte.
Obwohl ihr Äußeres ihm durchaus gefiel, wie auch
ihr in der Öffentlichkeit ausgesprochen unangemessenes Verhalten,
weckte Toska keinerlei Neigung in ihm. Zwar hätte er eine Einladung
in ihr Bett sicherlich nicht abgelehnt, aber nichts an ihr rief das
Verlangen hervor, sie kennenzulernen und ihr nahe zu sein, während
sein altes Ich zweifellos an mehr als ihrem Körper interessiert
gewesen war. Eine Zeit lang zumindest, wenn er es richtig
verstand.
»Fein«, sagte Toska schließlich. »Ich lasse mich
auf dieses neue Spiel ein, zumindest bis zum Abendessen. Allerdings
wirst du mich dafür in den Wintergarten zum Tee einladen, ich muss
nämlich augenblicklich diesen Mantel ausziehen, bevor mir vor Hitze
die Sinne schwinden. Unterdessen kann dein Onkel - oder was auch
immer der Herr in Wirklichkeit sein mag - Raisa mit denVorzügen von
Paris bekanntmachen. Der Reiz dieser Stadt will sich ihr nämlich
nicht erschließen. Sie hat so eine schreckliche Sehnsucht nach St.
Petersburg.«
»Tosjenka, bist du vollkommen von Sinnen?«, fragte
Raisa auf Russisch. Mittlerweile hatte sie es aufgegeben, den
Anschein eines gewöhnlichen Beisammenstehens aufrechtzuerhalten.
Ihre Schultern bebten, als sie erneut nach ihrem Schützling
griff. Aber die junge Frau entzog sich ihr und schmiegte sich an
Adams Seite.
Fast fühlte Adam sich versucht, Toska um eine
Verabredung zu einem anderen Zeitpunkt zu bitten, nur damit Raisa
nicht länger so gequält dreinblickte. Doch er konnte den Verdacht
nicht abschütteln, die junge Russin nach diesem Treffen nie wieder
zu Gesicht zu bekommen. Gegen Raisa mochte sie sich in dieser
Situation durchsetzen können, aber später würde sie sich für ihr
unmögliches Benehmen den Konsequenzen stellen müssen.
»Gegen eine Tasse Tee in einem angesehenen Salon
ist doch sicherlich nichts einzuwenden«, erklärte Carrière, wobei
er seinen Gehstock zwischen den behandschuhten Händen rieb und
damit sein Unwohlsein verriet. »An Tee in Gesellschaft ist nichts
Unschickliches zu erkennen«, fügte er kleinlaut hinzu, als Raisa
resigniert den Kopf schüttelte und davonging.
»Vielen Dank für Ihre Unterstützung, mein Freund.«
Adam deutete mit dem Kopf eine Verabschiedung an, ehe er Toska den
Arm reichte, den sie nur allzu begierig nahm. »Wir sehen uns dann
später in Ihrem Appartement.«
Carrière setzte seinen Zylinder auf und hob den
Koffer auf, den Adam achtlos auf dem Boden abgestellt hatte. »Nein,
mir ist jetzt nach einer Ablenkung zumute. Treffen Sie mich bei
Rischka. Sie wird uns ohnehin erwarten, wie ich die Dame kenne. Ich
hoffe wirklich, dass die Szene eben sich Ihrer Sache als nützlich
erweisen wird. Die junge Dame hier wird zweifelsohne noch eine
mächtige Strafpredigt für ein solches Benehmen über sich ergehen
lassen müssen. Falls es denn bei einer Strafpredigt bleibt.« Dann
wendete Carrière sich zum Gehen.
Adam blickte ihm noch einen Moment lang hinterher
und empfand zum ersten Mal so etwas wie Freundschaft für diesen
Mann.Vielleicht wäre es das Beste, die Vergangenheit ruhen zu
lassen und sich stattdessen mit den Resten seiner Seele zu
beschäftigen,
die ihm geblieben waren. Geradeso, wie Carrière es tat. Aber wie
kümmerlich mochten diese Reste sein, wenn sogar eine Frau, für die
er einst etwas empfunden haben musste, nur ein körperliches
Verlangen in ihm erzeugte? So, wie die Dinge lagen, war Toskas
Erinnerung an den Mann, den sie Charles nannte, alles, was ihm
blieb.
Mit einem einladenden Lächeln, das sogleich
erwidert wurde, führte er die junge Dame in den Wintergarten des
Grand Hôtels, fest entschlossen, von dieser Fährte nicht
abzulassen, bis er sein Ziel erreicht hatte.